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Die Pachtweiden, die von den Calders und ihren Nachbarn als Sommerweiden genutzt wurden, lagen an den Hängen der Berge wie Flicken, die von einem fleißigen Riesen ins dunklere Grün des Waldes genäht worden waren. Zwischen ihnen zeigten sich entlang der Bachläufe und Schluchten hellgelbe, zitronenfarbene und goldene Nähte, da die Nächte den Weiden und Sauerkirschen bereits den ersten Frost bescherten.

In so manchem Jahr lag um diese Zeit schon der erste Schnee, doch war der Sommer diesmal wie ein Partygast, der nicht gehen wollte, ganz ähnlich wie die Zugvögel am wolkenlosen, kobaltblauen Himmel.

Buck Calder zügelte sein Pferd auf einer kahlen Felsnase, die aus dem Wald über seine Pachtweiden ragte. Das Pferd war ein hübscher, breitbrüstiger Grauschimmel, der sich ebenso stolz hielt wie sein Besitzer. Während er so in der frühen Morgensonne unter dem Hutrand hinab auf die Ebene blinzelte, dachte Buck wie so oft, dass sie beide ein prächtiges Bild abgeben mussten, das den alten Charlie Russell gewiss dazu verführen würde, nach seinem Pinsel zu greifen.

Er blickte über die Bäume hinab auf die Spuren, die er und Clyde im Tau der Wiese hinterlassen hatten, und auf die der Kühe, die vor ihnen Reißaus genommen hatten. Dahinter erstreckte sich im Dunstschleier der niedrig stehenden Sonne das Tal in Richtung Hope. Nebelschwaden hüllten am Fluss die unteren Stämme der Pyramidenpappeln ein. Ihre Blätter waren inzwischen gelb, und das Gras um sie herum war so fahl wie ein altes Elchfell.

Buck liebte den Herbst. Die Zäune waren repariert, die Arbeit an den Bewässerungsgräben erledigt, und für den Augenblick schien alles getan. Das gab ihm eine kurze Atempause, um Bestandsaufnahme zu machen, ehe Mitte Oktober dann die Hektik des Verkaufens und Verladens der Kälber begann. In einigen Tagen würden sie die Herde zusammentreiben und dorthin bringen, wo er sie am liebsten sah, nämlich auf seinem eigenen Grund und Boden und nicht auf dem Terrain, das der Regierung gehörte.

Dabei war das gepachtete Land keineswegs schlecht – ganz im Gegenteil. Bucks Pachtweiden waren die größten und grünsten, die es gab, und über den Preis konnte er sich auch nicht beklagen. Mit weniger als zwei Dollar pro Monat und Vieheinheit ließ sich eine Kuh sogar billiger als eine Katze durchfüttern, doch der Forest Service gab ihm stets das Gefühl, als täte er ihm einen Gefallen. Ständig wurden wegen dieser oder jener Sache neue Gesetze erlassen, und der Widerwille, den Buck und andere Rancher sowieso schon gegen die Forstverwaltung hegten, verstärkte sich dadurch noch.

Buck wehrte sich aus Prinzip. Schon als Kommunalpolitiker war dies sein Lieblingsthema gewesen. Wie oft hatte er schon mit der Faust auf den Tisch gehauen und über den Skandal gewettert, dass die Bundesregierung ein so großes Gebiet des Westens ihr eigen nannte, Land, das er und seine Vorfahren mit ihrem Schweiß und Blut getränkt hatten. Sie waren es auch gewesen, die allen Hindernissen zum Trotz diese Wildnis kultiviert, Gras gesät und jene Filetsteaks geliefert hatten, die diese verdammten Federfuchser – ohne ein Wort des Dankes –in ihren schicken Restaurants in Washington, D.C., verzehrten.

Die meisten Rancher dachten wie er, und eine Zeitlang hatte Buck geglaubt, er könne durch eine Kampagne die Dinge ändern; aber er brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass dies nicht ging.

Eben jene Halsstarrigkeit, die die Rancher hier draußen zum Überleben benötigten, machte es auch nahezu unmöglich, sie zu organisieren und unter einen Hut zu bringen. Man konnte sie dazu bewegen, ihm zuzustimmen, Petitionen zu unterschreiben, manchmal sogar dazu, einem Treffen beizuwohnen, doch tief drinnen hatten sie sich alle längst mit der Tatsache abgefunden, dass die Bewirtschaftung einer Ranch eine Strafe Gottes war, um die Menschen die Bedeutung des Wortes Pessimismus zu lehren. Widrigkeiten gehörten zum Geschäft, und ein Mann wurde daran gemessen, wie er damit zurechtkam. Letzten Endes wusste doch jeder, dass die Regierung trotz Bucks Marotte und der großen Töne, die er spuckte, tat, was sie wollte.

In letzter Zeit hatte sich die Lage ziemlich verschlechtert. Die Bundesbehörden kamen ständig mit neuen Vorschriften, reduzierten die Anzahl der Kühe, die man auf den Pachtweiden halten durfte, und sagten einem sogar, was man mit dem eigenen Land zu tun hatte. Sie untersuchten das Wasser in den eigenen Bächen, sagten, es sei verschmutzt, und verlangten, dass man Zäune aufstellte, damit die eigenen Kühe nicht davon tranken. Dann erzählten sie, irgendein seltenes Tier, ein gottverdammter Iltis, eine Eule oder was auch immer, hause auf dem eigenen Grund, und es sei ratsam, ihn ein paar Jahre lang nicht zu bewirtschaften.

Alles, was ein Viehzüchter heutzutage machte, war nicht mehr nur allein seine Angelegenheit, sondern die der ganzen Welt. Wenn man sich die Nase putzen oder mal austreten wollte, musste man sich dazu die Erlaubnis der Regierung holen. Und die würde sie nicht geben, ohne vorher diese sogenannten Umweltgruppen befragt zu haben. Die gottverdammten Frettchenfreaks und Dummköpfe aus der Stadt mussten ihren Senf dazugeben, und die Beamtentrottel, die im Prinzip auch nicht besser waren, hielten das fürs Evangelium und dachten sich immer neue Schikanen aus, um den Ranchern das Leben noch schwerer zu machen. Man konnte in all dem Papierkram ersticken, mit dem man überschüttet wurde. Es gab Regeln und Beschränkungen für tausend Dinge und obendrein noch einen Haufen Strafen, wenn man dagegen verstieß. Allein bei dem Gedanken daran konnte einem schlecht werden.

Ach, zur Hölle damit. Buck würde schon mit ihnen fertig werden. Er wusste genau, dass ihn die meisten Staatsbeamten, mit denen er es zu tun hatte, fürchteten, und er machte sich einen Spaß daraus, ihnen mächtig einzuheizen. Die ärmeren Rancher allerdings, Leute wie die Hardings, waren angreifbarer. Es war nicht leicht, sich gegen die Beamten aufzulehnen, wenn diese wussten, dass sie den Rancher mit einer Strafe oder mit zeitaufwendigem bürokratischem Kram in den Ruin treiben konnten.

Als Abe auf dem Jahrmarkt zu ihm gekommen war, hatte Buck wirklich Mitleid mit ihm gehabt, nicht wegen seiner Sorge um die Wölfe, sondern weil er so gehetzt und bedrückt aussah. Beinahe hätte Buck Schuldgefühle bekommen, weil er in den vergangenen Jahren so wenig getan hatte, um ihm zu helfen.

Deshalb wollte er mit Clyde zu Abes Weiden, um ihm mit der Herde zur Hand zu gehen. Vorher waren sie zu ihrer eigenen Pacht geritten, um Luke abzuholen, der ihnen helfen sollte.

Weiter unten sah Buck jetzt Clyde, der aus dem Wald auf ihn zugeritten kam. Die beiden hatten sich getrennt, um so die abgelegeneren Ecken der Weide rascher überprüfen zu können.

Den Kühen und Kälbern, jedenfalls jenen, die Buck zu Gesicht bekam, schien es gutzugehen, aber von seinem Sohn war keine Spur zu sehen.

»Hast ihn gefunden?«, rief er Clyde zu.

»Nee. Und es sieht auch nicht so aus, als wenn er in seinem Zelt geschlafen hätte.«

»Wo zum Teufel treibt sich der Junge bloß rum?«

»Keine Ahnung.«

Buck schüttelte den Kopf und wandte das Gesicht ab, da ihm, wie so oft, allein der Gedanke an Luke die gute Laune verdorben hatte. Er wartete, bis Clyde den Hang zu ihm heraufgeritten war, riss dann, ohne ein Wort zu sagen, sein Pferd scharf herum und schlug den Holzfällerweg ein, der hier den Wald durchschnitt und zu den Weiden der Hardings führte.

Er hatte es für einen guten Einfall gehalten, Luke auf die Herde aufpassen zu lassen. Weiß Gott, es war schwer genug, eine Arbeit zu finden, die der Junge machen konnte, ohne über die eigenen Beine zu stolpern. Anfangs war Buck beeindruckt gewesen, wie ernst er seine neue Aufgabe zu nehmen schien, erst recht, als er auch noch nachts oben auf den Weiden blieb. Doch jetzt war er sich da nicht mehr so sicher.

Clyde traf Luke nie an, sooft er auch heraufkam. Und im Haus schien der Junge auch nur noch dann aufzutauchen, wenn sonst keiner da war – von dem einen Mal vor zwei Tagen abgesehen, als er zum Frühstück mit dieser Verletzung auf der Stirn erschien und sagte, dass ihn beim Reiten ein Zweig oder Ast im Gesicht getroffen habe. Daraufhin hatte sich Eleanor wieder aufgeregt und gemeint, dass es doch nicht sicher genug sei, sich da oben die ganze Nacht allein aufzuhalten.

Manchmal trieb der Junge Buck zur Verzweiflung. Er wusste, dass es ihm weh tun würde, Luke mit dem Sohn zu vergleichen, den er verloren hatte, aber er konnte nicht anders. Wenn er entdeckte, wie Luke mal wieder Mist baute, sah Buck vor seinem geistigen Auge Henry, wie dieser die Arbeit mit links erledigte. Neben Lukes langem Gesicht am Essenstisch sah er das pfiffige Grinsen seines Bruders und hörte sein fröhliches Lachen. Welche Laune der Natur konnte aus dem gleichen Samen nur zwei so verschiedene Söhne hervorbringen?

Obwohl er sich über seine eigene Sterblichkeit noch nicht allzu viel Gedanken machte, fragte sich Buck, was in der Zukunft wohl aus der Ranch werden würde. Die Tradition wollte es, dass sie an seinen einzigen Sohn und Erben überging, aber die Tradition konnte aus einem Mann einen Narren machen. Niemand, der seinen Verstand noch beisammen hatte, würde Luke die Führung der Ranch zutrauen, selbst wenn dieser irgendein Interesse an der Aufgabe gezeigt hätte. Und obwohl Buck es weder schriftlich festgehalten noch sich selbst eingestanden hatte, dachte er immer öfter daran, Clyde und Kathy die Zügel zu überlassen, wenn es einmal soweit war.

Dass die Calder-Ranch nach all den Jahren von einem geführt werden sollte, der einen anderen Namen trug, empfand Buck als Schande. Er hatte es nicht vermocht, einen ordentlichen männlichen Erben zu zeugen, der den Stammbaum fortsetzte – und die ganze Welt wusste darüber Bescheid.

Der Holzfällerweg war so schmal, dass die Pferde nicht nebeneinander gehen konnten, also ritt Clyde hinter ihm und behielt seine Gedanken für sich, wofür Buck ihm dankbar war. Unterhaltungen waren nicht gerade Clydes starke Seite, doch wo seine Stärken lagen, ließ sich auch nicht so ohne weiteres sagen. Buck hatte stets gedacht, dass Kathy einen Besseren hätte finden können, aber offenbar schienen das die meisten Väter von ihren Töchtern zu glauben.

Clydes Eltern waren beide gestorben, als er noch klein war, weshalb ihn Onkel und Tante auf einer Ranch bei Livingston aufgezogen hatten. Angeblich waren sie ziemlich streng zu dem Jungen gewesen, was vielleicht jenen Zug an ihm erklärte, den Buck so überaus irritierend fand, nämlich seine fast hündische Dankbarkeit. Er war stets zu sehr darum bemüht, auf Bucks Launen Rücksicht zu nehmen, stets ein wenig zu sehr darauf aus zu gefallen. Was Buck dachte, das dachte auch Clyde, und wenn Buck seine Ansicht änderte, selbst wenn er behauptete, dass schwarz nicht schwarz, sondern weiß war, würde Clyde sich seiner Meinung anschließen.

Doch wenn das sein schlimmster Fehler war, konnte Buck sich glücklich schätzen, einen solchen Schwiegersohn zu haben. Kathy besaß genug Verstand für beide, außerdem verwöhnte der Junge sie und das Baby. Und vor harter Arbeit scheute er auch nicht zurück. Vielleicht würde eines Tages doch noch ein vernünftiger Rancher aus ihm werden.

Vor sich hörte Buck jetzt Motoren aufheulen. Als sich der Wald lichtete, sah er Wes und Ethan, Abes Söhne, die auf ihren Motocrossmaschinen den Weideboden aufwühlten.

»Was in Gottes Namen treiben die denn da?«, fragte er leise.

Eine kleine Herde verschreckter Kühe und Kälber wollte in den Schutz der Bäume fliehen, doch Ethan, der jüngere der beiden, versuchte sie von dort wieder zu verscheuchen. Er verschwand mit laut aufheulendem Motor im Wald, eine blaue Rauchfahne hinter sich herziehend.

Abe hockte am Fuß der Weide auf seinem Pferd, schaute zu und brüllte gelegentlich einige Anweisungen, die ungehört im Lärm der Maschinen untergingen. Er nickte grimmig, als er Buck und Clyde näher kommen sah.

»Buck.«

»Hallo, Abe. Tut mir leid, dass wir so spät dran sind.«

»Macht nichts.«

»Wir haben Luke gesucht.«

»Hab ihn gesehen, als wir raufgekommen sind, vor einer Stunde ungefähr«, sagte er, während seine Blicke wieder seinen Söhnen folgten, die hektisch unter den Bäumen herumkurvten. »Wollte mit dieser Wolfsfrau zum Wrong Creek.«

»Was zur Hölle hat er denn mit der zu schaffen?«, fragte Clyde.

Abe wandte den Kopf zur Seite und spuckte einen Mundvoll schwarzen Tabaksaft aus. »Frag nicht mich.«

Es dauerte eine Weile, bis das nächste Wort fiel. Buck wollte nicht, dass seine Stimme verriet, wie wütend ihn diese Neuigkeit machte.

»Und? Wie läuft’s?«, fragte er schließlich.

»Bis jetzt vier Kühe ohne Kälber. Die Euter sind ganz ausgetrocknet.«

»Glauben Sie, dass es die Wölfe waren?«, fragte Clyde.

»Wer denn sonst?«

Buck und Clyde machten sich nützlich und erledigten das, was eigentlich Wes’ und Ethans Aufgabe gewesen wäre. Nach einer Stunde hatten sie die Weide abgeritten und sämtliche lebenden Kühe und Kälber am Fuß der Weide zusammengetrieben. Abe fand noch weitere zwei Kühe mit trockenen Eutern. Von ihren Kälbern fehlte jede Spur.

Abe hatte kein Wort mehr gesagt, nur noch hin und wieder seine Söhne oder Kühe angebrüllt. Er war ganz blass, und die Haut um die Augen zitterte, als habe er Mühe, sich unter Kontrolle zu halten.

Verglichen mit Bucks Viehbestand war die Herde klein. Als sie die höher gelegenen Hänge hinter sich hatten, wo die Kühe immer wieder seitwärts in den Wald ausbrechen konnten, fiel es Abe und seinen Söhnen nicht mehr schwer, die Tiere ohne weitere Hilfe zur Ranch zu treiben. Buck rief Clyde, und gemeinsam ritten sie zu Abe.

»Kommen Sie jetzt allein zurecht? Ich dachte, wir machen uns auf den Weg und suchen nach Luke.«

»Sicher. Danke für die Hilfe.«

»Kein Problem. Wenn die anderen ihre Herden unten haben, sollten wir uns vielleicht mal alle zusammensetzen und über diese Wolfsgeschichte reden.«

»Wüsste nicht, was es da zu reden gäbe.«

»Schaden kann’s aber auch nicht.«

»Mag sein.«

»In Ordnung. Bis später dann, Abe.«

»Gut.«

Sie bogen auf einen schmalen Pfad ein, der sich durch den Wald hinauf zu jenem See schlängelte, an dem Helens Hütte lag. Buck hielt es für sinnvoll, dort nach Luke zu suchen. Selbst wenn er nicht da war, konnten sie ihm an der Tür eine Nachricht hinterlassen, dass er sich gefälligst zu Hause blicken lassen sollte. Der Junge hatte einiges zu erklären. Hoffentlich fiel ihm ein guter Grund ein, warum er die Herde im Stich gelassen hatte.