Die beiden Wochen nach Abe Hardings Verhaftung waren nicht nur die schlimmsten in Dan Priors gesamter Laufbahn, sondern auch die mit Abstand verrücktesten. Wie aus Rache für den Abschuss des Alpha-Rüden in Hope, richteten Wolfsrudel in der gesamten Region enormen Schaden an.
Ein Schafzüchter nördlich von Yellowstone verlor in einer einzigen Nacht einunddreißig Lämmer durch Wölfe, die aus dem Park abgewandert waren. Sie hatten kaum gefressen, die Tiere nur getötet und dann liegengelassen. Ein anderes Rudel riss östlich von Glacier zwei Vollblutfohlen. Und ein Streuner aus einem Rudel in Idaho schlug am Salmon River drei Kälber und verletzte ein viertes so schwer, dass man es erschießen musste.
Bill Rimmer saß nur noch im Helikopter. In zehn Tagen hatte er neun Wölfe abgeschossen und fünfzehn weitere, vor allem Welpen, betäubt, um sie in eine andere Gegend umzusiedeln, in der sie hoffentlich keinen Ärger mehr machten. Dan war derjenige, der jedes Mal die Abschusserlaubnis unterschreiben musste, und er tat es stets mit dem Gefühl, versagt zu haben. Schließlich sollte er die Wiederansiedlung und nicht die Tötung von Wölfen leiten, doch ihm blieb kaum eine Wahl. Die Bereitschaft, die »finale Lösung« anzuwenden, war ein fester Bestandteil in jenem Plan, der die Wiederansiedlung von Wölfen überhaupt erst möglich gemacht hatte. Und aufgrund der Ereignisse in Hope beobachteten die Medien jeden seiner Schritte.
Beinahe stündlich riefen ihn Journalisten an. Daheim ließ er grundsätzlich den Anrufbeantworter eingeschaltet, nur an jenen Abenden nicht, an denen Ginny zu Besuch war. Sie hob dann für ihn ab und tat, als sei sie Inhaberin einer chinesischen Imbissbude oder Insassin eines Heims für kriminelle Geisteskranke, was der Wahrheit ziemlich nahe kam. Im Büro übernahm Donna die meisten Pressegespräche und stellte nur jene Journalisten zu Dan durch, die er kannte oder die vielleicht wichtig waren.
Nicht nur das Interesse der örtlichen Medien an den Wölfen war plötzlich wiedererwacht, sondern es meldete sich auch die nationale und sogar die internationale Presse. So rief etwa ein deutscher Fernsehjournalist an, der ständig etwas über Nietzsche schwafelte und alle möglichen, hochphilosophischen Fragen stellte, die Dan nicht verstehen, geschweige denn beantworten konnte. Noch absurder hingegen erschien ihm der Typ vom Time-Magazin, der sagte, er wolle eine Titelgeschichte über Abe Harding bringen.
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Dan.
»Nein, natürlich nicht.« Der Journalist klang beleidigt. »Verkörpert er nicht gewissermaßen die alten Wertvorstellungen des Wilden Westens? Halten Sie ihn nicht für … wie soll ich sagen, … einen der letzten Pioniere?«
»Kann ich mit Ihnen ganz im Vertrauen reden?«
»Klar. Schießen Sie los.«
»Nun, ich halte ihn für ein Arschloch, nur leider nicht fürs letzte.«
Der Gedanke an ein Titelbild des Time-Magazins mit der Überschrift »Abe Harding, letzter Pionier« ließ Dan noch tagelang kichern und den Kopf schütteln. Gott sei Dank, bislang war nichts dergleichen erschienen, vermutlich deshalb, weil ein solcher Artikel ein Minimum an Zusammenarbeit mit Abe vorausgesetzt hätte, und für ihn waren Journalisten nur unwesentlich besser als Wölfe.
Nachdem er eine Nacht im Gefängnis verbracht hatte, war gegen Abe Anklage wegen Tötung eines Tiers einer gefährdeten Spezies, nämlich eines Wolfs, sowie Transport und Inbesitznahme des Kadavers erhoben worden. Eine weitere Anklage wegen eines tätlichen Angriffs auf einen Polizeibeamten wurde fallengelassen. Dann setzte ihn ein Bundesrichter ohne Kaution auf freien Fuß.
Schumacher und Lipsky, die beiden Beamten von Fish & Wildlife, die auch der Versammlung beigewohnt hatten, begaben sich mit einem Durchsuchungsbefehl zur Ranch der Hardings und wurden dabei auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin, von Hopes sich zunehmend unkooperativer zeigendem Hilfssheriff begleitet. Craig Rawlinson machte nichts als Ärger, weil er sich auf die Seite der aggressiven und reichlich unverschämten Söhne Abe Hardings stellte. Die beiden Männer bewahrten jedoch Geduld, bis sie die geladene Ruger M-77 fanden, mit der Abe, wie er zugab, den Wolf getötet hatte. Das Gewehr wurde ordnungsgemäß konfisziert.
Der Wolfskadaver lag eine Nacht in der Gefriertruhe in Dans Garage und wurde am nächsten Tag zu Fish & Wildlifes forensischem Labor in Ashland, Oregon, geschickt, wo eine Untersuchung ergab, dass Herz und Lunge vollständig herausgerissen worden waren. Außerdem fanden sich winzige Splitter eines Sieben-Millimeter-Magnumgeschosses, das aber nahezu vollständig durch den hinteren Teil des Tieres wieder ausgetreten war und nie gefunden wurde.
Die Wissenschaftler in Ashland führten auch eine DNA-Analyse durch, die ergab, dass der Wolf in keinerlei Beziehung zu den in Yellowstone oder Idaho freigelassenen Wölfen stand. Sie fanden einen Ohrclip, der ihnen verriet, dass der Wolf aus einem entlegenen, über zweihundert Meilen weit entfernten Teil von British Columbia stammte. Außerdem stellten sie fest, dass ihm eine Zehe am rechten Vorderlauf fehlte, wo er auch eine Narbe hatte, die vermuten ließ, dass er schon einmal in eine Falle geraten war, aus der er sich aber wieder befreien konnte. Wahrscheinlich, so überlegte einer der Wissenschaftler, war dadurch seine Fähigkeit, Hirsche oder Elche zu jagen, beeinträchtigt worden, weshalb er nun Kühe, also leichtere Beute, riss.
Abe behauptete anfangs, er hätte auf den Wolf geschossen, als der ein Kalb auf einer nur hundert Meter vom Haus entfernten Weide angegriffen habe. Später gab er dann zu, dass der Angriff noch nicht erfolgt war, aber seiner Ansicht nach drohte. Er sagte, dass er am liebsten auch den zweiten Wolf erlegt hätte, der noch dabei war. Dann beharrte er darauf, unschuldig zu sein, und verkündete, dass er bis vors Bundesgericht gehen werde, um seine Unschuld zu beweisen. Einen Verteidiger lehnte er mit der Begründung ab, dass Anwälte nichts anderes seien als Wölfe in Anzügen.
Auch ohne die zu erwartende Hilfestellung durch das Time-Magazin taten die Harding-Söhne inzwischen alles nur Erdenkliche, um ihren Daddy zum Volkshelden zu machen.
Sie ließen zweihundert T-Shirts bedrucken, auf der Vorderseite mit Abes kummervollem Gesicht und hinten mit der Aufschrift »WUMM (Wölfe Umlegen Macht Mordslaune)-Team«. Sie wurden für fünfzehn Dollar das Stück im Last Resort angeboten und waren in zwei Tagen alle verkauft. Eine zweite Lieferung von fünfhundert Stück war auch schon fast weg. Die Tassen – »Abe Harding, der Held von Hope« – gingen allerdings etwas schlechter. Bill Rimmer hatte für Dan jeweils ein Exemplar erstanden. Das T-Shirt zog er nicht an, dafür trank er jeden Morgen seinen Kaffee aus der Abe Harding-Tasse.
Im Gegensatz zu ihren Brüdern in den anderen Staaten übten sich Hopes Wölfe in Zurückhaltung, und dafür war Dan ihnen dankbar. Er würde sich jedenfalls nicht von Buck Calder zu einer vorschnellen Aktion verleiten lassen, solange keine Beweise dafür vorlagen, dass die Wölfe tatsächlich seine Kälber gerissen hatten. Wie es aussah, hatte er auch so schon Ärger genug.
Für jeden Anruf von einem wütenden Rancher, der ihm vorwarf, zu nachgiebig zu sein, bekam er einen Anruf von einem militanten Tierschützer, der ihn wegen der Abschussgenehmigungen für die neun Wölfe einen Mörder nannte. Vier voneinander unabhängige Prozesse waren angestrengt worden, zwei von Viehhändlervereinigungen, die ein Ende des Wiederansiedlungsprogramms forderten, weil es gegen die Verfassung verstoße, und zwei von Umweltgruppen, die eine gerichtliche Verfügung gegen jeden weiteren Abschuss von Wölfen verlangten.
Am Tag nach der Versammlung hatte die »Organisation der Wölfe« ein Team von Aktivisten nach Hope geschickt, um eine Befragung aller Haushalte durchzuführen. Dan erhielt zahlreiche Anrufe aufgebrachter Bürger. Ein Rancher sagte, wenn diese Leute noch einmal an seine Tür klopften, würde er sie erschießen. Er nannte sie »einen Haufen langhaariger, kommunistischer Terroristen«, und als Dan sich mit den Aktivisten traf, fand er, dass der Mann gar nicht so unrecht hatte. Er deutete dem regionalen Koordinator der Umweltgruppe vorsichtig an, dass das Wehgeschrei in Hope schon laut genug sei und die Wölfe vermutlich eine bessere Überlebenschance hätten, wenn man sich zurückhielte.
Noch mehr Ärger in Hope konnte Dan im Moment auf keinen Fall gebrauchen. Und insgeheim dachte er, dass Abe ihnen wahrscheinlich einen Gefallen getan hatte, als er diesen potentiellen Störenfried erschoss. Damit war die Wut der Rancher über die verlorenen Kälber ein wenig besänftigt, und Helen hatte Zeit gewonnen. Mit etwas Glück konnte sie hoffentlich auch dem Rest des Rudels bald Halsbänder umlegen und dadurch weitere Schwierigkeiten vermeiden.
Er hatte sie seit dem Abend der Versammlung nicht mehr gesehen und machte sich deshalb ein wenig Sorgen. Drei Tage lang hatte sie weder angerufen noch auf seine Nachrichten reagiert, so dass er schon zu ihr hinauffahren wollte, als sie anrief, um ihm zu sagen, sie hätte Grippe gehabt, sei jetzt aber wieder auf dem Damm. Sie klang ein wenig bedrückt, doch führte er das auf ihre angeschlagene Gesundheit zurück. Luke, Calders Sohn, habe sich um sie gekümmert, erzählte sie, und sei wirklich ganz reizend zu ihr gewesen.
Dan spürte, wie er unwillkürlich eifersüchtig wurde. Außerdem behagte ihm der Gedanke nicht, dass ausgerechnet Luke ihr beim Fallenstellen und Aufspüren der Wölfe half. Nachdem Helen auf der Versammlung derart angefeindet und ihr Briefkasten zertrümmert worden war, fand er es zwar beruhigend, dass sie da oben Gesellschaft hatte, aber dass ihr Helfer ausgerechnet Buck Calders Sohn sein musste, schien ihm irgendwie riskant. Er hatte mit Helen allerdings schon darüber gesprochen, als sie seinen Namen das erste Mal erwähnte.
»Sieht das nicht so aus, als wollten wir mit dem Feind anbandeln?«
»Bitte, ich bandle mit niemandem an, kapiert?«
»Ich hab es doch nicht so gemeint, Helen …«
»Er hilft mir, und dafür solltest du eigentlich dankbar sein.«
»Aber wenn er Calder sagt, wo die Fallen sind oder …«
»Ach, hör schon auf, Dan. Das ist doch lächerlich.« Es entstand eine unangenehme Pause. Seit ihrer Krankheit war sie irgendwie anders, schien entweder überempfindlich oder wirkte abwesend, wenn sie sich unterhielten.
»Tut mir leid«, sagte er. »Vielleicht ist die Idee gar nicht so schlecht.«
Sie gab keine Antwort. Er stellte sie sich vor, wie sie da oben saß, ganz allein, von Wald und Dunkelheit umgeben. »Alles in Ordnung mit dir, Helen?«
»Natürlich«, fauchte sie zurück. »Warum?«
»Nur so. Du klingst einfach nicht besonders glücklich.«
»Ist das neuerdings Pflicht? Gehört das zu meinem Job? Biologen mit Zeitvertrag beim Staat haben ständig glücklich zu sein, ja?«
»Genauso ist es.«
Er bildete sich ein, ein kurzes, trockenes Lachen zu hören. Wieder schwiegen sie, dann sagte Helen, diesmal sanfter: »Tut mir leid, Dan. Ich glaube, mir fehlen im Augenblick ein paar Engel.«
»Ich mach mir Sorgen um dich.«
»Ich weiß. Das ist lieb von dir.«
»Also gut. Hör zu, ich hab ein Schneemobil für dich aufgetrieben.«
»Im selben Laden, aus dem mein Pick-up stammt?«
»Nein. Das ist ein neues Gefährt, na ja, fast neu jedenfalls. Und du wirst es bald brauchen. Ich dachte, ich könnte es dir vielleicht am Wochenende raufbringen.«
»Wenn du meinst.«
Dann sagte er ihr, sie solle auf sich aufpassen. Nachdem er aufgelegt hatte, saß er noch eine Weile da und dachte über sie nach, während Abe Harding, der Held von Hope, ihn finster von seiner Kaffeetasse aus anblickte.
Er würde sie noch einmal zum Essen einladen, in ein nettes Restaurant diesmal. Seit ihrem Abend in Nelly’s Diner war er mit keiner Frau mehr aus gewesen. Er hatte all seinen Mut zusammengenommen und noch einmal Sally Peters eingeladen, musste aber wieder absagen. Als er am nächsten Tag anrief, um sich zu entschuldigen, erklärte sie ihm, er sei wirklich ein armseliger Mensch, und es wäre an der Zeit, dass er sich ein Privatleben zulege.
Dan musste zugeben, dass sie mit dieser Bemerkung gar nicht so unrecht hatte.
Kathy stieg aus dem Wagen, nahm Buck junior aus dem Kindersitz und hievte ihn sich auf die Hüfte. Ein paar Häuser weiter wurde Ned Wainwright, Hopes ältester Einwohner, von einem dieser aufdringlichen Fernsehteams interviewt. Seit zwei Wochen wimmelte es in der Stadt von Journalisten, und die Leute, Kathy eingeschlossen, waren sie allmählich leid.
Als sie über den Bürgersteig zum Paragon lief, hörte sie, wie Ned sich darüber ausließ, warum die Bundesregierung auf Seiten der Wölfe stand.
»Ist doch ganz klar. Durch die Wölfe wollen sie Hirsche und Elche ausrotten, damit uns nichts mehr für die Jagd bleibt. Dann sagen sie, wenn es nichts mehr zu jagen gibt, braucht ihr auch keine Gewehre mehr, also verbieten sie sämtliche Schusswaffen. Denn darum geht’s denen doch. Sie wollen uns die Gewehre wegnehmen.«
Kathy hatte in ihrem Leben noch nie etwas so Dummes gehört, aber der Typ vom Fernsehen nickte, als sei ihm das Evangelium verkündet worden. Im Vorbeigehen lächelte ihr einer vom Team zu. »Habt ihr nichts Besseres zu tun?«, fragte sie ihn, ohne sein Lächeln zu erwidern, doch ehe er antworten konnte, verschwand sie im Andenkenladen.
Ihre Mom hatte ihr von all den phantastischen neuen Sachen vorgeschwärmt, die Ruth für die Vorweihnachtszeit bestellt hatte, so dass Kathy allein schon aus Loyalität möglichst viele Geschenke in ihrem Laden kaufen wollte. Dafür war es zwar noch ein bisschen früh, aber sie erledigte solche Dinge gern zeitig. Sie hatte sich für den heutigen Vormittag entschieden, weil ihre Mom nach Helena zum Einkaufen gefahren war.
Ruth begrüßte sie fröhlich und bestand darauf, das Baby zu halten, solange Kathy sich umsah.
»Machen diese Fernsehfritzen Sie nicht verrückt?«, fragte Kathy.
»Ganz und gar nicht. Die kaufen. Alles, was irgendwie mit Wölfen zu tun hat.«
»Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Dann haben sie ja wenigstens auch ihr Gutes.«
In Windeseile hatte sie gefunden, was sie wollte. Für Clyde kaufte sie eine modische Lederweste, eine Holzkiste mit Messingbeschlägen für ihren Daddy, damit er seine Zigarren darin aufbewahren konnte, und einige hübsche Silberketten für ihre Mom und Lane. Bob, Lanes Mann, würde sie ein Buch über Indianerkunst schenken und Luke ein Hutband aus geflochtenem Pferdehaar.
Ruth wollte ihr Rabatt geben, aber davon wollte Kathy nichts wissen. Einen Kaffee aber ließ sie sich gern spendieren, und so setzte sie sich an den Tresen, Buck junior auf dem Schoß, während Ruth den Kaffee machte.
»Übrigens hat Ihre Mom das ganze Wolfszeug hier besorgt. Es war ihre Idee.«
»Tatsächlich?«
»Ja, sie ist wirklich clever.«
»Das ist sie. War sie schon immer.«
»Ich kann sie verdammt gut leiden.«
Sie redeten eine Weile über Kathys Mom und kamen beim Kaffee dann auf Ruths Eltern zu sprechen. Ihr Vater, sagte sie, sei schon lange tot. Ihre Mutter habe wieder geheiratet und führe jetzt ein ziemlich hektisches gesellschaftliches Leben in New Jersey.
»Sie ist das genaue Gegenteil von Eleanor«, sagte Ruth. »Ihre Mom wirkt immer so ruhig und beherrscht. Meine ist wie ein Wirbelwind. Ich weiß noch, wie sie einmal, nach einem schrecklichen Streit, nach oben gestürmt ist und sich ins Bad eingeschlossen hat. Damals musste ich sie überreden, wieder herauszukommen. Wie alt war ich da wohl? Fünfzehn? Und als ich so auf sie einredete, dachte ich plötzlich, Moment mal, wer ist hier eigentlich der Teenager?«
Als es Zeit wurde zu gehen, streckte Buck junior seine Ärmchen zu Ruth aus. Sie nahm ihn noch einmal auf den Arm. Er schien ganz begeistert von ihr und wollte ihr Haar gar nicht mehr loslassen.
»Er liebt Frauen«, sagte Kathy.
Ruth lachte. »Sieht ganz so aus.«
»Finden Sie nicht, dass er wie sein Opa ist?«
»Sie meinen …«
»Dem Aussehen nach.«
»Oh!« Ruth lachte. Dann runzelte sie die Stirn und betrachtete ihn genauer.
»Wissen Sie was? Ich glaube, er hat mehr Ähnlichkeit mit Ihrer Mutter.«
Buck Calder setzte sich hinten in der Auktionshalle ans Ende der langen Holzbank und ließ den Blick über die Reihen weißer Hüte zur Arena hinunterschweifen, in der gerade eine Herde junger Black-Angus-Kühe zu einem absurd hohen Preis verkauft worden war und sich nicht vom Platz treiben lassen wollte.
Es waren große, plumpe Tiere, und Buck begriff nicht, warum irgend jemand mit einem Funken Verstand sie kaufen konnte. Es gab zwar das eine oder andere im Leben, wo Größe zählte, aber bei Kühen war das nicht so. Den höheren Preis zahlte man doch bloß für Knochen. Erstaunlich, aber einige Leute schienen das einfach nicht zu kapieren. Wenn ein Tier nur groß und schwarz war (neuerdings die Modefarbe für Kühe, wie für alles andere auch), glaubten sie automatisch, es wäre etwas Gutes.
Der junge Rancher neben ihm, der sich für die Auktion feingemacht hatte, grinste. Buck nahm an, dass er das gleiche dachte.
»Dem Herrn sei Dank für diese Dummköpfe«, sagte Buck und sah, wie das Grinsen verschwand.
»Wie?«
»Zahlen gutes Geld für solche Knochenhaufen.«
»Die hab ich selbst aufgezogen.«
»Ah!«
Er überlegte noch, wie er sich aus der Affäre ziehen konnte, als der Mann bereits aufstand und sich an ihm vorbeidrängte, um zu gehen. Ach, was soll’s, dachte Buck und sah wieder zur Arena hinunter.
Die Arena war ein Sandplatz, etwa sieben Meter im Durchmesser und umgeben von einem hohen, weißen Geländer. Im Moment liefen zwei junge Cowboys auf dem Platz herum und versuchten, die störrischen Kühe, die sich nicht von der Stelle rührten, hinauszutreiben. Die Cowboys hielten lange weiße Stöcke mit orangefarbenen Fähnchen in Händen und hieben und stießen damit nach den Jungkühen. Doch die einzige Bewegung, die sie damit auslösten, fand in den Därmen der Tiere statt. Einer der Cowboys rutschte auf dem Ergebnis seiner Bemühungen aus, und das Publikum brüllte vor Lachen.
In der kleinen Kabine im Hintergrund des Platzes beugte sich der Auktionator, ein wendiger junger Mann mit Schnauzbart und scharlachrotem Hemd, zum Mikrofon.
»Hey, Leute, da sag noch einer, dass wir euch keine gute Show bieten.«
Buck kam nur drei- oder viermal im Jahr nach Billings zur Auktion, hatte aber immer großen Spaß. Es war ein langer Weg, dreieinhalb Stunden Fahrt, und die Preise waren auch nicht günstiger als anderswo, aber es tat gut, mal wieder fortzukommen, sich auf dem Markt umzusehen und die Kontakte in dieser Gegend zu pflegen. Der Kontakt, den er am liebsten pflegte, war der zu Lorna Drewitt, Lukes ehemaliger Sprachtherapeutin.
Meist aßen sie zusammen zu Mittag und nahmen sich dann für ein paar Stunden ein Motelzimmer. Das hatten sie auch heute vor. Buck warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon kurz nach zwölf, aber die beiden Jungbullen, die er heute Morgen im Trailer hergebracht hatte, kamen als nächstes dran. Im Frühjahr waren sie für Calders jährlichen Bullenverkauf noch nicht so recht in Form gewesen.
Endlich hatten die Kühe den Weg nach draußen gefunden, und wie auf ein Stichwort zeigte sich der erste seiner beiden Bullen. Er stürmte so schnell auf den Platz, dass der arme, kuhfladenbeschmierte Cowboy hinter einen der Wellblechschirme hechten musste, die man zu diesem Zweck aufgestellt hatte. Donnernd krachte der Schädel des Bullen gegen das Metall. Fehlte nur noch, dass er Dampf aus seinen Nüstern blies. Buck hätte am liebsten laut Olé! gerufen!
Vierzig Minuten später lenkte er stolz seinen leeren Trailer zurück auf den Highway. Das Motel, in dem er sich mit Lorna Drewitt treffen wollte, lag direkt an der Interstate 90, und er brauchte bis dahin knapp fünf Minuten. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie einem Bekannten auffallen sollten, stellte er Truck und Trailer so ab, dass sie auf den ersten Blick nicht zu sehen waren, und ging dann ins Motel.
Lorna wartete bereits in der Lobby auf ihn und las eine Ausgabe der Billings Gazette. Vor sechs Jahren war sie hergezogen, damals, nach diesem unglückseligen Tag, an dem Luke sie im Büro überrascht hatte. Allerdings war der Junge noch zu jung und naiv gewesen, um zu ahnen, was sich da abgespielt hatte. Jetzt war Lorna fast dreißig und sah so sexy aus wie noch nie.
Sie entdeckte ihn, stand auf und legte lächelnd die Zeitung weg, während er auf sie zuging. Er umarmte sie, und sie warf den Kopf in den Nacken und ließ ihn ihren Hals küssen.
»Hm, du riechst gut«, sagte er.
»Und du stinkst nach Kühen.«
»Nach Bullen, mein Schatz. Nach reinrassigen Calder-Bullen.«
Das Restaurant im Motel war nicht übel. Sie bestellten sich Steaks und eine Flasche Napa-Valley-Merlot, berührten einander mit den Knien und streichelten sich unter dem Tisch, bis Buck es nicht länger aushielt. Ohne nach der Rechnung zu fragen, legte er einen Hundertdollarschein hin und ging mit Lorna aufs Zimmer, für das er zuvor schon den Schlüssel besorgt hatte.
Als sie hinterher auf dem Bett lagen, sagte Lorna, dass dies das letzte Mal war. Buck stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete sie stirnrunzelnd.
»Wieso?«
»Ich werde heiraten.«
»Was? Wann?«
»Nächsten Monat.«
»Herrgott noch mal. Diesen … wie heißt er gleich?«
»Du weißt genau, wie er heißt, Buck.«
Das stimmte. Er hieß Phil. Sie ging seit vier Jahren mit ihm.
»Nur weil du heiratest, muss sich doch zwischen uns nichts ändern, oder?«
»Verdammt, Buck, wofür hältst du mich eigentlich?«
Buck war überzeugt, dass es auf diese Frage eine Antwort gab, nur fiel sie ihm gerade nicht ein.
Sie zogen sich an und gaben sich in der einsetzenden Dämmerung auf dem Parkplatz zum Abschied einen Kuss.
»Ruf mich nicht mehr an, okay?«, sagte sie.
»Ach, Schätzchen, können wir nicht wenigstens hin und wieder telefonieren?«
»Nein, lieber nicht.«
Er fuhr über die Interstate zurück, und sein Selbstmitleid wuchs mit jedem Kilometer. Granitfarbene Regenwolken hingen tief über die Straße, und der Trailer bebte im kalten Nordwind.
In letzter Zeit schien alles schiefzulaufen.
Zuerst ließ Ruth Eleanor in ihr Geschäft einsteigen und wurde plötzlich ganz moralisch, und jetzt kam ihm Lorna auf die gleiche Tour. Dann gab es da diese Spinner, die immer noch wegen der Wolfssache anriefen. Und wenn er es recht bedachte, war eigentlich alles in Butter gewesen, bis diese verdammten Wölfe auftauchten.
Nun, es wurde Zeit, ernsthaft etwas gegen die Biester zu unternehmen.
Der erste Teil seines Plans war bereits umgesetzt: Luke arbeitete für Helen Ross. Buck hatte zwar aus dem Jungen noch nicht herausbekommen, wo sich die Viecher aufhielten, doch das war nur eine Frage der Zeit. Wenn er erst mal die nötige Information hatte, brauchte er nur noch jemanden, der etwas damit anfangen konnte.
Außer dem Verkauf der Bullen und seiner Lust auf ein Wiedersehen mit Lorna, war dies einer der Gründe für seine heutige Fahrt.
Es war ihm nämlich ein alter Trapper eingefallen, der vor langer Zeit oben am Hope River gelebt hatte. Einer von der Sorte, wie es sie heute nicht mehr gab. Bucks Vater hatte ihn eingestellt, wenn Wildtiere Probleme machten, meist Kojoten, aber manchmal auch Berglöwen oder ein Grizzly, der sich in der Gegend herumtrieb.
Buck wusste, dass der Sohn von dem Kerl im gleichen Geschäft war, doch sosehr er sich auch angestrengt hatte, ihm war der Name einfach nicht eingefallen.
Vor zwei Abenden hatte er dann im Last Resort den alten Ned Wainwright, der schon an die Neunzig war, beiläufig gefragt, ob er sich an den Namen erinnerte.
»Lovelace. Josh Lovelace. Gütiger Himmel, der ist bestimmt schon zwanzig, dreißig Jahre tot.«
»Aber hatte der nicht einen Sohn?«
»Stimmt, J. J.. Der ist rüber nach Big Timber gezogen. Da hat auch schon Josh gewohnt, als er zu alt war, um noch allein zurechtzukommen. Und da haben sie ihn auch begraben.«
»Wohnt der Sohn noch da?«
»Keine Ahnung.«
»Muss selbst ja auch schon ganz schön alt sein.«
»Was reden Sie da, Buck Calder? Der ist mindestens zwanzig Jahre jünger als ich. Gerade mal raus aus den Windeln.«
Der alte Mann lachte und begann zu husten. Buck spendierte ihm noch ein Bier und brachte ihn dann nach Hause.
Er fand den Namen J. J. Lovelace im Telefonbuch und rief einige Male an, ohne eine Antwort zu erhalten. Also steckte er sich die Adresse in die Tasche und beschloss, auf dem Rückweg von Billings vorbeizufahren und ihn aufzusuchen.
In düsterer Stimmung fuhr er einem düsteren Horizont entgegen, als er vor sich das Schild für die Ausfahrt nach Big Timber aufragen sah. Er blinkte und bog von der Interstate ab.
An einer Tankstelle hielt er an und fragte den Jungen an der Kasse nach dem Weg. Zehn Minuten später holperten Truck und Trailer über die Schlaglöcher eines kurvigen Sandwegs.
Es wurde dunkel und begann zu regnen. Nach etwa drei Meilen führte der Weg durch ein Wäldchen mit Pappeln, an deren letzten gelben Blättern der Wind zerrte. Gleich darauf sah er im Scheinwerferlicht einen rostigen grünen Briefkasten, auf dem »Lovelace« stand.
Die Auffahrt schien ihm für den Trailer zu gefährlich, also stellte er den Wagen ab, schlug den Kragen hoch und ging zu Fuß.
Der zerfurchte Weg stieg steil an und verlief gleich neben einem Bach, dessen Wasser Buck rauschen hören, aber nicht sehen konnte, da ihm der Blick durch ein dichtes Weidengestrüpp versperrt wurde. Nach etwa einer halben Meile sah er am Hang ein niedriges Holzhaus unter Bäumen. Es brannte Licht. Gleich neben dem Haus stand ein Trailer, in dem man auch wohnen konnte. Er war silberfarben und hatte abgerundete Ecken, was ihn irgendwie unheimlich aussehen ließ, fast wie ein außerirdisches Raumschiff.
Er hatte Hundegebell erwartet, doch die einzigen Geräusche, die er hörte, als er zum Haus hinaufging, kamen vom Wind und dem Regen, der auf seinen Hut trommelte.
Die Fenster waren ohne Vorhänge, und Buck stellte fest, dass das Licht von einer Glühbirne stammte, die über dem Küchentisch hing. Im Haus rührte sich nichts, und im Trailer auch nicht. Er trat an die Küchentür und klopfte. Während er darauf wartete, dass ihm aufgemacht wurde, drehte er sich um – und hätte fast einen Herzschlag bekommen.
Er starrte direkt in den Lauf einer zwölfkalibrigen Schrotflinte.
»Scheiße!«
Der Mann, der ihm gegenüberstand, trug einen langen, schwarzen Parka mit einer Kapuze, in deren Schatten ein knochiges, graubärtiges Gesicht und feindselig blickende schwarze Augen lagen.
»Mr. Lovelace?«
Der Mann gab keine Antwort, ließ Buck einfach warten.
»Hören Sie, es tut mir wirklich leid, dass ich hier so unangemeldet aufkreuze, aber ich hatte Angst, dass ich es mit dem Trailer nicht die Auffahrt hinaufschaffe.«
»Sie blockieren unten den Weg.«
»Tut mir leid. Ich geh gleich und fahr den Wagen weg.«
»Sie gehen nirgendwo hin.«
»Mr. Lovelace, ich heiße Buck Calder und komme aus Hope.«
Er überlegte, ob er ihm die Hand geben sollte, entschied sich aber dagegen. Der verrückte Mönch glaubte sonst noch, dass er sich sein Gewehr schnappen wollte.
»Ihr Vater, Joshua, hat für meinen Vater gearbeitet, als ich noch ein Kind war. Deshalb bin ich mir sicher, dass wir uns schon mal getroffen haben, aber das ist ganz schön lange her.«
»Sind Sie Henry Calders Sohn?«
»Ja, Sir, der bin ich.«
Das schien seine Wirkung nicht zu verfehlen. Lovelace, falls er es denn war, senkte den Lauf seines Gewehrs ein wenig. Er zielte jetzt auf Bucks Unterleib.
»Ihr Vater ist in unserer Gegend so was wie eine Legende«, sagte Buck.
»Was wollen Sie hier?«
»Tja, ich habe gehört, dass Sie das Gleiche machen wie früher Ihr Vater.«
Lovelace sagte nichts.
»Und, na ja …« Buck blickte auf das Gewehr. »Mr. Lovelace, würde es Ihnen was ausmachen, Ihre Schussrichtung ein wenig zu ändern?«
Lovelace schaute ihn einen Moment an, als überlege er, ob Buck den Preis für eine Patrone wert sei. Dann riss er den Lauf nach oben, legte mit einem Klicken den Sicherungshebel um und ging an Buck vorbei ins Haus. Er ließ die Tür hinter sich offen. Buck wartete einen Augenblick draußen und fragte sich, ob dies wohl als Einladung gemeint war.
Tja, war es wohl.
Lovelace legte das Gewehr auf den Tisch und nahm die Kapuze ab. Im Haus war es kalt, also behielt er den Mantel an. Seit Winnies Tod machte er sich nicht mehr die Mühe, den Ofen im Wohnzimmer zu heizen. Er lief durchs Haus zur Fallenkammer und hörte, dass Calder ihm folgte.
Die Fallenkammer war eigentlich nur eine Art Werkstatt mit einem Elektroofen, aber neuerdings verbrachte er dort die meiste Zeit. Er schlief sogar auf einer Matratze, die er aus dem Trailer herübergeschleppt hatte. Allerdings brauchte er nicht viel Schlaf. Meist lag er nur da und wartete auf die Dämmerung. Er wusste, dass es verrückt war und er sich daran gewöhnen sollte, auch ohne Winnie die Nacht im Schlafzimmer zu verbringen, aber das schaffte er einfach nicht.
Das Schlafzimmer, die Küche, das ganze Haus war ohne sie leer und doch von ihrer Anwesenheit erfüllt. Er hatte fast alle ihre Sachen weggeräumt, aber es half nichts, denn selbst die Lücken, die sie hinterließen, erinnerten ihn an sie. Da war es ihm lieber, in dieser Kammer zu bleiben, die schon immer sein Reich und nicht ihres gewesen war. Sie hatte sich sogar geweigert, es zu betreten, hatte gesagt, es rieche zu sehr nach Köder und toten Tieren, was es vermutlich auch tat, obwohl ihm selbst das nicht auffiel. Diesem Calder erging es da offenbar anders, obwohl er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
Lovelace setzte sich auf den Campingstuhl am Ofen, klemmte sich den Plastikeimer mit dem Rehkopf zwischen die Beine und machte sich wieder an die Arbeit. Er hatte ihn bereits halb gehäutet, als er hörte, wie Calders Truck unten auf dem Weg langsamer wurde und dann anhielt. Gar kein schlechtes Gehör, dachte er, für einen so alten Knacker wie mich. Bin ja schließlich auch schon neunundsechzig.
Während er sich weiter mit dem Rehkopf beschäftigte, erzählte Calder ihm die Geschichte von dem Wolf und dem Ärger, den sie damit in Hope hatten. Da es keinen zweiten Stuhl gab, lehnte er sich mit dem Rücken an die Werkbank, die an einer Seite des Raums stand. Sein Blick wanderte über die Wände und die Holzbalken des Dachs, an denen überall Fallen, Drähte, Schlingen und die Häute und Schädel von Tieren hingen.
Lovelace erinnerte sich an den Vater dieses Mannes, an Henry Calder. Sein eigener Vater hatte ihn immer »König Henry« genannt und sich darüber lustig gemacht, wie arrogant und hochnäsig er war. Lovelace konnte sich sogar daran erinnern, in einem Sommer Anfang der fünfziger Jahre bei den Calders geholfen zu haben, als es oben in den Bergen keine Büffelbeeren gab und die Grizzlys ins Tal kamen und um die Kühe schlichen. Mit seinem Vater hatte er drei ausgewachsene Tiere gefangen und vier oder fünf Jungtiere geschossen.
An diesen Mann hier, der da auf ihn einredete, konnte er sich allerdings nicht erinnern, aber in den Fünfzigern dürfte Buck Calder noch ein kleiner Junge gewesen sein. Später hatte Lovelace meist auswärts gearbeitet, in Mexiko oder Kanada. Sechsundfünfzig hatte er dann Winnie geheiratet und war mit ihr nach Big Timber gezogen. Nach Hope war er nur noch selten gekommen.
»Also, was meinen Sie?«
»Wölfe töten ist gegen das Gesetz.«
Calder lächelte verständnisvoll, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Er hatte etwas Selbstgefälliges, und das gefiel Lovelace nicht sonderlich.
»Wer sollte davon Wind bekommen?«
»Man wird die Tiere mit Argusaugen beobachten.«
»Stimmt.« Calder blinzelte ihm zu und grinste. »Aber Sie hätten Zugang zu Insiderinformationen.«
Er wartete schweigend auf eine Reaktion, aber Lovelace war nicht zu Scherzen aufgelegt. Was er wissen wollte, würde er schon noch erfahren.
»Mein Sohn geht der Biologin zur Hand. Er weiß, wo die Wölfe sind, was sie tun, einfach alles.«
»Dann brauchen Sie ja meine Hilfe nicht.«
»Doch, der Junge sieht die ganze Geschichte nämlich mehr mit den Augen der Biologin als mit den meinen.«
»Und wieso sollte er Ihnen dann die Insiderinformationen geben?«
»Keine Sorge, die werd ich mir schon beschaffen.«
Der Rehkopf war mittlerweile fast gehäutet. Lovelace legte das Messer beiseite und schälte das Fell behutsam wie eine Maske vom Gesicht.
»Wie ich sehe, arbeiten Sie als Tierpräparator«, sagte Calder. »Wir jagen ziemlich viel. Machen Sie so etwas auch für andere?«
»Nur für Freunde.«
Das war gelogen. Die einzigen Freunde, die er je gekannt hatte, waren Winnies Freunde gewesen. Und von denen hatte sich seit Monaten keiner mehr gemeldet, was ihm nur recht war.
»Also, Mr. Lovelace, was sagen Sie?«
»Wozu?«
»Wollen Sie uns helfen? Den Preis können Sie selbst bestimmen.«
Lovelace stand auf und nahm den Eimer. Er trug ihn zum Becken aus rostfreiem Stahl am anderen Ende der Werkbank und kippte das Blut aus. Dann reinigte er die Messer und dachte nach.
Es war drei Jahre her, dass er zuletzt illegal, und zwei Jahre, dass er oben in Alberta das letzte Mal legal Wölfe getötet hatte. Nachdem sie ihn jahrelang gedrängt hatte, sich endlich zur Ruhe zu setzen, war es Winnie schließlich gelungen, ihn zu überreden. Und dann, als er sich gerade daran gewöhnt hatte, als er sogar anfing, es zu genießen, da bekam sie Krebs. Ihr kleiner Körper war voll mit Metastasen, und innerhalb von drei Wochen war sie tot.
Eigentlich brauchte er eine Beschäftigung, etwas, das ihn ablenkte. Und dies war das erste Angebot seit der Beerdigung. Die Fallen da oben am Balken hatten schon Rost angesetzt, aber das würde er schon wieder hinbekommen.
Er trocknete die Messer ab und spülte das Blut aus dem Becken.
»Was ist denn das für ein Drahtgestell da oben mit all den kleinen Metallstückchen, wenn ich fragen darf?«
Calder deutete auf die gegenüberliegende Wand, wo Lovelace über der Gefriertruhe seine Ankerketten, Haken und Drahtrollen aufgehängt hatte.
»Damit fängt man Welpen. Eine Erfindung von meinem Vater. Er hat sie ›die Schlinge‹ genannt.«