Die rot-weiße Cessna 185 legte sich unter der kobaltblauen Kuppel des frühen Morgenhimmels in eine steile Kurve, ehe sie dann einen Augenblick, gleichsam gewichtslos, über den Gipfeln der Berge zu schweben schien. Während er den Flügel an der Steuerbordseite in die Sonne kippte und die Nase zum zwanzigsten Mal nach Osten ausrichtete, schaute Dan unmittelbar auf den Flugzeugschatten hinab, der in dreihundert Meter Tiefe wie der Geist eines Adlers über die uralten Kalksteinhänge huschte und aus seinem Blick verschwand.
Bill Rimmer saß neben ihm im engen Cockpit, den Empfänger auf dem Schoß, und ging methodisch immer wieder die Liste mit den Frequenzen aller markierten Wölfe durch, die es zwischen Kanada und Yellowstone gab. Auf beiden Flügeln des Flugzeugs war eine Antenne befestigt, und Bill schaltete ständig zwischen ihnen hin und her, während sie angestrengt auf das unverkennbare Klick-Klick-Klick eines Signals lauschten. Sie hatten gutes Flugwetter und wären wohl noch tiefer gegangen, wenn sie etwas mehr Wind gehabt hätten.
Es war nicht besonders einfach, in dieser Gegend nach Wölfen Ausschau zu halten. Den ganzen Morgen lang hatten sie die Hügel und Cañons durchkämmt, Augen und Ohren angestrengt, in die schattigen Schluchten zwischen den Bäumen gespäht und Bergkämme, Bäche und sanfte grüne Wiesen nach verräterischen Spuren abgesucht: einem Kadaver auf einer Lichtung, einem Schwarm Raben oder plötzlich flüchtenden Rehen. Wild hatten sie genug gesehen, Weiß- wie Schwarzwedelhirsche und sogar Elche. Als sie einmal dicht über eine weite Schlucht flogen, störten sie eine Grizzlybärin auf, die sich mit ihren Jungen an Buffalobeeren gütlich tat und erschreckt in den Schutz des Waldes flüchtete. Hier und da sahen sie auch etwas Vieh, das auf jenen Sommeralmen graste, die viele Rancher von der Forstverwaltung, dem Forest Service, pachteten. Doch einen Wolf oder gar mehrere Wölfe konnten sie nicht entdecken.
Rimmer hatte Dan am Abend zuvor zu seinem Wagen nach Hope gefahren, und sie hatten im Last Resort noch ein Bier getrunken. Die Kneipe war ein düsteres Loch, die Wände voller Jagdtrophäen, deren blinde Augen jede ihrer Bewegungen zu beobachten schienen, als sie sich mit ihren Gläsern an einen Tisch in der Ecke setzten. Am anderen Ende der Bar spielten zwei Rancharbeiter Billard und fütterten die Jukebox mit ihren Münzen, doch die Musik musste gegen das Fußballspiel im Fernseher über der Theke ankämpfen. Ein einsamer Säufer mit schweißfleckigem Hut erklärte der Frau hinter dem Tresen die Einzelheiten seines Tagesablaufs. Sie gab sich Mühe, interessiert dreinzuschauen, übertrieb es aber ein wenig. Bis auf diese drei Männer waren Dan und Rimmer die einzigen Gäste. Bei dem Gedanken an die Begegnung mit Calder kochte Dan noch immer vor Wut.
»Ein ziemlicher Brocken, habe ich dir doch gesagt.« Rimmer wischte sich den Schaum vom Schnauzbart.
»Stimmt, ein ziemlicher Kotzbrocken.«
»Ach, er ist schon in Ordnung. Hunde, die bellen, beißen nicht. Er ist eben einer von diesen Typen, die andere immer auf die Probe stellen müssen, die herausfinden wollen, wie stark man ist.«
»Ach so, darauf wollte er hinaus.«
»Sicher. Und du hast dich gut gehalten.«
»Besten Dank, Bill.« Er nahm einen großen Schluck und knallte das Glas dann klirrend auf den Tisch. »Verdammt, warum konnte er nicht noch eine Weile damit warten, diese verfluchten Reporter anzurufen?«
»Die werden bald wieder da sein.«
»Warum denn das?«
»Er hat mir erzählt, dass er den Hund beerdigen lassen will, weißt du, ein richtiges Hundebegräbnis, mit Grabstein und allem Drum und Dran.«
»Das ist doch nicht zu fassen.«
»Hat er jedenfalls gesagt.«
»Was glaubst du, was sie auf den Grabstein schreiben?«
Beide dachten einen Augenblick nach, dann meinte Dan: »Wie wär’s mit: Labrador, früher unter dem Namen ›Prince‹ bekannt?«
Sie lachten wie zwei kleine Jungen und viel länger, als es dieser Witz gerechtfertigt hätte. Doch es machte ihnen Spaß, und bald war Dan auch wieder besserer Laune. Sie gönnten sich noch ein Glas und blieben, bis das Fußballspiel zu Ende war. Außerdem hatte sich die Bar inzwischen gefüllt, Zeit, nach Hause zu fahren.
Als sie zur Tür gingen, hörte Dan die Stimme des Nachrichtensprechers im Fernsehen sagen: »Und in Hope Valley ist ein Baby nur knapp dem Tod entronnen, als der böse Wolf ihm einen Besuch abstattete. Dies und mehr gleich nach der Werbung. Bleiben Sie dran.«
Sie blieben im Türschatten stehen, da man sie dort nicht so gut erkennen konnte. Getreu seinem Wort brachte der Sprecher der Lokalnachrichten gleich nach der Werbung die Geschichte mit dem Wolf, und Dan spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten, als er Buck Calders Krokodillächeln sah.
»Der Wolf ist ein Killer, er tötet alles, was ihm in die Quere kommt.«
»Der Kerl sollte sich zur Präsidentenwahl aufstellen lassen«, flüsterte Dan.
Und dann, als die Kamera über Dan und Rimmer hinwegschwenkte, die sich, genau wie jetzt, möglichst unauffällig im Hintergrund zu halten versuchten, hieß es in dem Bericht weiter, dass Bundesbeamte von dem Vorfall peinlich berührt seien. Man brachte einen Auszug aus Dans kurzem Interview, in dem das Entscheidende bereits gesagt worden war, noch ehe er den Mund aufmachte. Dabei blinzelte er wie ein Schwerverbrecher in die Kamera.
»Könnte dieser Wolf eines der Tiere sein, die Sie in Yellowstone freigelassen haben?«, fragte ihn die Reporterin in dem roten Kostüm und schob ihm das Mikrofon unter die Nase. Dieses »Sie« tat weh.
»Es ist noch zu früh, um mit Bestimmtheit etwas darüber sagen zu können. Und solange wir den Kadaver nicht untersucht haben, können wir nicht einmal bestätigen, dass es sich überhaupt um einen Wolf handelt.«
»Wollen Sie damit etwa behaupten, dass Sie nicht daran glauben, dass es sich um einen Wolf handelt?«
»Nein, das will ich nicht behaupten. Ich sage nur, dass wir es noch nicht bestätigen können.« Sein Versuch, ihr ein entwaffnendes Lächeln zu schenken, ließ ihn bloß noch verschlagener aussehen. Dan hatte genug.
»Komm, verschwinden wir von hier«, sagte er.
Als sie heute Morgen von Helena herüberflogen und die Sonne über der Bergkette aufblitzte, schätzten sie ihre Lage nicht allzu trostlos ein. Voller Optimismus sprach Dan mit Rimmer über die Möglichkeit, ein Signal auffangen zu können. Vielleicht hatte Kathy Hicks in ihrer Panik einfach übersehen, dass der Wolf ein Halsband trug. Und wenn nicht, war er vielleicht doch mit Tieren zusammen, die eins trugen. Das waren ganz schön viele »Vielleichts«, und Dan ahnte inzwischen, dass ihre Chancen nicht allzugut standen.
In den letzten Jahren hatten sie absichtlich die Zahl der mit Halsband versehenen Wölfe reduziert. Hinter dem Versuch, eine lebensfähige Wolfspopulation in der Region anzusiedeln, stand der Gedanke, die Tiere so wild und so natürlich wie möglich leben zu lassen. Sobald es genug fortpflanzungsfähige Pärchen gab, konnte man die Wölfe von der Liste der bedrohten Arten streichen. Und nach Dans persönlicher Meinung waren Halsbänder dabei nicht gerade hilfreich.
Diese Ansicht wurde nicht von allen geteilt. Es gab sogar Leute, die dafür eintraten, Wölfen Fangkragen anzulegen, die mit jederzeit einsatzbereiten Injektionsnadeln gespickt waren, so dass man das Tier einschläfern konnte, wann immer man wollte. Dan hatte in Minnesota selbst einige Male damit gearbeitet, und sie machten das Leben gewiss einfacher. Doch immer, wenn man einen Wolf fing, ihn betäubte, behandelte, eine Blutprobe entnahm, einen Clip in sein Ohr klemmte und ihm die Spritze verpasste, machte ihn das ein bisschen weniger wild, ein bisschen weniger zum Wolf. Und am Ende musste man sich fragen, ob sich dieses Tier bei dieser Art Fernbedienung durch den Menschen wirklich noch von einem Spielzeugboot auf einem Teich im Park unterschied.
Doch wenn ein Wolf in Schwierigkeiten geriet, wenn er Kälber, Schafe oder Haustiere riss, dann wurde es allerhöchste Zeit, ihm ein Halsband umzulegen – auch um seiner selbst willen. Man gab sich Mühe, bei den Ranchern den Eindruck zu erwecken, als wisse man immer genau, wo sich jeder Wolf im Staat aufhielt, und wenn ein Tier aus der Reihe tanzte, musste man verteufelt schnell sein, um es zu finden, bevor es einer dieser Kerle mit einem Gewehr abknallte. Konnte man ihm ein Halsband umlegen, wusste man wenigstens, wo es sich befand. Und wenn der Wolf wieder in Schwierigkeiten geriet, war es möglich, ihn aufzuspüren oder zu erschießen.
Während die Sonne immer höher stieg, blieben die beiden Männer im engen Cockpit der Cessna so stumm wie Rimmers Funkgerät. Wäre da unten ein Wolf mit einem Halsband gewesen, hätten sie ihn längst aufgespürt. Einen Wolf – oder Wölfe – ohne Halsband in einer solchen Gegend ausfindig machen zu wollen war weit schwieriger. Außerdem stellte sich da noch die Frage, wer sich eigentlich auf die Suche machen sollte. Schlimmer noch, wer würde die Wölfe im Auge behalten, wenn sie einmal gefunden waren?
Dan hätte den Job gern selbst übernommen. Der einzige Wolf, den er in letzter Zeit zu Gesicht bekommen hatte, war Fred. Und inzwischen war er schon so sehr zum Schreibtischbiologen geworden, dass er manchmal witzelte, er werde noch eine Doktorarbeit über das Brutverhalten von Aktennotizen schreiben. Er sehnte sich danach, wieder draußen sein zu können, so wie in den guten alten Tagen von Minnesota, als er für Telefon und Fax unerreichbar war. Aber das kam überhaupt nicht in Frage. Er hatte zuviel zu tun und außer Donna niemanden, auf den er die Arbeit abwälzen konnte. Bill Rimmer hatte sich zwar großzügig bereit erklärt, ihm beim Aufstellen der Fallen behilflich zu sein, obwohl er selbst fast in Arbeit erstickte.
Die Wolfsfrage war lange politisch strittig gewesen, doch in letzter Zeit schienen jene Politiker alle Pluspunkte für sich verbuchen zu können, die strikt gegen eine Wiederansiedlung waren. Je stärker die Wolfspopulation wuchs, desto hitziger wurde die Debatte. Und je öfter es zu Vorfällen dieser Art kam, desto schwieriger würde es werden, mehr Steuergelder und die nötigen Arbeitskräfte zu erhalten. Dan hatte mit ansehen müssen, wie man ihm sein Budget rigoros zusammenstrich. Und jetzt bekam er gar kein Geld mehr. Nur in Notfällen gelang es ihm manchmal, ein oder zwei Monate lang jemanden aus einer anderen Abteilung loszueisen oder sich einen Studenten oder einen der Freiwilligen auszuleihen, mit denen sie unten in Yellowstone zusammengearbeitet hatten.
Das Problem war nur, dass es hier um mehr ging, als einen Wolf zu fangen und ihm ein Halsband zu verpassen. Hope konnte ohne weiteres zum Testfall für das gesamte Wiederansiedlungsprogramm werden.
Angesichts der Tatsache, dass in der Stadt ein tief verwurzelter Hass gegen Wölfe herrschte und die Medien den Vorfall bereits für ein gefundenes Fressen hielten, würde derjenige, den Dan losschickte, nicht nur gut im Aufspüren und Fangen von Wölfen sein müssen. Er oder sie musste zudem ein geschickter Vermittler sein, mit einem Gespür für die örtlichen Empfindlichkeiten, aber dennoch stark genug, sich gegen einen so mächtigen Mann wie diesen Buck Calder durchzusetzen. Biologen mit derart breitgefächerten Fähigkeiten waren schwer zu finden.
Die Cessna hatte erneut das östliche Ende ihrer Flugbahn erreicht. Dan wendete, und als er sich in die Kurve legte, schaute er auf Hope hinunter, das wie eine Modellstadt unter ihm ausgebreitet lag. Ein neunachsiger Viehtransporter, der so klein aussah, dass man glaubte, ihn mit einer Hand aufheben zu können, verließ die Tankstelle. Die Flusswindungen blitzten hell wie Chrom zwischen den Pappeln auf.
Dan schaute auf die Tankanzeige. Gerade noch genug Saft für eine weitere Runde, dann sollten sie für heute Schluss machen.
Diesmal flog er direkt über die Ranch der Calders, auf der sich einige Kühe wie schwarze Ameisen vom sonnengebleichten Gras abhoben. Ein Auto wand sich durch die Hügel auf das Haus der Hicks zu. Bestimmt schon wieder so ein verdammter Reporter.
Sobald sie den Wald erreicht hatten, flog er niedriger, so niedrig, wie nur er es wagte, bis der Schatten des Flugzeugs in irrwitzigem Tempo über Baumspitzen und Cañon jagte. Gerade wollte er die Schnauze zum letzten Mal nach oben ziehen, da fiel sein Blick auf eine fahle, graue Gestalt weiter vorn, die über den felsigen Bergkamm aus seinem Sichtfeld huschte. Sein Herz schien auszusetzen, und als er zu Rimmer hinüberblickte, wusste er, dass er dasselbe gesehen hatte.
Sie sagten beide kein Wort, und die zehn Sekunden, die sie brauchten, um die Stelle zu erreichen, kamen ihnen viel zu lang vor. Dan zog eine weite Kurve, ging in Schräglage, als sie den Bergkamm überflogen, und beide spähten die andere Bergseite hinunter, dahin, wo das Tier verschwunden war.
»Ich habe ihn!«, rief Rimmer.
»Wo?«
»Bei diesem langen Felsbrocken. Er läuft gerade in den Wald.« Dann schwieg er einen Moment. »Ist ein Kojote, allerdings ein ziemlich großes Tier.« Er drehte sich zu Dan um und grinste entschuldigend. Dan zuckte die Achseln.
»Zeit, nach Hause zu fliegen.«
»Tja, sieht mir nach einem Job für den Fallensteller aus.«
Dan steuerte die Cessna in eine letzte Kurve, und für einen Moment funkelte die Sonne durch die Windschutzscheibe. Dann brachte er das Flugzeug in die Horizontale und nahm Kurs auf Helena.
Und irgendwo dort unten, an einem Ort dieser Wildnis, den ein Junge wie ein Geheimnis hütete, hörten Wölfe das Dröhnen der Flugzeugmotoren leiser werden und verstummen.