7

Dan Prior schlürfte seine dritte Tasse Kaffee, ohne den riesigen Braunbären, der hinter seinem Rücken aufragte, auch nur mit einem Blick zu würdigen. Mann und Bär schauten auf die Tür, in der die ersten verärgerten Passagiere aus Salt Lake City auftauchten. Der Flug hatte Verspätung, und Dan wartete bereits seit einer Stunde, nicht ganz so lange also wie der Bär, den man am Freitag, dem dreizehnten Mai 1977, erlegt, ausgestopft und auf die Hinterbeine gestellt hatte, damit er die Besucher von Great Falls erschreckte.

Dan hatte das Wochenende damit zugebracht, die Hütte sauberzumachen, in der Helen wohnen würde, und den Vergaser des alten Pick-up zu reparieren, den er für Helen aufgetrieben hatte. Er konnte nur hoffen, dass sie weder der Zustand der Hütte noch der des Wagens sonderlich schockieren würde. Die Hütte gehörte dem Forest Service und stand an einem kleinen See in der Wildnis oberhalb von Hope. Seit mehreren Jahren hatte dort kein Mensch länger als ein oder zwei Nächte verbracht, doch danach zu urteilen, wie es drinnen aussah, hatten in ihr Vögel, Insekten und diverse Nagetiere des Öfteren Unterschlupf gefunden.

Der Pick-up gehörte Bill Rimmers Bruder, der eine Art Pflegeheim für unheilbare Fahrzeuge auf seinem Hof unterhielt. Selbst mit einem neuen Vergaser standen die Chancen schlecht, dass der Toyota den Winter überlebte. Dan würde außerdem noch ein Schneemobil für sie auftreiben müssen.

Er betrachtete prüfend die Gesichter der eintreffenden Passagiere und fragte sich, ob Helen noch so wie früher aussah. Gestern Abend hatte er ein Foto ausgegraben, das vor fünf Jahren im nördlichen Minnesota, wo sie zusammen gearbeitet hatten, aufgenommen worden war. Sie hockte vorn in einem Kanu, sah über die Schulter zu ihm und lachte ihn mit ihren großen braunen Augen an. Sie trug dieses alte weiße T-Shirt mit den abgeschnittenen Ärmeln, auf dessen Rücken »Achtung: Alpha-Weibchen« stand. Ihr langes, braunes Haar war von der Sonne ausgebleicht. Sie trug es zu einem Zopf gebunden, wie er es am liebsten mochte, weil man so ihren gebräunten Nacken sehen konnte. Dan hatte vergessen, wie hübsch sie aussah, und er blieb lange sitzen, um dieses Bild anzustarren.

Was zwischen ihnen vorgefallen war, konnte man kaum als richtige Affäre bezeichnen. Nur in dieser einen Nacht am Ende eines langen Sommers gemeinsamer Feldforschung geschah, was häufig geschieht, wenn zwei Menschen draußen in der Wildnis arbeiten und ganz allein auf sich gestellt sind.

Dan hatte sich zu ihr hingezogen gefühlt, mehr, als es umgekehrt der Fall gewesen war. Er liebte ihre Schlagfertigkeit, diesen widerborstigen Sinn für Humor, mit dem sie von ihren eigenen Empfindlichkeiten ablenkte und den sie vor allem dazu benutzte, sich selbst auf den Arm zu nehmen. Zufällig aber war sie auch eine der gescheitesten Wolfsbiologen, die er kannte.

Damals hatte er ein Forschungsprogramm über Wölfe an der Universität durchgeführt, und Helen war eine seiner freiwilligen Helferinnen gewesen. Er hatte ihr beigebracht, wie man eine Falle aufstellt, und im Handumdrehen wusste sie besser damit umzugehen als er selbst.

Eines Abends dann, als sie unter sternenübersätem Himmel an einem See kampierten, war Dan seiner Mary das einzige Mal seit ihrer Hochzeit untreu geworden. Er hatte den Fehler begangen, dies Helen am nächsten Morgen zu erzählen, und damit war es dann vorbei. Er brauchte eine Weile, um über diese Geschichte hinwegzukommen, aber irgendwann hatte er es geschafft, und sie blieben Freunde und Kollegen, bis er schließlich eine andere Stelle annahm.

Während er jetzt die Menschenmenge nach ihrem Gesicht absuchte, überlegte er, ob es möglich sei, die alten Gefühle von neuem zu wecken, doch zugleich ermahnte er sich, nicht so verdammt blöd zu sein.

Dann sah er sie.

Sie kam gleich hinter einer aufgebrachten Frau mit zwei kleinen heulenden Kindern durch die Tür, die ihr den Weg versperrten. Helen entdeckte ihn sofort und winkte ihm zu. Sie trug Jeans und ein weites, beigefarbenes Armeehemd. Das einzige, was sich an ihr verändert hatte, waren ihre Haare, die sie jetzt kurz wie ein Junge trug. Sie kam einfach nicht an den weinenden Kindern vorbei, doch endlich hatte sie es geschafft und stand vor Dan.

»Was hast du denen getan?«, fragte er.

Helen zuckte die Achseln. »Nichts, ich habe einfach nur gesagt, guckt euch den Kerl bei dem Bären an, und gleich haben sie losgeheult.«

Er lächelte, und sie umarmten sich.

»Willkommen in Montana.«

»Danke sehr, mein Herr.« Sie trat einen Schritt zurück, hielt ihn aber immer noch fest und betrachtete ihn.

»Siehst gut aus, Prior. Macht und Erfolg scheinen dich kaum verändert zu haben. Und ich dachte, du würdest neuerdings Anzüge tragen.«

»Hab mich extra fein gemacht.«

»Und immer noch keinen Cowboyhut?«

»Ach, weißt du, ich habe zwei davon zu Hause, und ab und zu setze ich einen davon auf, schau in den Spiegel und sehe dann, wie mich so ein merkwürdiger Typ anstarrt.«

Sie lachte. »Schön, dich wiederzusehen.«

»Danke, gleichfalls. Was ist mit deinen Haaren passiert, Helen?«

»Frag nicht. Ich hab sie mir letzte Woche schneiden lassen. War ein großer Fehler. Aber eigentlich solltest du jetzt sagen, dass dir meine neue Frisur gut gefällt.«

»Ich könnt mich dran gewöhnen.«

»Lieber wäre mir, ich könnt mich selber dran gewöhnen.«

Sie fuhren mit dem Fahrstuhl zur Gepäckausgabe und plauderten miteinander, während sie warteten. Er fragte sie, ob sie schon mal in Salt Lake City gewesen sei, und sie sagte, ja, einmal, als Kind. Sie wollten im Glacier Park zelten, doch ihre Schwester bekam eine Lebensmittelvergiftung und musste eine Woche lang das Bett hüten.

Helens Gepäck tauchte auf dem Band auf, zwei große Rucksäcke und ein ramponierter Koffer, der mindestens eine Tonne wog und früher ihrem Großvater gehört hatte. Sie wuchteten ihn auf einen Karren.

»Ist das alles?«, fragte Dan. Sie warf ihm einen schuldbewussten Blick zu.

»Na ja, fast.«

Ein Angestellter der Fluglinie näherte sich ihnen mit einem Käfig, aus dem ein lautes Bellen ertönte. Helen bückte sich, machte die Klappe auf, und eines der seltsamsten Geschöpfe, das Dan je zu Gesicht bekommen hatte, begann, Helens Gesicht abzulecken.

»Das ist Buzz.«

»Hallo, Buzz. Komisch, Helen, soweit ich mich erinnere, hast du am Telefon kein Wort von Buzz gesagt.«

»Ich weiß. Tut mir leid. Na schön, okay, ich lasse ihn gleich einschläfern.«

»Ich hab ein Gewehr im Auto.«

»Gut. Dann los.«

Buzz warf Dan einen fragenden Blick zu.

»Jetzt sag schon«, drängte Helen. »Ist er nicht wunderbar?«

»Tja, lass uns hoffen, dass die Wölfe derselben Ansicht sind.«

 

Als Helen und Dan das Flughafengebäude verließen, schlug die Hitze wie eine Woge über ihnen zusammen. Das Thermometer in Dans Wagen zeigte knapp über dreißig Grad an, aber die Luft war trocken, und Helen genoß sie wie eine Umarmung. Als sie in die Interstate einbogen und nach Süden in Richtung Helena fuhren, kurbelte sie das Fenster herunter. Sie brauchte jetzt unbedingt eine Zigarette, schämte sich aber, sich vor Dan eine anzustecken. Und so gab sie sich mit dem Geruch von sonnenwarmem Gras zufrieden, den der heiße Wind von den Prärien herüberwehte. Buzz saß blinzelnd und hechelnd auf dem Rücksitz und hielt neben ihr den Kopf aus dem Fenster.

»Siehst du, die Stadt Hope heißt nur deshalb Hoffnung, weil sie dich aufmuntern will«, sagte Dan.

»Was du nicht sagst«, erwiderte Helen.

»Tja, wir leben eben alle in Hoffnung.«

»Komisch, dass sie diese Orte nie Verzweiflung oder Elend genannt haben.«

»Mein Dad ist in Westpennsylvania in einem Flecken namens Panik aufgewachsen.«

»Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«

»Doch, ich schwör’s dir. Und einige Meilen weiter liegt ein Dorf, das heißt Sehnsucht.«

»Du meinst wie in ›Endstation Sehnsucht‹?«

Er lachte. Er musste immer über ihre dummen Witze lachen.

»Meine Mom hat oft gesagt, heirate nie einen Mann aus Panik, doch mein alter Herr hat stets behauptet, die Kirche, in der sie sich das Jawort gegeben haben, hätte näher am anderen Dorf gelegen, so dass sie ihren Mann eigentlich aus Sehnsucht geheiratet hat.«

»Sind sie noch zusammen?«

»Aber sicher. Ihre Liebe wächst von Jahr zu Jahr.«

»Das muss schön sein.«

»Tja, muss es wohl.«

»Und wie geht’s Mary?«

»Ihr geht’s gut. Wir haben uns vor zwei Jahren getrennt.«

»Oh, Dan, das tut mir leid.«

»Na ja, mir tut’s nicht leid, und ihr ganz bestimmt auch nicht. Und Ginny ist zum Glück drüber weg. Sie wird bald fünfzehn. Mary wohnt noch in Helena, das macht es einfacher, weißt du. So kann Ginny uns beide sehen.«

»Das ist gut.«

»Ja.«

Sie schwiegen einen Moment, und Helen wusste, was jetzt kam.

»Wie steht’s mit dir? Ich meine, hast du …«

»Keine falsche Scham, Prior. Du willst wissen, wie es um mein Liebesleben bestellt ist?«

»Nein. Doch.«

»Also, lass mich überlegen. Wir sind jetzt seit, warte mal, seit über zwei Jahren zusammen.«

»Wirklich? Ist ja großartig. Erzähl mir mehr von ihm.«

»Nun, er hat langes, sandfarbenes Haar, braune Augen und redet nicht allzuviel. Und er hat diese Angewohnheit, immer den Kopf aus dem Autofenster zu strecken und mit dem Schwanz um die Beine zu wedeln.«

Dan lächelte.

»Ach was, ich habe zwei Jahre auf Cape mit einem Typen zusammengelebt, aber er ist, na ja, er ist verreist. Ich schätze, ich hänge gerade in so einer Art Warteschleife.«

Sie schluckte und schaute aus dem Fenster. In der Ferne erschienen Berge am Horizont. Der gute Dan bemerkte, dass er sich auf gefährlichem Terrain bewegte, und wechselte das Thema. Er begann, sie über all das zu informieren, was geschehen war, seit der Wolf vor gut einem Monat in Hope aufgetaucht war, und brachte sie bald mit seinem Bericht über die Beerdigung, die Buck Calder für Prince, den Helden aller Labradorhunde, veranstaltet hatte, zum Lachen.

Calder hatte aus Great Falls einen Prediger kommen lassen, der die Trauerfeier für die Familie, für Freunde und natürlich für Presse und Fernsehen zelebriert hatte. Der Grabstein bestand aus mindestens fünfhundert Dollar teurem Marmor.

Doch statt Bill Rimmers Vorschlag als Grabspruch zu nehmen, der Helen gut gefiel, hatte man sich für einen etwas hochtrabenderen Text entschieden:

 

Hier ruht Prince,

Der den Wolf von der Schwelle vertrieb

Und sein Leben ließ für ein Kind.

Braver Hund!

 

Seither, so erzählte Dan, habe sich die Lage ein wenig entspannt. Hin und wieder erhalte er zwar noch einen Anruf von einem Journalisten, der wissen wollte, ob er den Wolf schon aufgespürt habe; doch dann spielte er den ganzen Vorfall herunter und sagte, man habe alles unter Kontrolle, prüfe ständig die Lage, und allein die Tatsache, dass man den Wolf nicht mehr gesehen habe, deute doch darauf hin, dass er ein Einzelgänger und längst schon über alle Berge sei – was Dan zwar gern geglaubt hätte, aber nicht glauben konnte. Erst vor zwei Tagen hatte ein Ranger vom Forest Service östlich von Hope Spuren entdeckt.

Im Büro stellte er Helen Donna vor, die sie herzlich willkommen hieß.

»Und das hier ist Fred«, sagte Dan und tätschelte den Glaskäfig. »Der einzige im Büro, der nicht arbeitet.«

Einige Minuten später ging Helen zur Toilette und traf dort Donna, die in Ruhe eine Zigarette rauchte, so dass Helen sich erleichtert auch gleich eine ansteckte. Es sei eine der weniger bekannten Tatsachen des Lebens, vertraute ihr Donna an, dass nur die besten Frauen rauchten – und nur die schlechtesten Männer.

Dan ließ Sandwiches holen und verzog sich mit Helen in sein Zimmer, wo sie die nächsten Stunden damit verbrachten, anhand von Karten, Diagrammen und Fotografien auszuarbeiten, wie Helen vorgehen sollte, wenn sie in Hope eintraf.

Sie hätten das Hinterland von Hope jetzt dreimal überflogen, sagte Dan, und nicht mal die Andeutung eines Funksignals empfangen. Was immer sich auch dort herumtrieb, trug jedenfalls kein Halsband, also war es Helens Aufgabe, die Tiere zu fangen, ihnen ein Halsband zu verpassen und sie dann zu beobachten, um mehr über sie herauszufinden. Bill Rimmer würde in den nächsten Tagen aus dem Urlaub zurückkommen; er hatte sich bereit erklärt, ihr beim Aufstellen der Fallen zu helfen.

Handelte es sich um ein ganzes Rudel, sollte Helen Größe und Revierumfang feststellen, bevorzugte Beute, das übliche eben, sagte Dan. Darüber hinaus sei es natürlich äußerst wichtig, ein freundschaftliches Verhältnis zu den ortsansässigen Ranchern aufzubauen.

Zum Schluss setzte Dan sich auf und erklärte ihr mit gespielt strenger Stimme die Bedingungen ihres Anstellungsvertrags. Ihm sei es nur erlaubt, so erklärte er, sie »auf Zeit« einzustellen, und das hieße, er dürfe sie lediglich für hundertachtzig Tage engagieren, könne den Vertrag dann aber verlängern. Sie würde tausend Dollar im Monat verdienen, keine Extras.

»Also keine Krankenversicherung, keine Unfall- oder Rentenversicherung, kein Anrecht auf Übernahme. Im Grunde bedeutet ein Zeitarbeitsvertrag, dass du im Bundessystem überhaupt nicht existierst. Du bist unsichtbar. Wir haben hier Zeitleute, die schon seit Jahren für uns tätig sind.«

»Wird man mir dann auch ein scharlachrotes Z auf die Stirn malen?«

»Das bleibt ganz Ihnen selbst überlassen, Miss Ross.«

»Bekomme ich einen Wagen, oder soll ich mit dem Fahrrad fahren?«

Er lachte. »Ich zeig ihn dir. Willst du hin?«

»Nach Hope?«

»Klar. Nicht ganz bis zur Hütte, die können wir uns morgen ansehen. Aber ich dachte, du möchtest vielleicht einen Blick auf die Stadt werfen, und danach könnten wir zusammen etwas essen. Falls du nicht zu müde bist.«

»Klingt gut.«

Als sie zum Parkplatz gingen, sagte Dan, sie könne sich für die Nacht ein Hotelzimmer nehmen oder aber bei ihm übernachten. Ginny sei bei ihrer Großmutter, erzählte er, Helen könne also ihr Zimmer haben.

»Wirklich? Das ist ja großartig. Vielen Dank.«

»Und auf diesen Anblick hast du dich schon die ganze Zeit gefreut.«

Er blieb vor dem alten Abschleppwagen stehen. Im Sonnenlicht sah er gar nicht so übel aus. Er hatte den Toyota gewaschen und festgestellt, dass die Farbe unter dem Dreck fast wie Rost aussah, was er ganz praktisch fand. Sogar der Chrom glänzte ein wenig. Dan gab der Motorhaube einen liebevollen Klaps, und der Seitenspiegel fiel herunter. Helen lachte.

»Ist der für mich?«

Dan bückte sich, hob den Spiegel auf und gab ihn ihr.

»Bis auf die letzte Schraube. Er gehört dir, das muss er sogar, denn alle Bundesfahrzeuge müssen ein US-Fabrikat sein, und mir steht sonst keins mehr zur Verfügung. Ich kann dir nur Kilometergeld erstatten. Einunddreißig Cents pro Kilometer.«

»Wahnsinn, Prior, du weißt, wie man eine Frau verwöhnt.«

Sie fuhr. Dieses Gefährt zu steuern glich einem Tanz auf Rollschuhen, man musste jede Kurve rechtzeitig im Voraus berechnen, wollte man sie heil überstehen. Doch Helen hatte bald den Trick heraus, ließ sich von Dan aus der Stadt lotsen und fuhr in Richtung Berge.

Sie hatten den ganzen Nachmittag miteinander geredet, und so tat es gut, eine Weile zu schweigen. Es wurde kühler, und der Wind ließ nach. Zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich, so weit das Auge reichte, blassgoldene Stoppelfelder, übersät mit Heuballen, die sie an riesige runde Karamellbonbons erinnerten.

Himmel und Erde schienen Helen grenzenlos zu sein, weite Flächen in kühnem Pinselstrich. Die Straßen verliefen schnurgerade auf von fern sichtbare Ranchhäuser zu. Sie war aufgeregt und unsicher zugleich und hatte irgendwie das Gefühl, hier fehl am Platz zu sein. Sie dachte an Joel, wie sie es immer noch dutzendmal am Tag tat, und fragte sich, ob er in seiner neuen Welt Fuß gefasst hatte oder ob er sich so fühlte wie sie, ohne Halt; ein Beobachter, der dazugehören wollte, aber es irgendwie nicht schaffte.

Als die Berge näher kamen, wurde das Land vor ihnen zu einer öden Fläche, durchsetzt mit Felsen und unregelmäßig durchzogen von Bachläufen, in denen Büsche wuchsen. Und als sie über eine Hügelkuppe fuhren, sah Helen im Süden eine Reihe Pyramidenpappeln, durch deren Laub sie das Glitzern von Wasser zu erkennen glaubte.

»Das ist der Hope River«, sagte Dan.

Plötzlich ertönte hinter ihnen eine Hupe, so dass sie beide erschreckt zusammenfuhren. Während sie auf den Fluss schaute, hatte Helen das Lenken vergessen und sah jetzt im Spiegel unmittelbar hinter sich einen schwarzen Laster. Sie riss das Steuer so hart nach rechts, dass der Wagen einen Satz machte und kurz über den Seitenstreifen schlitterte. Rasch gewann sie die Kontrolle wieder und kniff die Augen zusammen, sah aber nicht zu Dan hinüber.

»Ein dummer Spruch über Frauen und Autofahren, und du bist tot.«

»Ich habe noch keine Frau besser fahren sehen.«

»Du bist tot.«

Der schwarze Laster setzte zum Überholen an. Als er auf gleicher Höhe war, drehte sich Helen zum Fenster und schenkte den beiden undurchdringlichen Cowboygesichtern zur Entschuldigung ihr schönstes Lächeln. Die beiden Kerle mochten Anfang zwanzig sein, hatten aber etwas an sich, das sie viel älter erscheinen ließ. Dan winkte ihnen freundlich zu.

Der Typ auf dem Beifahrersitz tippte mit der Hand an seinen Hutrand und schien fast zu lächeln, während der Fahrer nur den Kopf schüttelte und weiterfuhr; der Hund, der windzerzaust auf dem Rücksitz hockte, schien seine Verachtung zu teilen. Kaum waren sie vorbei, drehte sich der Mann auf dem Beifahrersitz um und warf ihnen durch die Gewehrhalterung vor dem Rückfenster der Fahrerkabine einen Blick zu.

»Kennst du die?«

Dan nickte. »Das sind die Jungs von Abe Harding. Sie haben eine kleine Ranch oben bei den Calders. Ihr werdet Nachbarn sein.«

Helen schaute ihn an und sah, wie er grinste.

»Meinst du das ernst?«

»Ich fürchte, ja.«

»O je, das fängt ja gut an.«

»Keine Angst, deine Fahrkünste sind nicht das Problem. Siehst du den Aufkleber?«

Sie musste sich vorbeugen und die Augen zusammenkneifen, da der Laster schon weit vor ihnen fuhr; aber der rot durchkreuzte Wolfskopf war noch zu erkennen, und darunter standen die Worte: »Keine Wölfe. Niemals. Nirgendwo.«

»Na, prima.«

»Ach was, sie werden dir bestimmt bald aus der Hand fressen.«

Die Straße folgte den Windungen des Flusses, bis Helen nach etwa vier Meilen eine weiße Kirche auf einem niedrigen Hügel entdeckte, und gleich darauf ragten auch schon andere Gebäude über den Bäumen auf. Eine enge, von einem Geländer geschützte Brücke führte über den Fluss. Daneben stand ein Schild mit der Aufschrift »Hope (519 Einwohner)«, und hinter diese Worte hatte ein unbekannter Spaßvogel drei saubere Löcher durch das Schild geschossen. So blieben die Stadt und ihre Bevölkerung gleichsam in einem immerwährenden Schwebezustand.

»Übrigens, der Ort hat so seine Geschichte.«

»Und wann bekomme ich die zu hören?«

Hinter der Brücke zeigte er nach vorn.

»Nimm da hinten die Abzweigung.«

Sie bog von der Straße ab und hielt auf einem kleinen, kiesbestreuten Parkplatz am Fluss. Es standen schon einige Autos dort, also stellte Helen ihren Wagen daneben ab.

»Komm«, sagte Dan, »ich will dir was zeigen.«

Sie ließen Buzz im Wagen und gingen in einen kleinen, sich am Flussufer entlangziehenden Park. Es war ein hübscher Flecken mit Rasenflächen, deren Grün von Sprinkleranlagen frischgehalten wurde. In ihrem Sprühregen spannten sich Regenbogen, während Sonnenstrahlen durch die Schatten einiger hoher Weiden fielen. Es gab Schaukeln und ein Klettergerüst, doch die Kinder spielten offenbar lieber Fangen unter den Rasensprengern. Ihre Mütter, die an einem der halben Dutzend hölzernen Picknicktische saßen, ermahnten sie nur halbherzig, damit aufzuhören.

Unten am Ufer war zwischen zwei Pyramidenpappeln die Silhouette eines alten Mannes zu erkennen, der mit roten Hosenträgern und einer staubigen, blauen Schirmmütze am Wasser stand und einer Familie von Schwänen Brotkrusten zuwarf. Helen konnte sehen, wie ihre Füße im Wasser paddelten, damit sie von der Strömung nicht abgetrieben wurden.

Dan bog in den Pfad ein, der sich vom Parkplatz zur weißen Holzkirche am anderen Ende des Parks emporwand. Er hielt den Blick gesenkt. Dann blieb er stehen und wies auf den Boden.

»Komm her.«

Helen blieb neben ihm stehen. Sie verstand nicht, was er ihr zeigen wollte.

»Was ist?«

Er bückte sich, hob etwas Kleines, Weißes auf und gab es ihr. Sie sah es sich aufmerksam an.

»Scheint ein Stück Muschel oder so was zu sein.«

Er schüttelte den Kopf und zeigte wieder auf den Boden.

»Siehst du? Da ist noch mehr.«

Überall am Wegrand lagen diese weißen Splitter wie Schneereste, abgeschliffen und von zahllosen Joggingschuhen und Fahrradreifen zu immer feineren Partikeln zerrieben.

»Manchmal findet man größere Stücke«, sagte er. »Der Boden muss voll davon sein. Wahrscheinlich wächst hier deshalb der Rasen so gut.«

»Und was ist das?«

»Es stammt von einer alten Straße, die früher hier durchführte.«

Helen runzelte die Stirn.

»Es sind Wolfsknochen. Die Straße war mit Wolfsschädeln gepflastert.«

Sie starrte ihn an und dachte, er wolle sie auf den Arm nehmen.

»Es stimmt. Tausende und Abertausende von Schädeln.«

Und während weiter unten im Park die Kinder unter den Rasensprengern spielten und ihr Lachen in der linden Abendluft leise zu ihnen herüberklang, als wäre die Welt schon immer so gewesen, setzte sich Dan an einen der Tische unter den Weiden und erzählte ihr, wieso es einmal einen Weg der Schädel gegeben hatte.