Die Versammlung sollte erst in einer halben Stunde beginnen, doch schon jetzt rollte ein steter Strom von Trucks in die Stadt. Es wurde dunkel, und die meisten hatten bereits die Scheinwerfer eingeschaltet. Einige hielten vor Nelly’s Diner, doch war The Last Resort eindeutig der beliebtere Treffpunkt, was nichts Gutes für die Versammlung verhieß. Gerade hielt ein schlammbespritzter Pick-up, und Helen sah zwei Männer mit Hut und Cowboystiefeln aussteigen und in die Kneipe gehen. Einer der beiden sagte etwas, und der andere lachte, während er zum Schutz gegen den Wind den Mantelkragen hochschlug. Es fing an zu regnen.
Sie beobachtete das Geschehen aus dem Fenster von Ruth Michaels’ Andenkenladen und nippte an ihrem dritten großen Espresso, der sie noch nervöser machte, als sie ohnehin schon war. Sie sehnte sich nach einer Zigarette. Ruth hatte beruhigende Musik aufgelegt, doch die schien Helens Ahnung von einer drohenden Katastrophe nur noch zu verstärken.
An der Glasscheibe der Tür klebte wie überall in der Stadt ein gelbes Poster.
OPFER DER WÖLFE?
ÖFFENTLICHE VERSAMMLUNG
IN DER STADTHALLE VON HOPE
DONNERSTAG, 19.00 UHR
Es war zwei Tage her, dass Buck Calder und seine Nachbarn ihre Herden zusammengetrieben hatten, und die Stimmung war noch ziemlich gereizt. Helen verbrachte fast ihre ganze Zeit damit, die Wogen zu glätten. Sie war bei sämtlichen Ranchern gewesen, die behauptet hatten, Kälber verloren zu haben – und bei allen abgeblitzt.
Dan hatte gehofft, dass diese persönlichen Besuche eine öffentliche Versammlung überflüssig machen würden, bei der stets die Gefahr bestand, dass einige wenige Krawallmacher das Heft an sich rissen, doch Buck Calder hatte ihnen keine Wahl gelassen. Zwei Abende zuvor hatte er die Versammlung im Fernsehen angekündigt und gesagt, dass die »Typen von der Bundesregierung, die diese Wölfe auf uns losgelassen haben«, ja vielleicht mal vorbeischauen und den Leuten, die schließlich ihre Gehälter bezahlten, erklären sollten, was sie so trieben.
Die Leute vom Fernsehen waren bereits in der Stadthalle und bauten ihre Scheinwerfer auf. Dan hatte bei ihrem Anblick gestöhnt, da dieselbe Reporterin gekommen war, die diesen Buck Calder bereits damals angehimmelt hatte, als der Hund seiner Tochter getötet worden war. Doch abgesehen davon wirkten Dan – und Bill Rimmer – erstaunlich gelassen. Sie hockten an dem kleinen Tresen in der Ecke des Ladens und plauderten ganz unbekümmert mit Ruth.
Als sie sich zu ihnen gesellte, grinste Rimmer sie an.
»Kennen Sie den Witz von dem Pferd, Helen, das in eine Kneipe kommt, und der Barmann sagt …«
»… was ziehst du für ein langes Gesicht? Ja, den kenn ich. Wollen Sie etwa behaupten, dass ich wie ein Pferd aussehe?«
»Nein, nur so, als wollten Sie zu einer Beerdigung.«
»Stimmt ja auch, zu meiner eigenen.«
»Komm, Helen«, sagte Dan. »Wird schon wieder.«
»Vielen Dank, Prior. Ich wär ruhiger, wenn du mir nicht erzählt hättest, was bei der letzten Wolfsversammlung passiert ist.«
»Das muss vor meiner Zeit gewesen sein«, sagte Ruth. »Was ist da passiert?«
»Ach, nur, dass bewaffnete Typen Eimer voller Blut über Autos gegossen haben«, sagte Helen. »Sonst nichts.«
»Das ist schon Jahre her«, sagte Dan.
»Tja, als noch keine Wölfe in der Gegend waren. Haben Sie mal eine Zigarette für mich, Ruth?« Sie sah Dans überraschtes Gesicht. »Ich rauche, na und?«
»Bedienen Sie sich«, sagte Ruth.
Die nächste Viertelstunde gingen sie noch einmal durch, was Helen sagen sollte. Sie hatte Dan überreden wollen, die Leitung der Versammlung selbst zu übernehmen, doch er hatte darauf bestanden, dass dies ihre Show war. Das Publikum würde ihr gegenüber nicht ganz so ablehnend sein. Eine militante Tierschützergruppe mit dem Namen »Organisation der Wölfe« wollte sich den Radionachrichten zufolge ebenfalls beteiligen.
Für den Fall, dass die Sache außer Kontrolle geriet, hatte Dan Vorkehrungen getroffen.
Hope verfügte über einen ortsansässigen Hilfssheriff, einen jungen Mann namens Craig Rawlinson, dem Helen bereits einige Male begegnet war. Allerdings konnte man ihn wohl kaum einen Wolfsfreund nennen. Er war der Sohn eines Ranchers und verheiratet mit der Tochter eines jener Rancher, die behaupteten, Kälber durch die Wölfe verloren zu haben. Also hatte Dan zusätzliche Polizeikräfte sowie von Fish & Wildlife einige Spezialagenten in Zivil angefordert, die im Last Resort bereits ein Auge auf mögliche Aufrührer hatten. Außerdem ließ er im Saal ein Schild aufstellen, auf dem zu lesen war: »Öffentliche Versammlung. Kein Alkohol. Keine Plakate. Keine Waffen.« Irgend jemand hatte bereits »Keine Wölfe« darunter geschrieben.
Draußen auf der Straße hörte man jetzt die Stimmen der Leute, die zum Saal unterwegs waren. Kaffee und Nikotin hatten Helen ganz kribbelig gemacht. Dan stand auf und zahlte.
»Tja, ich glaube, wir gehen lieber.«
Er legte einen Arm um Helen.
»Denk dran, wenn einer eine Waffe zieht, stehe ich direkt hinter dir.«
»Danke, Dan, ich werde nicht vergessen, mich rechtzeitig zu bücken.«
Eine Stunde später wirkte Dans Scherz längst nicht mehr so lustig.
Helen bemühte sich jetzt seit zwanzig Minuten, eine Rede zu halten, die nur zehn Minuten hätte dauern sollen. Die ständigen Zwischenrufe brachten sie aus dem Konzept.
Der Saal war gerammelt voll. Es gab Sitzplätze für hundert Leute, doch standen bestimmt noch mal so viele im hinteren Teil des Saals, von wo auch die meisten Zwischenrufe kamen. Trotz der blendenden Fernsehscheinwerfer konnte Helen erkennen, dass die Saaltüren offen waren und sogar noch draußen im Regen Leute standen. Doch auch der Durchzug änderte nichts an der unerträglichen Hitze. Sämtliche Heizkörper waren aufgedreht, und niemand schien sie abstellen zu können. Während die Gemüter sich erhitzten und die Temperaturen stiegen, zogen viele ihre Mäntel aus oder fächelten sich mit den Flugblättern, die man ihnen beim Eintritt in die Hand gedrückt hatte, Kühlung zu.
Helen stand am Kopfende eines langen Tisches, den man auf das Podium gestellt hatte. Wie bei einem Tribunal saßen Dan und Bill Rimmer dicht neben ihr. Am anderen Ende lehnte sich Buck Calder in seinem Stuhl zurück und ließ den Blick majestätisch über die Menge schweifen. Er war ganz in seinem Element.
Auf seiner Stirn zeichnete sich unter dem Hut ein leichter Schweißfilm ab, und unter den Armen, auf seinem ansonsten makellosen, pinkfarbenen Hemd, waren feuchte Flecken zu sehen. Seine Eröffnungsrede war imponierend. Für all jene, die es nicht schon ein dutzendmal gehört hatten, erzählte er nochmals, wie sein Enkel dem sicheren Tod entronnen war, um dann, wie ein gewiefter Anwalt, die schrecklichen Verluste aufzulisten, die er und seine Nachbarn seither erlitten hatten. Die einzige Überraschung war, dass die ersten Zwischenrufe ihm galten.
Sie setzten gegen Ende seiner Rede ein und kamen von ein paar Nachzüglern im Hintergrund, die Helen bis dahin nicht bemerkt hatte. Wären sie ihr früher aufgefallen, hätten ihr die Bärte und Patagonia-Jacken verraten, auf welcher Seite sie standen. Das mussten die O. W.-Leute sein, etwa ein halbes Dutzend war gekommen. Anfangs fühlte sich Helen durch ihre Anwesenheit gestärkt, doch dann merkte sie, dass ihre Zwischenrufe die Stimmung im Saal nur noch stärker aufheizten.
Calder war gut mit den Zwischenrufern fertig geworden. Eine Frau mit Nickelbrille und hellblauem Pullover hatte gerufen: »Wölfe haben ein größeres Anrecht auf dieses Land als eure Kühe! Ich sage, schafft die Kühe ab!«
Unmutiges Murren war zu hören, doch Buck stand ruhig lächelnd da, wartete, bis es wieder abebbte und sagte dann: »Wie ich sehe, haben wir heute Abend auch einige Leute aus der Stadt hier.« Das Publikum johlte zustimmend.
Das Publikum lachte noch immer, als er sich anschickte, Helen vorzustellen.
»Miss Ross kommt aus der windigen Stadt Chicago, falls ich mich recht erinnere.«
Helen lächelte grimmig. »Das stimmt, wie ich zu meiner Schande gestehen muss.«
»Nun, meine Liebe, heute Abend haben Sie Gelegenheit, einen Teil Ihrer Schande abzutragen.«
Nach dem Vorbild der Pro-Wolf-Leute fing nun eine andere Gruppe an, sie vom hinteren Teil des Saals mit Zwischenrufen zu attackieren. Die lautesten Schreihälse waren Wes und Ethan Harding und die Holzfäller. Abe Harding war zum Glück nirgendwo zu sehen.
Ebenso wenig wie Luke.
Helen hatte, ehe die Versammlung begann, vergebens nach ihm Ausschau gehalten. Seit dem Tag des Wolffangs hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Er war weder in die Hütte gekommen noch in der Nähe gewesen, als sein Vater ihr auf seiner Ranch Vorwürfe wegen der fehlenden Kälber gemacht hatte. Sie war besorgt um Luke, und es überraschte sie, wie sehr er ihr fehlte.
Allmählich kam sie zum Ende ihrer immer wieder unterbrochenen Rede. Sie hatte die Anwesenden darüber informiert, was bislang über die Wölfe bekannt war: Es handelte sich um ein Rudel von neun Tieren, und erste DNA-Proben hatten keine Verwandtschaft mit ihren Artgenossen ergeben, die in Yellowstone oder Idaho freigelassen worden waren. Dann sagte sie noch einige Worte über das Naturschutzprogramm, das den Ranchern für jedes nachweislich von Wölfen gerissene Stück Vieh eine Entschädigung zusicherte. Als sie mit ihren Ausführungen fertig war, bat sie um Fragen.
»Fassen wir noch einmal zusammen: Zwei der Wölfe tragen jetzt ein Halsband, und wir werden alle ihre Bewegungen genau beobachten. Jeder Wolf, der nachweislich ein Stück Vieh reißt, wird umgesiedelt oder getötet. Daran gibt es nichts zu rütteln.« Sie schaute Dan an, der ihr zunickte. »Ich verstehe, dass einige von Ihnen sehr aufgebracht sind, doch wir bitten Sie nur, sich noch eine Weile zu gedulden und …«
»Welche Beweise brauchen Sie denn noch? Wölfe reißen Vieh, Punkt.«
»Nun, Sir, bei allem Respekt: Ich habe im Lauf meiner eigenen Forschungen in Minnesota und auch hier in Montana, etwa in Ninemile Valley nördlich von Missoula, festgestellt, dass Wölfe eng mit Vieh zusammenleben können, ohne ihm etwas anzutun …«
»He, in Missoula sind selbst die verdammten Wölfe liberal!«
Schallendes Gelächter. Helen wartete, bis es verebbte, und gab sich Mühe, weiter freundlich zu lächeln.
»Tja, mag sein, aber ein dortiger Biologe hat ziemlich interessante Forschungen betrieben. Er ließ nicht nur Wölfen, sondern auch Rindern Halsbänder anlegen und fand heraus, dass sich die Wölfe immer wieder unter die Herde mischten, ohne dass es …«
»Blödsinn!«
»Warum zum Teufel lassen Sie sie nicht ausreden?«, rief jemand aus der O. W.-Gruppe.
»Warum zum Teufel kümmert ihr euch nicht um euren eigenen verdammten Kram?«
Buck Calder erhob sich. »Unser Stadtfreund dort hat recht. Wir haben Miss Ross heute Abend hergebeten, also sollten wir auch so höflich sein, sie ausreden zu lassen.«
Helen nickte ihm zu. »Danke. Offenbar ziehen Wölfe wild lebende Huftiere dem zahmen Vieh vor. In einem Zeitraum von sechs Jahren haben sie in der Gegend von Ninemile nur drei Jungtiere und ein Kalb getötet …«
»Und wie kommt es dann, dass sie hier dreiundvierzig Kälber in ein paar Monaten gerissen haben?«, rief Ethan Harding. Beifälliges Gemurmel wurde laut.
»Nun, wir versuchen gerade zu verifizieren, wie viele dieser Verluste auf Wölfe zurückzuführen sind.«
»Soll das heißen, dass wir lügen?«
»Nein, ganz und gar nicht.«
Buck Calder beugte sich vor. »Vielleicht können Sie uns sagen, Miss Ross, bei wie vielen Kälbern Sie inzwischen ›verifizieren‹ konnten, dass Wölfe ihren Tod verschuldet haben?«
Helen schwieg. Genau diese Frage hatte sie befürchtet. Von den angeblich dreiundvierzig fehlenden Kälbern waren nur fünf Kadaver gefunden worden, und von denen war keiner frisch genug gewesen, um noch die Todesursache feststellen zu können.
»Wir haben die entsprechenden Arbeiten noch nicht abgeschlossen. Wie Sie wissen, ist die Beweislage hier etwas schwierig …«
»Bis jetzt, meine ich, von wie vielen können Sie bis jetzt mit Sicherheit sagen, dass sie von Wölfen getötet wurden?«
Helen wandte sich hilfesuchend zu Dan um. Dieser räusperte sich, um etwas zu sagen, aber Calder kam ihm zuvor: »Ich denke, das sollte uns Miss Ross persönlich mitteilen. Wie viele?«
»Nun, wie gesagt, die Arbeiten sind noch nicht …«
»Und bis jetzt?«
Im Saal wurde es still, man wartete auf ihre Antwort. Helen schluckte.
»Nun, keine bis jetzt.«
Es kam zu einem Tumult. Alle begannen gleichzeitig zu schreien. Einige der Leute, die einen Sitzplatz hatten, sprangen auf. Die eifrigste O. W.-Anhängerin und Ethan Harding standen sich Aug in Aug gegenüber.
»Der Wolf ist vom Aussterben bedroht, Sie Gorilla!«, schrie sie ihn an.
»Von wegen, meine Dame, Sie sind vom Aussterben bedroht!«
Calder hob die Hände und bat um Ruhe, konnte aber nur wenig ausrichten. Helen griff kopfschüttelnd nach einem Glas Wasser. Während sie trank, schaute sie Dan an, der schuldbewusst die Achseln zuckte. Bill Rimmer reckte den Kopf und starrte ans Saalende. Irgendwas ging dort vor. Der Kameramann drehte sich herum und stieg auf einen Stuhl, um einen besseren Überblick zu bekommen.
Helen sah, dass draußen ein Lieferwagen vorgefahren war, dessen Scheinwerfer direkt in den Saal leuchteten. Jemand war ausgestiegen und ging zum Eingang. Er schob sich im Vorraum durch die Menge, die sich langsam teilte, um ihn durchzulassen. Dann war er im Saal und drängte sich an den Zwischenrufern vorbei, die bei seinem Anblick verstummten.
Es war Abe Harding.
Er trug etwas über der Schulter, eine Art Bündel. Helen warf Dan einen Blick zu, und beide runzelten die Stirn.
»Verdammt, was schleppt der da mit sich rum?«
»Sieht fast wie ein Teppich aus.«
Harding hatte sich an den Zwischenrufern vorbeigedrängt und ging jetzt zwischen den Stühlen hindurch, von denen die meisten Leute aufgestanden waren, um ihn besser zu sehen. Er trug einen langen, gelben Regenmantel, der nass glänzte und beim Gehen ein wischendes Geräusch verursachte. Abe Harding trug keinen Hut, und sein struppiges Haar war völlig durchnässt.
Es herrschte absolute Stille. Sämtliche Augen waren auf ihn gerichtet. Er trug Sporen an den Stiefeln, die bei jedem Schritt auf dem Weg zum Podium klirrten, und er starrte Helen mit irrem Blick an. Helen hoffte nur, dass Dans Spezialagenten ihre Waffen bereithielten.
Erst als Harding das Podium erreichte und direkt vor ihr stehenblieb, fiel Helen das Blut auf, das ihm in Strömen über den Regenmantel lief; und endlich begriff sie, was das schwarze Fellbündel auf seiner Schulter war.
»Hier haben Sie Ihren gottverdammten Beweis«, sagte Harding.
Und er schwang den toten Wolf von der Schulter und schleuderte ihn auf den Tisch.
Als es Helen und Bill Rimmer endlich gelang, die Stadthalle zu verlassen, sah es auf der Hauptstraße aus wie im Krieg. Sie wurde von vier Polizeiwagen blockiert, während sich ein fünfter mit heulender Sirene durch die Menge vorzuarbeiten versuchte. Das Blaulicht spiegelte und brach sich in den Schaufenstern und ließ die großen Regenpfützen wie Blutlachen aussehen. Der Regen prasselte herunter wie in den Tropen. In Sekundenschnelle war Helen nass bis auf die Haut.
Ein Polizist bat die Leute über Megaphon weiterzugehen. Die meisten taten ihm den Gefallen und suchten sich zwischen den Pfützen einen Weg zu ihren Autos. Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie Dan. Er und zwei Spezialagenten stritten sich mit einem der Polizisten, die Abe Harding verhaftet hatten.
Dann sah sie, wie Harding, immer noch im gelben Regenmantel, die Hände in Handschellen auf dem Rücken, in einen der Polizeiwagen geschoben wurde. Seine Söhne schrien zwei andere Polizisten an, die sie daran hinderten, zu ihrem Vater vorzudringen. Ein paar Häuser weiter gab Buck Calder im überdachten Eingang von Iversons Lebensmittelladen der Frau vom Fernsehen ein Interview.
»Alles in Ordnung?«, fragte Bill Rimmer Helen besorgt.
»Ich denke schon.«
Sobald Harding den Wolf auf den Tisch geworfen hatte, war die Hölle losgebrochen. Einer der Typen von der O. W. Gruppe hatte eine Schlägerei mit einem der beiden Holzfäller begonnen, die allerdings beendet werden konnte, ehe jemand verletzt wurde. Im anschließenden Chaos war Helen gegen die Wand gedrückt worden, und ein großer Rancher hatte ihr aus Versehen auf den Fuß getreten. Abgesehen davon war sie nur ein wenig zittrig.
»Dan scheint ein Problem zu haben«, sagte Rimmer, zog die Schultern ein und rannte durch den Regen auf die andere Straßenseite. Helen folgte ihm.
»Das ist doch nicht nötig!«, sagte Dan zu dem Polizisten.
»Der Mann hat einen Polizisten angegriffen. Außerdem, was wollen Sie überhaupt? Sie waren doch derjenige, der um polizeiliche Unterstützung gebeten hat.«
»Stimmt, aber weshalb wollen Sie ihn mitnehmen? Behalten können Sie ihn doch nicht. Damit machen Sie ihn doch nur zum Märtyrer, und genau das will er.«
Doch es war schon zu spät. Der Wagen, in den man Abe verfrachtet hatte, fuhr bereits an und zerstreute mit seiner Sirene die Menschenmenge.
Im Scheinwerferlicht sah Helen plötzlich Luke. Er kam die Straße herunter, hatte sie aber noch nicht entdeckt. Es schien, als suche er jemanden.
»Luke!«
Er drehte sich um und sah sie sofort. In seinem braunen Regenmantel mit dem hochgestellten Kragen wirkte er sehr blass und traurig. Als er näher kam, versuchte er zu lächeln und nickte ihr zu, so dass ihm das Wasser vom Hutrand lief.
»Ich h-h-hab Sie gesucht.«
»Ich Sie auch. Da drinnen, meine ich. Haben Sie gesehen, was passiert ist?«
Er nickte und schaute dabei zu seinem Vater hinüber, der immer noch interviewt wurde.
»Ich k-k-kann nicht bleiben.« Er zog etwas aus seiner Manteltasche und gab es ihr. »H-H-Hier, das habe ich gefunden. Lag neben der Straße.«
Es war ein Brief. Der Umschlag war schmutzig und die Tinte verlaufen, aber Joels Handschrift konnte sie trotzdem noch erkennen. Ihr Herz machte einen kleinen Satz.
»Ich g-g-geh jetzt lieber.«
»Ja, okay, danke sehr.«
Er nickte, drehte sich um und ging.
»Luke?«, rief sie.
Er wandte sich um, und plötzlich ahnte sie, wie sehr ihn das, was mit dem Wolf passiert war, schmerzte. »Kommen Sie mich mal besuchen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich k-k-kann nicht.« Und er ging durch den Regen und war bald in der Menge verschwunden.