Hopes Jahrmarktplatz hatte schon bessere Tage gesehen. Er lag am Ende der Stadt auf staubigem Weideland und beherbergte die meiste Zeit des Jahres nur Wildkaninchen und Ziesel, manchmal aber hielt auch eine Bande Jugendlicher hier ihre verbotenen mitternächtlichen Autorennen ab.
Die Geländer um Pferche und Rodeoarena hatten seit Jahren keine Farbe mehr gesehen, und die Tribüne war so wacklig und das Holz der Bänke so splittrig, dass sich nur die Wagemutigen und gut Gepolsterten darauf setzten. Außen herum standen verstreut einige Buden, deren Dächer sich in den Winterstürmen seltsam verzogen hatten und Nistgelegenheiten für allerlei Vögel boten.
Früher war es auf diesem Platz das ganze Jahr über auf Handwerksmärkten, bei Wettschießen, diversen Paraden und Rodeos lebhaft zugegangen. Es hatte sogar ein jährliches Treffen der »Bergmenschen« gegeben, zu dem sich Männer mit Bärten und Lederhosen aus mehreren Nachbarstaaten einfanden, sowie ein »Hodenfestival«, das sich eine Zeitlang sogar noch größerer Beliebtheit erfreute, allerdings wohl kaum bei den Kälbern, die das als Festschmaus lieferten, was man mit der Bezeichnung »Prärieaustern« umschrieb. »Ach du dickes Ei! – Auf nach Hope!« priesen die Plakate das Ereignis an, aber im Lauf der Jahre waren kaum noch Leute gekommen.
Schließlich hatte es fast keine Veranstaltungen mehr in dieser Gegend gegeben. Übriggeblieben waren allein Hopes Jahrmarkt und Rodeo am Labor Day, und selbst dieses Fest musste unter großem Konkurrenzdruck seinen Namen ändern, auf Mitte September verlegt und von drei Tagen auf einen einzigen Samstag reduziert werden.
Die Höhepunkte des Jahrmarkts waren immer ein Konzert sowie ein Heugabelfondue, bei dem Rindfleischstücke, groß wie kleine Hunde, aufgespießt und in Fässern mit kochendem Öl gebraten wurden. In früheren Jahren hatte das Konzept kleinere und größere Stars der Countrymusik angelockt, in diesem Jahr aber waren Rikki Rain and the Ragged Wranglers, die eigens aus Billings angereist waren, die Hauptattraktion. Ein paar Minuten lang sah es so aus, als würden sie dahin auch gleich wieder zurückfahren, ohne auch nur eine einzige Note gespielt zu haben.
Sie hatten ihre schwarzen Caravans bei den Pferchen abgestellt, und als sie ausstiegen, war das erste, worauf Rikkis Blick fiel, ein Plakat, auf das jemand Werf direkt unter ihren Namen gekritzelt hatte.
Buck Calder und einige Mitglieder des Festkomitees, die zu ihrer Begrüßung erschienen waren, hatten sich ein paar ziemlich deutliche Kommentare dazu anhören müssen, wohin sie sich ihren gottverdammten, kuhmistblöden Jahrmarkt stecken konnten. Das anstößige Plakat wurde rasch entfernt, und schließlich schienen der nachmittägliche Sonnenschein, der verführerische Duft der Heugabelsteaks und die Süßholzraspelei von Buck Calder ihre Wirkung zu tun.
Eleanor stand an einer der Buden, nippte an ihrem Eistee und beobachtete über die Menge hinweg ihren Mann. Er hatte inzwischen seinen Arm um Rikki gelegt, die ihre wasserstoffblonden Locken in den Nacken warf und auf etwas, das er gesagt hatte, mit einem kehligen Lachen antwortete. Sie trug eine schwarze Bluse, rote Cowboystiefel und eine weiße Jeans, die so eng war, dass Eleanor um Rikkis Blutzirkulation fürchtete.
»Tolles Gebiss hat sie ja«, sagte Hettie Millward, die Eleanors Blick gefolgt war. »Aber die Frischeste ist sie nicht mehr.«
Eleanor lächelte. »Das brauchst du nicht zu sagen, Hettie.«
»Na ja, findest du nicht? Aber was ist mit Buck? Ich dachte, er ist dieses Jahr gar nicht im Komitee.«
»Nein, ist er auch nicht. Aber du kennst ja Buck, bei einer Dame in Not …«
»Eine feine Dame. So offenherzig, wie die herumläuft, schaut sie eher aus wie ein Wolf im Schafspelz!«
»Eher ohne Pelz.«
Sie lachten. Hettie war ihre beste Freundin, die einzige, die eine vage Vorstellung davon hatte, wie es um sie und Buck stand. Sie war eine kräftige, energische Frau, die ständig gegen ihr Gewicht ankämpfte, diesen Kampf aber auch nur allzu gern immer wieder verlor. Doug, ihr Mann, war ein Freund von Buck und einer der beliebtesten und geachtetsten Rancher von Hope.
Eleanor wechselte das Thema und fragte Hettie nach den Heiratsplänen ihrer Tochter, die sich von Woche zu Woche zu ändern schienen. Lucy wollte im nächsten Frühjahr heiraten, und es sollte die »Hochzeit des Jahrtausends« werden. Ganz Hope wollte sie einladen. Hettie erzählte ihr, Lucys neueste Idee, die sie selbst für völlig verrückt hielt, sei es, die ganze Zeremonie auf Pferden stattfinden zu lassen. Braut und Bräutigam, Trauzeugen und Brautjungfern, selbst der Priester, alle sollten hoch zu Ross sitzen. Die Katastrophe sei, sagte Hettie, praktisch vorprogrammiert.
Dann schaute sie auf die Uhr und sagte, sie müsse jetzt los, ihre beiden Jungen suchen, die mit ihren Kälbern gerade das blaue Band der 4-H-Klasse gewonnen hätten. Die Tiere sollten versteigert werden, und jeden Augenblick müsse die Parade in der großen Arena beginnen.
»Charlie meint, er will mindestens sechs Dollar fürs Pfund haben. Und ich hab ihm gesagt, selbst wenn er vierzig kriegt, wiegt das den Ärger nicht auf, den wir mit den Viechern hatten. Ich will sie nur noch loswerden. Bis später dann, Schätzchen.«
Eleanor trank ihren Eistee aus und schlenderte dann an den Ständen vorbei, deren baufälliger Zustand durch bunte, im Wind flatternde Fahnen und Fähnchen kaschiert wurde. Es gab Stände, die alles verkauften, von Hundemarken bis zu selbstgemachtem Kirschgelee. Einer war in ein Indianerzelt verwandelt worden, vor dem eine Gruppe kichernder Teenager darauf wartete, von einem »echten indianischen Medizinmann« die Zukunft vorhergesagt zu bekommen. Etwas weiter warf eine Schar kleinerer, doch dafür um so lauterer Kinder nasse Schwämme auf zwei Freiwillige der städtischen Feuerwehr, die tapfer lächelnd ihre Köpfe durch die ausgeschnittenen Gesichter von Daniel Boone und Davy Crockett steckten.
Eleanor war viele Jahre nicht mehr auf dem Jahrmarkt gewesen, obwohl Buck, an dessen ruhmreiche Tage sich die älteren Zuschauer des Rodeos noch gut erinnerten, nie ein Fest versäumte. Seit Henrys Tod war sie nicht mehr hierhergekommen, weil sie Angst davor hatte, das Gesicht ihres toten Jungen in der Menge der Kinder zu entdecken, die darauf warteten, ihre Ochsen vorzuführen oder an den Imbissständen um Hotdogs und Limonade bettelten.
Dennoch war es ihre Idee gewesen, dass das Paragon einen Stand aufstellen sollte, und als sie jetzt dorthin zurückkehrte, freute sie sich, dass der Platz keine schmerzlichen Erinnerungen in ihr geweckt hatte. Sie war sogar stolz darauf, dass Ruth einen ihrer ersten Vorschläge als neue Geschäftspartnerin so gut aufgenommen hatte. Das warme Wetter lockte die Leute in Scharen hinaus, und sie hatten hier an einem Tag soviel verkauft wie sonst in einer Woche, so dass die fünfzig Dollar Standmiete längst verschmerzt waren.
Als sie ihren Stand erreichte, fiel ihr auf, dass Ruth mit beinahe wütender Miene in die Menge starrte. Eleanor folgte ihrem Blick und sah, dass sie offenbar zu Buck hinüberschaute, der immer noch mit dieser Sängerin beschäftigt war.
Rührend, dachte Eleanor, dass Ruth sich ihretwegen solche Gedanken machte.
Buck wünschte Rikki und den Wranglers alles Gute und versprach, nach der Show noch einmal vorbeizuschauen, war sich aber nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Rikki hatte von weitem besser ausgesehen als aus der Nähe, und der Blick, den sie ihm zuwarf, als sie in ihren Caravan verschwand, änderte daran auch nicht viel. Dass seine Frau und seine Geliebte am Stand drüben wie die besten Freundinnen miteinander plauderten, machte das Leben ebenfalls nicht einfacher.
Er hatte Eleanor zum Imbissstand gehen sehen und wollte gerade ein paar Worte mit Ruth wechseln, als Rikki Rain ihn mit ihren Problemen überfiel. Jetzt hatte er die Gelegenheit verpasst. Manchmal war es schon lästig, eine Stütze der Gesellschaft zu sein. Er spürte, dass Eleanor ihn beobachtete, drehte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung davon.
Buck liebte den Jahrmarkt und das Rodeo, auch wenn das Fest nur noch halb so toll wie früher war. Damals war die ganze Gegend auf den Beinen gewesen, und die Leute kamen von überallher. Ein Rodeo zu gewinnen hatte da wirklich noch etwas bedeutet. Heutzutage konnten manche dieser Kids bei einem Pferd ja nicht mal vorn und hinten unterscheiden. Und auch wenn diesmal mehr Menschen gekommen waren als in den vergangenen Jahren, war es trotzdem nicht mehr so wie früher.
Er folgte seiner Nase und ging zu einem der langen, aufgebockten Tische, auf denen das Fleisch für das Heugabelfondue zerlegt wurde. Als er an der Arena vorbeikam, sah er eine Gruppe Jugendlicher, meist Mädchen, die sich um einen großen Mann in einem blassblauen Hemd und eine junge, braungebrannte Frau in einem engen weißen Kleid geschart hatten.
Sie schienen Autogramme zu geben, und da sie ihm den Rücken zukehrten, konnte er sie nicht erkennen. Ein Fotograf von der Lokalzeitung schoss ein paar Bilder. Der Mann im blauen Hemd sagte etwas, das Buck nicht verstand, doch musste es ziemlich komisch gewesen sein, da die Leute um ihn herum schallend lachten. Als sich das Paar schließlich lächelnd und winkend umdrehte, erkannte Buck Jordan Townsend, diesen Fernsehfritzen, der sich vor zwei Jahren für ein kleines Vermögen die Ranch der Nielsens gekauft hatte.
Townsend machte seine eigene Fernsehshow – die Buck allerdings noch nie gesehen hatte – und flog offenbar von L.A. gelegentlich hierher, ließ seinen Privatjet in Great Falls stehen und kam mit dem Helikopter zu seiner Ranch, um die sich irgendein Typ von auswärts kümmerte.
Er hatte das schöne alte Haus von Jim und Judy Nielsen einfach abreißen und durch einen mindestens zehnmal größeren Kasten mit riesigem, geheiztem Schwimmbecken, Blick auf die Berge und einem dreißig Sitze großen Kino im Kellergeschoß ersetzen lassen.
Buck reihte sich in die Warteschlange vor der Essensausgabe ein. In den alten Tagen hätten die Leute an den Fleischtöpfen ihn sofort bemerkt und ihm, natürlich umsonst, einen voll beladenen Teller herausgebracht. Heute dagegen bedienten ihn zwei pickelige Kids, die er nicht kannte.
Er wartete, bis er an der Reihe war, und sah zu, wie Jordan Townsend und seine hübsche kleine Frau königlichen Hoheiten gleich durch die Menge schritten. Townsend hatte sich nach bester Hollywoodmanier als Cowboy ausstaffiert. Zum sorgsam gebleichten Hemd und den Wranglers trug er einen neuen Stetson und ein Paar handgefertigte Stiefel, die bestimmt an die tausend Dollar oder mehr gekostet hatten.
Seine Frau – laut Kathy Frau Nummer drei – trug ebenfalls Stiefel, doch war dies ihr einziges Zugeständnis an den Westernlook. Ansonsten war sie mit ihrer Designersonnenbrille und dem ultrakurzen weißen Kleid jeder Zoll ein Filmstar. Und das schien sie tatsächlich zu sein, auch wenn Buck niemanden kannte, der einen ihrer Filme gesehen hatte. Es hieß, sie verwende zwei Namen: den einen nur in ihrem Beruf, den anderen, wenn sie inkognito nach Montana kam. Buck konnte sich an keinen der beiden Namen erinnern.
Es ging das Gerücht, sie sei siebenundzwanzig, also genau halb so alt wie ihr Mann, doch Kathy meinte, man solle dieses Gerede mit Vorsicht genießen, da die meisten Schauspielerinnen mehrere Jahre lang siebenundzwanzig blieben. Davon einmal abgesehen wusste Buck von ihr nur – auch wenn er sich so manches vorstellen konnte –, dass sie von Townsend letztes Jahr zu Weihnachten eine kleine Herde Bisons als Geschenk erhalten hatte.
Endlich war Buck an der Reihe, und er zahlte einem der pickeligen Jungs seine drei Dollar für einen Teller mit Steak und Chilibohnen. Dann blieb er etwas abseits stehen und nahm einen Bissen, während das königliche Paar vorüberschritt, lächelte und den Eingeborenen, Buck eingeschlossen, huldvoll zunickte.
»Hallo, wie geht’s?«, fragte Townsend. Buck wusste, dass der Typ keine Ahnung hatte, wer er war.
»Ausgezeichnet. Schön, Sie zu sehen.«
Und er ging weiter. Arschloch, dachte Buck.
Das Steak war zäh und fett, und Buck kaute deprimiert darauf herum, während er dem süßen kleinen Hintern der Schauspielerin und diesem Townsend hinterherschaute, wie er dem Parkplatz mit der Zufriedenheit eines Mannes zustrebte, der seine Pflichten gegenüber den Ortsansässigen erfüllt hatte.
Es schien ihm falsch, Leute zu hassen, die er noch gar nicht kennengelernt hatte, aber Buck konnte einfach nicht anders. Sie und ihresgleichen kauften das ganze verdammte Land auf. Es gab Gegenden, in denen konnte man sich vor lauter Millionären, Großmoguln und Filmstars kaum noch retten. Offenbar war man in Hollywood oder New York ein Niemand, wenn man nicht eine Ranch oder doch mindestens ein Stückchen vom Big Sky Country besaß. Was die Bodenpreise derart in die Höhe trieb, dass ehrliche junge Leute aus Montana kaum noch eine Chance hatten. Manche der Neuankömmlinge bewirtschafteten ihr Land, versuchten es zumindest, aber andere hatten keine Ahnung oder kümmerten sich einfach nicht um ihren Besitz. Für sie war ihre Ranch nur ein Ort, an dem sie Cowboy und Indianer spielen und mit dem sie ihren schnieken Freunden aus der Stadt imponieren konnten.
Buck probierte die Bohnen und stellte fest, dass sie auch nicht besser als das Steak schmeckten. Er blickte sich suchend nach einer Abfalltonne um, als er Abe Hardings besorgtes Gesicht aus der Menge auftauchen sah.
Der hat mir gerade noch gefehlt, dachte Buck.
Sie waren seit dreißig Jahren Nachbarn und hatten sich in all der Zeit kaum näher kennengelernt. Abes Ranch passte mehr als zwanzigmal in Calders Besitz. Allerdings war Abes Boden wesentlich schlechter, und man wusste, dass Abe eine zu hohe Hypothek aufgenommen hatte, weshalb er stets kurz vor dem Ruin stand. Seine Augen, die unter dem runzligen Wulst der Brauen hervorstierten, ließen ihn wie einen paranoiden, felsbewohnenden Aal aussehen.
»Hallo, Nachbar, wie geht’s denn so?«
Abe nickte. »Buck.«
Abe kratzte sich die Nase und warf einen verstohlenen Blick umher, als plane er einen Raubüberfall. Seine Kiefer zermalmten unaufhörlich ein Stück Kautabak, und man konnte den braunen Saft in seinen Mundwinkeln sehen.
»Haben Sie ‘nen Augenblick?«
»Klar. Wollen Sie was essen? Ist gar nicht so schlecht.«
»Nein. Was dagegen, wenn wir spazierengehen?«
»Natürlich nicht.«
Abe ging voran, und beide sagten kein Wort, bis Abe sicher war, dass man sie nicht belauschen konnte.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Buck.
»Es geht um diesen Wolf, der Kathys Hund gerissen hat.«
»Wir gehen davon aus, dass er sich auch eines unserer Kälber geholt hat.«
»Hab ich gehört. Dieser Wolf. Das war doch so ein großer, schwarzer Bursche, richtig?«
Buck nickte. »Tja, wir haben ihn gesehen. Und es waren noch zwei andere Tiere bei ihm.«
»Wo?«
»Oben auf den Pachtweiden. Wir sind rauf, weil wir ein paar neue Salzbrocken auslegen wollten; da haben wir dieses Heulen gehört, und Ethan hat gleich gesagt: ›Ist der seltsamste Kojote, den ich in meinem Leben gehört habe.‹ Und dann haben wir sie gesehen, klar und deutlich, drei Stück, den großen Kerl und noch zwei graue.«
Während er sprach, wanderte sein Blick unruhig umher, fiel selten auf Buck, und wenn, dann nur einen flüchtigen Augenblick lang, so, als stecke er voller Wut und Ärger.
»Waren sie hinterm Vieh her?«
»Nein, aber sie hatten’s vor. Hätte ich meine Knarre dabeigehabt, hätte ich sie erwischt. Ich habe Ethan oben gelassen und bin nach Hause gelaufen, um sie zu holen, aber sie sind verschwunden. Konnte nicht mal ihre Spuren finden.«
Buck dachte einen Augenblick nach.
»Haben Sie dieser Biologin davon erzählt?«
»Ach was. Warum sollte ich? Diese Leute haben die Viecher ja überhaupt erst auf uns losgelassen. Das verdammte Weib hat gefragt, ob sie über mein Land stiefeln kann, aber ich habe ihr gesagt, dass sie mich mal …«
Buck zuckte die Schultern.
»Ich sage Ihnen, Buck, ich kann es mir im Augenblick einfach nicht leisten, auch nur ein einziges Kalb zu verlieren.«
»Kann ich mir denken.«
»Da bin ich mir nicht so sicher, ist aber trotzdem so.«
»Aber Sie wissen ja, Abe, wenn Sie die Wölfe abschießen und dabei erwischt werden, können Sie in ziemliche Schwierigkeiten geraten. Vielleicht sogar in den Knast wandern.«
Abe spuckte einen Mundvoll schwarzen Saft ins dürre Gras.
»Scheißregierung. Verpachtet dir Land, nimmt dir dein Geld und lässt dann diese Viecher los, die dir deine Rinder reißen.«
»Und dann werfen sie einen ins Gefängnis, wenn man es beschützen will. Ergibt nicht viel Sinn, was?«
Abe gab keine Antwort, kniff einfach nur die Augen zusammen und blickte über den Jahrmarkt zur Bühne, auf der die Band ihre Anlage aufbaute.
»Jedenfalls treiben wir früh zusammen und bringen die Herde runter, damit wir sie im Auge behalten können. Und ich habe mich gefragt, ob Sie uns nicht vielleicht einen Arbeiter zur Aushilfe rüberschicken könnten.«
»Natürlich, gern.«
»Danke.«
»Nichts zu danken.«
»Ich sag Ihnen, wenn eins fehlt, dann ist die Hölle los.«
Luke war bloß zum Jahrmarkt gekommen, weil er es seiner Mutter versprochen hatte. Er wollte nicht lange bleiben. Rikki Rain and the Ragged Wranglers lieferten ihm einen guten Grund, möglichst bald wieder zu verschwinden. Sie spielten jetzt schon seit einer Stunde, aber es kam ihm viel länger vor. Ein weiterer Grund war der, dass Luke gerade einige Mitschüler aus seiner Abschlussklasse entdeckt hatte, darunter auch Cheryl Snyder, hinter der er während des ganzen letzten Schuljahrs hergewesen war.
Ihrem Vater gehörte die Tankstelle. Sie war eines der nettesten und hübschesten Mädchen der Schule, weshalb sie auch meist von den schlimmsten Typen umschwärmt wurde. Vier von denen spielten sich gerade jetzt am Zelt des hellsehenden Medizinmanns vor ihr und ihrer Freundin Tina Richie auf.
Mit zwei Flaschen Mineralwasser für Ruth und seine Mutter, die gerade einpackten, was sie nicht verkauft hatten, war Luke unterwegs zum Paragon-Stand. Cheryl und die anderen schienen ihn nicht zu bemerken. Er wollte gerade zwischen den Ständen hindurchschlüpfen und verschwinden, als er ihre Stimme hörte.
»Luke! He, Luke!«
Er drehte sich um und tat, als sei er überrascht. Cheryl winkte, und Luke hielt die Mineralwasserflaschen hoch, um anzudeuten, dass er nicht zurückwinken könne; gleichzeitig fragte er sich, ob diese Geste ausreichte, um sich verdrücken zu können. Doch sie kam schon auf ihn zu, während die anderen hinter ihr herschlenderten. Sie trug Bluejeans und ein bauchfreies pinkfarbenes Top. Luke musste wieder an die Silvesterparty vor einigen Jahren denken, als er sie, als einziges Mädchen bisher, geküsst hatte – für sein Alter eine recht magere Bilanz.
»Hi, Luke, wie geht’s dir?«
»Oh, hi, Ch-Ch-Cheryl. Mir g-g-g-geht’s gut, danke.« Tina und die anderen gesellten sich zu ihnen. Luke lächelte und nickte ihnen zu. Sie erwiderten sein Lächeln und grüßten ihn mit unterschiedlich großer Begeisterung.
»Ich hab dich den ganzen Sommer noch nicht gesehen«, sagte Cheryl.
»Na ja, ich habe auf der Ranch g-g-gearbeitet, weißt du. H-h-hab meinem D-D-Dad geholfen.«
Wenn er stotterte, suchte er in ihren Augen nach einem Anzeichen von Belustigung, Verlegenheit oder auch Mitleid, was bei weitem das schlimmste war. Mit den ersten beiden Reaktionen wurde er fertig.
»Hey, Cooks, wir haben dich im Fernsehen gesehen, als der Wolf sich den Hund von deiner Schwester geschnappt hat«, sagte Tina. Einer der Jungen, ein Großmaul mit Namen Jerry Kruger, stieß ein komisches Heulen aus. Er hatte Luke das Leben in der Highschool eine Zeitlang zur Hölle gemacht, bis Luke ihn eines Tages auf dem Schulhof k.o. geschlagen hatte. Lukes Ansehen war daraufhin ziemlich gestiegen. Seine Fäuste hatte er seither nie wieder einsetzen müssen.
»Habt ihr ihn noch mal gesehen?«, fragte Cheryl.
»Den Wolf? Nein. W-W-Wahrscheinlich ist er längst w-w-weitergezogen.«
»Zu schade«, sagte Kruger. »Tina hatte gehofft, ein bißchen Rotkäppchen mit ihm spielen zu können. ›Ach, Großmutter, was hast du nur für große Möpse!‹«
»Wann wirst du bloß endlich erwachsen, Jerry?« sagte Cheryl.
Niemand wusste darauf etwas zu sagen, und eine Weile standen sie da und hörten der heiseren Stimme von Rikki Rain zu. Luke hielt die Flaschen hoch.
»Ich m-m-mach mich besser auf den W-W-Weg.«
»Okay«, sagte Cheryl. »Bis später dann.«
Sie verabschiedeten sich. Als er weiterging, hörte Luke, wie Kruger ihn lachend nachäffte: »W-W-Wahrscheinlich ist er längst w-w-weitergezogen«, aber die anderen sagten, er solle den Mund halten.
Es war kühler geworden, und Helen wünschte sich, sie hätte ihren Pullover mitgebracht. Sie trug Shorts, Stiefel und ein T-Shirt mit aufgerollten Ärmeln. Über den Bisswunden, die Abe Hardings Hunde auf ihren Beinen hinterlassen hatten, klebte ein Pflaster. Erstaunlicherweise waren sie nicht tief.
Die meisten Leute, die sie in den letzten Wochen kennengelernt hatte, befanden sich auf dem Markt, und sie hatte mit fast allen einen Schwatz gehalten, die Hardings ausgenommen. Alle waren sie begeistert von Buzz, der sich offenbar bestens amüsierte. Sie hielt ihn an der kurzen Leine, trotzdem gelang es ihm, sich so manchen Bissen aus den am Boden liegenden Essensresten herauszufischen.
Sie wusste, dass es Zeit war aufzubrechen. Ein langer Abend lag vor ihr, und es fiel ihr schwer, sich loszureißen, während sich alle anderen noch vergnügten. Helen spürte, dass sie sich nach Gesellschaft sehnte.
An einem anderen Tag und in einer anderen Stimmung hätte sie sich vielleicht ausgeschlossen gefühlt oder wäre neidisch gewesen, wie so häufig in letzter Zeit, wenn sie ein junges Liebespaar oder Frauen in ihrem Alter mit einem Baby sah. Doch heute hatte sie sich einfach in den Trubel gestürzt und war mit sich und der Welt zufrieden wie schon lange nicht mehr.
Als sie an diesem sonnigen Septembernachmittag dem Treiben der Menschen von Hope zuschaute, war sie vom Gemeinschaftsgefühl dieser Leute gerührt und davon, mit welcher Kraft sie sich an diesen Ort und diese Art von Leben klammerten, die trotz aller Hektik der heutigen Zeit im Kern unverändert geblieben waren.
Doug Millward, der Rancher, den Helen am liebsten mochte, war für sie der Inbegriff dieses Lebens. Als sie sich in der Menge trafen, hatte er darauf bestanden, ihr ein Eis zu kaufen. Er war ein großer Mann mit sanfter Stimme und freundlichen, blauen Augen. Sie wusste, dass er sich nicht viel aus Wölfen machte, schien ihre Arbeit aber zu respektieren, und so vertraute sie ihm an, dass sich jemand an ihren Fallen zu schaffen gemacht hatte. Als er hörte, was bei den Hardings vorgefallen war, seufzte er und schüttelte den Kopf.
»Wahrscheinlich wird er Ihnen deswegen auch nicht sympathischer, aber wissen Sie, Abe hat eine schlimme Zeit hinter sich.«
»Ich hab gehört, dass er in Vietnam war.«
»Stimmt. Hat da so manches erlebt, heißt es. Ich selbst habe ihn nie darüber reden hören, aber ich weiß, dass er ziemliche Mühe hat, auf einen grünen Zweig zu kommen. Und seine Jungs sind ihm dabei auch keine große Hilfe. Die stecken immerzu in Schwierigkeiten, seit sie aus der Schule sind.«
»Was für Schwierigkeiten?«
»Ach, dies und das, Sie wissen schon. Nichts allzu Ernstes.«
Sie sah ihm an, dass er keinen Klatsch verbreiten wollte. Schweigend schaute er einen Augenblick der Musikkapelle zu, als müsste er überlegen, wieviel er ihr erzählen durfte.
»Sagen wir einfach, sie treiben sich da mit ein, zwei Typen herum, mit denen ich meine Kids nicht allzu gern sehen möchte.«
»Und mit wem?«
»Zwei von denen arbeiten für die Holzfirma und haben eine Menge für diesen Armeekram übrig. Sie wissen schon – sind gegen die Regierung, scharf auf Gewehre, so was eben. Vor einer Weile sind die beiden mit Wes und Ethan Harding beim Wildern erwischt worden. Haben in einem Cañon eine ganze Herde Elche zusammengetrieben und einfach niedergemäht.«
Er schwieg und sagte dann: »Es wär mir lieb, wenn Sie niemandem sagen, von wem Sie das gehört haben.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Außerdem sind sie die Ausnahme, nicht die Regel. Es gibt eine Menge anständiger Leute in dieser Stadt.«
»Ich weiß.«
Plötzlich lachte er. »He, Helen, ich glaube, wir werden ein bisschen zu ernst.«
Dann sagte er, er müsse los. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, schlenderte Helen davon und dachte über das nach, was er ihr erzählt hatte.
Die Menge lichtete sich allmählich, und einige Stände packten bereits ihre Sachen zusammen. Die Band allerdings kümmerte das nicht, und Rikki Rain sang weiter mit klagender Stimme über ihren Mann, der es irgendwo da draußen mit einer anderen trieb. Helen konnte es ihm nicht verdenken.
Die Sonne hatte sich über den Bergen hinter den sich auftürmenden roten und purpurfarbenen Wolken versteckt, fand aber plötzlich eine Lücke und tauchte den Jahrmarkt wie zum Abschied in gleißendes Licht. Als sie an den Ständen entlangging, lief eine Schar kleiner Kinder auf sie zu, die einander jagten und über ihre riesigen, vor ihnen über das Gras huschenden Schatten lachten.
Im selben Augenblick entdeckte sie Luke Calder im Gespräch mit seinen Freunden. Ohne selbst gesehen zu werden, lauschte sie dem Wortwechsel. Dass er stotterte, war für sie eine Überraschung. Und als dieser kleine Angeber ihn nachäffte, hätte sie ihm am liebsten eine geknallt. Bestimmt hatte Luke ihn gehört. Jetzt lief er zielstrebig durch die Menge, und da er den Weg zum Parkplatz eingeschlagen hatte, folgte sie ihm.
Sie hatte ihn seit der ersten Begegnung nur zweimal getroffen, einmal in der Stadt und einmal mit dem Pferd oben im Wald. Bei beiden Gelegenheiten hatte er schüchtern gewirkt und den Eindruck erweckt, als wolle er nicht mit ihr reden. Sie wusste, dass er viel Zeit auf den Pachtwiesen seines Vaters verbrachte, um auf die Herde aufzupassen. Doch sooft sie auch da oben gewesen war, nie hatte sie ihn gesehen.
Er war jetzt am Paragon-Stand und verabschiedete sich von Ruth und seiner Mutter. Dann ging er weiter zum Parkplatz. Helen folgte ihm.
»Luke?«
Er drehte sich um und blieb stehen. Als er sie sah, zuckte er erschreckt zusammen. Dann lächelte er nervös und tippte grüßend an seinen Hut.
»Oh, hallo.«
Während sie auf ihn zuging, fiel ihr auf, dass er bestimmt fünfzehn Zentimeter größer war als sie. Buzz begrüßte ihn wie einen alten Freund, und Luke hockte sich hin, um ihn zu streicheln.
»Wir sind uns noch nicht richtig vorgestellt worden«, sagte Helen. »Ich heiße Helen.« Sie streckte ihm die Hand hin, aber er war so mit Buzz beschäftigt, dass er sie übersah.
»Ja, w-w-weiß ich.« Er bemerkte ihre Hand erst in dem Augenblick, als sie sie wieder sinken lassen wollte. »Oh, t-t-tut mir leid, ich h-h-hab …« Er stand auf, und sie gaben sich die Hände.
»Und Ihr neuer Freund hier heißt Buzz.«
»B-Buzz. Das ist ein … netter Kerl.«
Helen war plötzlich ebenso stumm wie er, und so standen sie einige Sekunden lang da und lächelten einander wie zwei Vollidioten an. In einer verlegenen Geste deutete sie an, was sie für all das – den Jahrmarkt, die Berge und den Sonnenschein – empfand: »Ist das nicht herrlich? Mein erstes Rodeo!«
»H-H-Haben Sie m-mitgemacht?«
»Nein! Ich meine, das ist das erste Rodeo, auf dem ich je gewesen bin. Um Gottes willen, nein. Ich und Pferde: Katastrophe hoch zehn.«
»H-Hoch zehn. Das ist gut.«
»Reiten Sie nicht mit beim Rodeo?«
»Ich? Nein.«
»Und Sie bleiben nicht, um sich die Musik anzuhören?«
»Nein, nein. Ich m-m-muss was er-erledigen. Gefällt sie Ihnen?«
Helen runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf. »Na ja …«
Luke lachte, und seine großen grünen Augen schimmerten sanft. Ganz kurz nur ahnte Helen, wie er wirklich war.
»Ich hab gehört, dass Ihr Vater Rikki überredet hat hierzubleiben.«
Er nickte: »In solchen D-D-Dingen ist er w-w-wirklich gut.«
Als er den Blick über den Jahrmarkt schweifen ließ, war jede Spur eines Lächelns aus seinem Gesicht verschwunden. Wahrscheinlich, dachte Helen, war es für keinen Jungen leicht, einen Vater wie Buck Calder zu haben. Wieder folgte verlegenes Schweigen. Luke spielte erneut mit Buzz.
»Nun, ich fürchte, mir ist es immer noch nicht gelungen, Ihren Wolf zu fangen.«
Er blickte hastig auf. »Wieso denn m-m-mein Wolf?«
Sie lachte. »Ich hab das nicht persönlich gemeint. Ich wollte nur …«
»Ich hab ihn noch nie gesehen.«
Helen sah, wie er rot anlief.
»Nein, das weiß ich. Ich meinte bloß …«
»Ich g-g-geh jetzt l-l-lieber. Wiedersehen.«
»Oh, ja, okay. Wiedersehen.«
Helen blieb einen Moment stehen und fragte sich, was sie falsch gemacht hatte. Sie gingen jeder für sich zu ihren Autos. Helen winkte, als Luke davonfuhr, aber er erwiderte ihren Gruß nicht, sah nicht einmal zu ihr herüber. Sie folgte seinem Wagen hinaus aus der Stadt, aber da er schneller fuhr, sah sie, als sie von der Straße in den Sandweg abbog, von ihm nur noch eine graue Staubwolke.
Sie hielt an ihrem Briefkasten an der Abzweigung zum See, obwohl sie dies bereits auf dem Hinweg getan hatte. Er war, so wie meistens, leer gewesen. Seit sie in Montana arbeitete, hatte sie einen Brief von ihrer Mutter, einen von ihrem Vater und zwei von ihrer Schwester erhalten, aber keinen von Joel. Seine letzte Nachricht war eine verspätete Geburtstagskarte nach Cape Cod gewesen, dabei hatte sie ihm mindestens fünf- oder sechsmal geschrieben. Vielleicht waren ihre Briefe nicht angekommen. Oder er konnte nicht schreiben, weil es dort, wo er sich aufhielt, Schwierigkeiten mit der Post gab.
Die letzten Briefe, die sie ihm geschickt hatte, waren bewusst in fröhlichem Ton gehalten. Sie beschrieb die Umgebung, erzählte vom Tagesablauf und witzelte darüber, dass es ihr immer noch nicht gelungen war, einen Wolf zu fangen. Doch manchmal fragte sie sich, ob nicht doch ohne ihr Wissen ein Hauch ihrer wahren Gefühle, ihrer Einsamkeit, der schmerzenden Leere, die er in ihr hinterlassen hatte, Eingang in die Briefe gefunden hatte.
Buzz schaute traurig vom Pick-up herunter, als sie den Deckel ihres Briefkastens öffnete. Er war leer.