Luke wartete neben dem Pick-up und sah ihr zu, wie sie langsam den Weg abschritt. Über dem Kopf drehte sie die H-förmige Antenne, während sie gleichzeitig sämtliche Frequenzen auf dem kleinen Empfänger abhörte, der in einer Ledertasche über ihrer Schulter hing. Buzz beobachtete sie vom Beifahrersitz aus und hatte die Ohren gespitzt, als wüsste er, was sie in ihrem Kopfhörer zu hören hoffte.
Der Wagen stand am Holzfällerweg, der sich halsbrecherisch die Südseite des Wrong Creek, einem baumbestandenen Cañon, heraufschlängelte. Luke schaute über den Rand des Weges in den dicht mit Douglastannen bewachsenen Abgrund. In dreißig Meter Tiefe konnte er den Bach rauschen hören. Diese Seite des Cañons lag noch im Schatten, und die Luft war kühl und feucht. Eine halbe Meile weiter breitete sich ein Sonnenstreifen aus, der die gelben Blätter der Erlen aufleuchten ließ.
Sie hatten anderthalb Tage gebraucht, um sämtliche Fallen umzusetzen, und wollten sie jetzt überprüfen. Wrong Creek war der nächstgelegene, in nördliche Richtung verlaufende Einschnitt in den Bergen, und Luke war sich ziemlich sicher, dass die Wölfe hier gewesen waren, als er sie heulen hörte. Jedenfalls war er gleich mit Helen Ross heraufgekommen, war in ihrem rostigen alten Wagen so nahe wie möglich herangefahren und dann den Creek entlang in die Berge hinauf gewandert.
Fast sofort hatten sie frischen Wolfskot und Spuren gefunden. Ein Schwarm Raben führte sie dann zum Kadaver des alten Elchbullen. Es war zwar nicht mehr viel Fleisch übrig, aber Helen vermutete, dass die Wölfe noch mal zurückkehren würden. Sie zog dem Elchbullen einige Zähne aus dem Kiefer, die sie zur Altersanalyse einschicken wollte. Dann erklärte sie Luke, dass man das Alter des Tiers wie bei einem Baum an den Ringen des durchgesägten Zahns erkennen könne. Anschließend sägte sie selbst einige Knochenstücke durch und meinte, an der Art, wie das Knochenmark sich zu Gelee verformt habe, könne sie erkennen, dass der Bulle in ziemlich schlechter Verfassung gewesen sei.
Die Fallen aufzustellen war harte Arbeit gewesen, doch Luke genoss jede Minute davon. Helen hatte ihm gezeigt, wie man die Fallen eingrub, und ihm alles Nötige erklärt. Man muss die Falle vergraben, sagte sie, damit der Wolf glaubt, er sei zufällig auf den Futtervorrat eines anderen Tiers gestoßen. Der beste Platz dafür war auf der Windseite des Wegs, damit er Witterung aufnahm, wenn er daran vorbeikam. Zuerst roch er den vergrabenen Köder – der stank so widerwärtig, dass man eigentlich glauben sollte, er würde Reißaus nehmen –, dann nahm er über Kot und Urin die Witterung von einem fremden Wolf auf, so dass er einen Eindringling vermutete.
Jetzt war sein Interesse geweckt, doch musste man dafür sorgen, dass ihm nur ein einziger leichter Zugang blieb, wenn er noch gründlicher schnuppern wollte. Die wahre Kunst, sagte sie, lag darin, ihn genau dorthin zu locken, wo man ihn haben wollte. Also wurden Stöcke und Steine ausgelegt, über die er hinwegklettern musste, so dass er schließlich direkt ins Tellereisen trat.
Nachdem am Nachmittag zuvor alle Fallen aufgestellt worden waren, hatte er ihr den Treffpunkt der Wölfe und die Höhle gezeigt. Als sie davor standen, holte sie ihre kleine Stirnlampe und ein Maßband und verschwand wie ein Höhlenforscher in dem Loch. Sie war so lange fort, dass er schon begann, sich Sorgen zu machen. Doch dann tauchte sie mit den Stiefeln voran wieder auf, schlängelte sich rückwärts heraus und reichte ihm ganz aufgeregt die Stirnlampe.
»Jetzt sind Sie dran.«
Luke schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich k-k-kann …«
»Jetzt machen Sie schon, keine Angst.«
Also gab er ihr seinen Hut und ließ sich ins Loch gleiten. Der Gang führte etwa drei Meter tief direkt in den Berg hinein und war so eng, dass er die Schultern einziehen und sich mit den Schuhspitzen vorwärts schieben musste.
Im Licht der Lampe sahen die Wände fahl und glatt aus, als seien sie aus Ton. Er hatte erwartet, dass die Luft hier drinnen abgestanden und modrig sein würde, doch es roch nur nach Erde. Er fand keine Knochen, keinen Kot, überhaupt keine Spur von Wölfen, ein paar helle Haare ausgenommen, die an einigen Baumwurzeln an der Decke hingen. Das Ende des Gangs weitete sich zu einer etwa einen Meter breiten Kammer, und Luke blieb eine Weile vor Anstrengung keuchend liegen. Er dachte an das Weibchen, das hier seine Jungen geboren, ihre blinden Gesichter geleckt und sie gesäugt hatte.
Dann knipste er die Lampe aus und hielt den Atem an, eingehüllt in Stille und Dunkelheit, und musste daran denken, dass er etwas über das Leben gelesen hatte, das ein Kreislauf sei vom Grab des Schoßes zum Schoß des Grabes. Er hatte nie verstanden, warum man sich vor dem absoluten Nichts des Todes fürchten konnte. Er wäre zufrieden hier an Ort und Stelle gestorben.
Daran musste er immer noch denken, als er blinzelnd wieder ans Sonnenlicht kam und Helens lächelndes Gesicht sah. Sie sagte, sie habe schon Angst gehabt, dass er auf immer unten bleiben würde, und er platzte einfach mit dem heraus, was ihm durch den Kopf ging – und das war ziemlich dumm. Doch sie nickte einfach nur, und er sah in ihren Augen, dass sie ihn verstand. Seltsam, er hatte schon zwei- oder dreimal das Gefühl gehabt, dass sie sich irgendwie ähnlich waren, als gehörten sie zum selben Stamm.
Wahrscheinlich bildete er sich das alles nur ein.
Sie half ihm, den Schmutz von Rücken und Schultern zu klopfen. Er genoss die Berührung ihrer Hände. Dann tat er das gleiche für sie, und das gefiel ihm noch besser. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, und er konnte einfach nicht anders, er musste ihren Nacken anstarren, jene Stelle, wo ihr Haar in die sonnengebleichten Härchen auf ihrer gebräunten Haut überging.
Er sah ihr zu, wie sie vor ihm den Weg abschritt, noch immer die Antenne in der Hand. Sie trug Khakishorts und ihren hellblauen Pullover. Jetzt drehte sie sich um, kam langsam zurück und kaute dabei auf ihrer Unterlippe, wie sie es immer tat, wenn sie sich konzentrierte.
Plötzlich blieb sie stehen und erstarrte. Er wusste, dass sie etwas gehört hatte. Dann stieß sie einen Freudenschrei aus.
»Ja!«
»W-W-Welche ist es?«
»Fünfzweiundsechzig. Die haben Sie gesetzt. Unten beim Weidengestrüpp, wissen Sie noch?«
Sie rannte auf ihn zu, grinste und hielt ihm die Kopfhörer hin, damit er sich selbst überzeugen konnte. Buzz, der immer noch im Pick-up hockte, begann zu bellen, doch Helen befahl ihm, ruhig zu sein.
»Hören Sie’s?«
Einen Moment lang hörte er überhaupt nichts. Doch dann, als sie den Empfänger genauer einstellte, vernahm er das regelmäßige Klick-Klick-Klick des Signals. Er grinste und nickte, und Helen klopfte ihm auf die Schulter.
»He, Trapper, Sie haben gerade einen Wolf gefangen!«
Sie brauchten zwanzig Minuten, um zu der Stelle zu gelangen, an der sich der Weg im Wald verlor. Helen fuhr so schnell, dass Luke bezweifelte, lebend ans Ziel zu kommen. Die ganze Fahrt über hänselte sie ihn, nannte es Anfängerglück und was er denn glaube, wer er sei, komme hereingeschneit und mache ihr vor, wie’s gehe, nach all der Arbeit, die sie mit den Fallen gehabt habe. Luke versprach ihr lachend, kein Wort davon zu verraten.
Sie stellten den Wagen auf einer Lichtung ab und stiegen aus, um auf der Ladefläche ihre Rucksäcke zu packen. Auf der anderen Seite der Lichtung lehnten zwei Holzfäller schweigend an einem halbbeladenen Hänger und rauchten. Luke kannte sie nicht. Helen winkte und rief hallo, aber sie nickten nur, sogen an ihren Zigaretten und lächelten nicht mal.
Helen machte sich an ihrem Rucksack zu schaffen und tat so, als führe sie eine halblaute Unterhaltung mit den Holzfällern, deren Wortlaut aber nur Luke verstehen konnte.
»He, hallo, Helen! Wie steht’s? Schon einen Wolf gefangen? Tatsächlich? Ist ja phantastisch! Na ja, geht so. Sie auch. Bis dann!«
»Haben Sie die schon mal gesehen?«, fragte Luke leise.
»Klar, die haben mich einige Male fast vom Weg abgedrängt.« Sie schnürte den Rucksack zu und grinste, als sie ihn sich auf den Rücken hievte. »Haben Sie das Nicken gesehen? Ein winziges Nicken, zugegeben, aber immerhin ein Nicken. Warten Sie’s ab, bald werden wir die besten Freunde sein. In jedem Holzfäller steckt ein Baumfreund, der nur darauf wartet, hervorkommen zu können.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Nein.«
Sie ließen Buzz im Pick-up und marschierten den Wrong Creek entlang.
Noch ehe sie das Signal gehört hatte, war Helen davon überzeugt gewesen, dass sie einen Wolf gefangen hatten. Ihre Träume hatten sie noch nie getrogen.
Bislang hatte sie nicht gewagt, jemandem davon zu erzählen. Es klang zu absurd. Außerdem war es als Frau in der Machowelt der Wolfsforschung schon so schwer genug, auch ohne dass sie sich dem Verdacht aussetzte, meschugge zu sein – ein Ausdruck, mit dem ihre Mutter von der Astrologie bis zur Vitaminpille so ziemlich alles Ungewöhnliche verächtlich abtat. Und offen gestanden, obwohl Helen nicht daran zweifelte, dass es zwischen Himmel und Erde mehr Dinge gab, als man mit Hilfe eines Mikroskops sehen konnte, zählte sie sich eher zu den Skeptikern.
Nur ihre Wolfsträume waren davon ausgenommen.
In Minnesota hatte es angefangen, kurz nachdem sie gelernt hatte, Fallen zu stellen. Der Traum war jedes Mal anders, und mitunter wirkte er fast real: Sie konnte tatsächlich einen Wolf in der Falle sehen, der auf sie wartete. Dann wieder war der Traum verschleierter, als handle er von etwas völlig anderem. Manchmal hatte sie nur so ein »Wolfsgefühl«, erhaschte nicht mal einen Blick auf das Tier oder sah seinen Schatten, spürte einfach nur, dass es da war. Dabei hatte sie den Traum nicht jedes Mal, wenn sie einen Wolf fing. Sie konnte monatelang Fallen stellen und jede Menge Wölfe fangen, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu träumen. Doch wenn er kam, dann saß am nächsten Morgen unweigerlich ein Wolf in der Falle.
Und als wäre das noch nicht meschugge genug, wachte sie oft auf und wusste genau, in welcher Falle sie ihn finden würde. Manchmal konnte sie die exakte Stelle sehen, dann wiederum war der Traum eher symbolisch und gab ihr nur Hinweise. Es tauchten darin Bäume, Felsen oder Wasser auf, von denen sie ableiten konnte, welche Falle es war. Dieser Teil des Traums war nicht ganz verlässlich. Häufig saß der Wolf auch in einer völlig anderen Falle. Doch ihr Vertrauen in die Wolfsträume war so stark, dass sie sie nie für falsch hielt, sondern nur glaubte, ihre Botschaft missverstanden zu haben.
Die Wissenschaftlerin in Helen rügte sie stets für diesen Unsinn. Sie versuchte sich einzureden, dass es sich bloß um einen Fall von Autosuggestion handelte oder um einen Streich, den ihr Gehirn ihr spielte, eine Art Traum-Déjà-vu, doch hatte sie sich während des Sommers mit Dan Prior insgeheim Notizen über ihre Träume gemacht und mit der Zahl der gefangenen Wölfe verglichen. Der Zusammenhang war unverkennbar. Trotzdem brachte sie nie den Mut auf, mit Dan darüber zu sprechen.
Und jetzt erzählte sie Luke davon, den sie doch kaum kannte.
Sie kletterten die letzten Meter am wild schäumenden Bach hinauf, ehe sich das Land vor ihnen zu jener Ebene weitete, auf der sich die Falle befand. Sie wusste nicht, warum sie ihm davon erzählte, wusste nur, dass sie ihm vertrauen konnte. Sie war fest davon überzeugt, dass er nicht über sie lachen würde.
Er ging neben ihr, sah sie, während er ihr zuhörte, hin und wieder mit seinen ernsten grünen Augen an, achtete aber zumeist darauf, wo er hintrat, denn der Boden war hier ziemlich tückisch. Er hatte sich fast die ganze Geschichte angehört, ohne ein Wort zu sagen. Obwohl sie nicht erwartete, dass er sie auslachte, ertappte sie sich dabei, wie sie in ihre alten Abwehrmechanismen verfiel und so tat, als würde sie das Gesagte nicht so ernst nehmen.
»Es ist wie verhext, wissen Sie? Ich habe schon versucht, von den Lottozahlen oder vom Pferderennen zu träumen, aber das klappt einfach nicht.«
Luke lächelte.
»Also w-w-was haben Sie l-l-letzte Nacht genau geträumt?«
»Nur von einem Wolf, der durch einen Flusslauf watet.« Das stimmte, war aber nicht die ganze Wahrheit, denn der Wolf war mit jener seltsamen Dualität, die Träumen eigen ist, zugleich Joel gewesen, der den Fluss durchquert hatte, fort von ihr, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, ehe er hinter den Bäumen verschwand.
»Also saß er in keiner Falle?«
»Nein, er ist entkommen.«
Helen wartete darauf, dass er etwas sagte, doch er nickte nur und schaute in den Bach, dessen Wasser durch einen Felsspalt donnerte, um dann zehn Meter tiefer in einen brodelnden Kessel zu stürzen.
»Halten Sie mich jetzt für verrückt?«, fragte sie schließlich.
»Natürlich nicht. Ich habe s-s-selbst auch ein paar z-z-ziemlich irre Träume.«
»Tja, aber werden die auch wahr?«
»Nur die schlechten.«
»Träumen Sie von Wölfen?«
»Manchmal.«
Das Wasser toste jetzt so laut, dass sie nicht weiterreden konnten, und so unterhielten sie sich erst wieder, als sie unter den Bäumen am Rand der Weide stehenblieben. Das Gras hier oben war noch grün. Sie starrten über die Wiese zum Weidengehölz, in dem die Falle stand, doch das einzige Lebenszeichen waren zwei Raben, die träge über dem schwebten, was vom Elchbullen noch übriggeblieben war.
»Wäre das Signal auch noch zu hören, wenn er sich losgerissen hätte?«
»Schon möglich.«
Sie liefen über die Wiese, und als sie sich dem Wildwechsel näherten, der am Weidengehölz vorbeiführte, sah Helen das Loch, aus dem die Falle gerissen worden war. Kurz davor entdeckten sie dann die lange Furche vom Ankerhaken der Kette, die der Wolf hinter sich hergezogen hatte, als er Deckung suchte. Doch obwohl ihnen die Furche verriet, wo er sich ungefähr befinden musste, war kein Laut zu hören und keine Bewegung zu erkennen.
Einen Augenblick lang glaubte Helen, Luke habe recht gehabt und dem Wolf sei es gelungen, sich zu befreien. Doch dann hörte sie die Kette klirren und wusste, dass er festsaß. Irgendwo im Weidengehölz musste er stecken, knapp zehn Meter von der Stelle entfernt, an der sie standen.
Helen flüsterte Luke zu, er solle sich nicht vom Fleck rühren, da sie erst die Lage prüfen wolle, und folgte dann vorsichtig der Kettenspur ins Dickicht.
Sie hatte ihm schon erklärt, dass man stets nachschauen müsse, wie fest das Bein in der Falle klemme und wie sicher die Kette sitze. Bei einem Welpen, einem Jährling oder einem rangniedrigen Tier war das nicht weiter wichtig, da die meist fügsam dalagen und nicht einmal wagten, einem in die Augen zu schauen. Doch wenn man einen Alpha gefangen hatte, musste man aufpassen. Er stürzte sich unter Umständen sofort auf einen und schlug einem bei der geringsten Chance die Zähne ins Fleisch. Deshalb war entscheidend, dass man wusste, wie sicher er in der Falle steckte und wie groß sein Bewegungsspielraum war.
Wieder hörte Helen die Kette klirren, und diesmal raschelte es im Gebüsch, so dass ein Schauer gelber Blätter niederging, hinter dem sie helles Fell aufblitzen sah. Luke hatte ihr gesagt, dass das Weibchen fast weiß war, und Helens Herz hüpfte vor Freude darüber, dieses Tier gefangen zu haben.
Sie drehte sich zu Luke um und flüsterte: »Ich glaube, wir haben die Mom.«
Sie stand jetzt unmittelbar vor dem Dickicht und entdeckte an den Stämmen die Spuren der Kette, die der Wolf beim Eindringen ins Gehölz hinterlassen hatte. Helen verharrte einen Augenblick, lauschte und starrte durch das Weidengeäst. Sie vermutete, dass der Wolf nur ein paar Schritte von ihr entfernt lag, konnte ihn aber immer noch nicht sehen. Alles war still. Nur das Rauschen des Bachs und das Krächzen eines Raben waren zu hören.
Plötzlich war da der Schädel des Wolfs, gefletschte Zähne, rosiger Gaumen, gelbe Augen, die aus den Zweigen auf sie zustürzten. Helen erschrak so sehr, dass sie einen Satz nach hinten machte, ausrutschte und rückwärts in die Wiese fiel. Doch sie ließ den Wolf nicht aus den Augen und sah, wie sein Kopf zurückzuckte und verschwand, sobald sich der Zug der Kette bemerkbar machte. Als sie den Kopf hob, grinste Luke sie an.
»Sie haben recht, das ist Mom«, sagte er.
»Übrigens macht man das so, man lässt sich immer zuerst auf den Rücken fallen. Dann fühlen sich die Wölfe gleich besser.«
Luke lachte und half ihr wieder auf die Beine. Er zeigte auf einen Felsbrocken einige Meter vor dem Dickicht.
»Vielleicht können wir da mehr sehen.«
Er hatte recht. Sie hätte es gleich an der Stelle probieren sollen.
»Okay, Klugscheißer.«
Sie stapften durch das Weidengestrüpp zum Felsen, hielten dabei aber einen möglichst großen Abstand zum Wolf. Die glatte Fläche des Steins bot keinen Halt für die Füße, also kletterte Luke zuerst hinauf, streckte den Arm aus und zog sie zu sich herauf. Helen musste sich an seiner Schulter festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und so balancierten sie da oben auf dem schmalen Fels und starrten hinunter ins Dickicht.
Die Wölfin war etwa sieben Meter entfernt, zog knurrend die Lefzen hoch und schaute sie an. Ihr Fell war hell und nur am Rücken und entlang der Schulter ein wenig grau.
»Ist sie nicht schön?«, flüsterte Luke.
»Ja, das ist sie.«
Helen sah, dass die Fangbügel den linken Vorderlauf umklammert hielten. Die Anker der Kette steckten in einem dichten Wurzelgestrüpp, um das die Wölfin die Kette in dem Versuch, sich zu befreien, zweimal gewickelt hatte.
»Die läuft uns so schnell nicht mehr weg«, sagte Helen. »Sieht ganz so aus, als kämen wir von der anderen Seite am besten an sie ran.«
Sie sprangen vom Felsen herunter und eilten zu der Stelle, an der sie ihre Rucksäcke zurückgelassen hatten. Helen holte den Stock mit der daran befestigten Spritze und zog die nötige Menge Telazol auf. Dann näherten sie sich dem Wolf von der gegenüberliegenden Seite durch das Dickicht. Helen ging voran.
Sie hörte die Wölfin knurren, und als sie die letzten, schützenden Büsche beiseite schoben, versuchte sie erneut, sich auf sie zu stürzen, doch die Kette hielt. Die Wölfin fauchte und duckte sich dann langsam zu Boden.
»He, Mom«, sagte Helen leise. »Bist du aber eine Hübsche.«
Die Wölfin war in bester Verfassung, ihr Fell glänzte und hatte schon fast Winterdichte. Helen schätzte ihr Alter auf drei bis vier Jahre, ihr Gewicht auf etwa vierzig Kilo. Die Augen blitzten grünlichgelb im Sonnenlicht.
»Alles in Ordnung, Kleines«, gurrte Helen. »Keine Sorge, wir wollen dir nichts tun. Du sollst nur ein kleines Nickerchen machen.«
Im gleichen sanften Tonfall bat sie Luke, langsam auf die andere Seite zu gehen. Wie erhofft, wurde die Wölfin misstrauisch und drehte sich um. Sie kämpfte gegen das Gewicht der Falle und ließ Luke nicht aus den Augen. Jetzt hatte Helen ihre Chance. Sie holte aus, und wie eine Matadorin stieß sie dem Wolf die Spritze ins Hinterteil.
Kaum war die Nadel im Fell, fuhr die Wölfin fauchend mit dem Kopf herum. Doch Helen, die damit gerechnet hatte, presste den Stock so lange in ihr Fleisch, bis die Spritze leer war. Dann wich sie zurück und schaute aus sicherer Entfernung zu, wie die Augen der Wölfin sich trübten, ihre Glieder erschlafften und sie schließlich zusammensackte.
Eine halbe Stunde später hatten sie es fast geschafft. Sie legten ihr eine Augenbinde um, wogen sie, nahmen ihre Maße, etwas Blut und Kot und untersuchten sie von Kopf bis Fuß. Sie war frei von Läusen und schien in einem ausgezeichneten Gesundheitszustand zu sein. Die Falle hatte eine leichte Fleischwunde am Bein hinterlassen, doch waren keine Knochen gebrochen. Helen trug eine antibiotische Salbe auf und verabreichte der Wölfin zur Sicherheit noch eine Spritze. Jetzt brauchten sie ihr nur noch einen Clip mit ihrer Kennummer ins Ohr zu knipsen und das Halsband mit dem Radiosender umzulegen.
Luke kniete neben der Wölfin und streichelte ihr silbriges Fell. Er hatte sich als Assistent großartig bewährt, hatte Notizen gemacht, für Helen die Proben beschriftet und ihr alles Nötige aus dem Koffer gereicht, in dem sie aufbewahrte, was sie für ihre Feldstudien brauchte.
Helen ging in die Hocke und beobachtete ihn. Er streichelte die Wölfin so selbstvergessen, und seine Augen sahen sie so sanft und unschuldig an, dass Helen am liebsten ihre Hand ausgestreckt und ihn ebenfalls gestreichelt hätte.
Statt dessen sagte sie: »Hat sie nicht ein phantastisches Fell? Unglaublich, diese verschiedenen Schichten …«
»Ja, und diese Farben. Von w-w-weitem sieht sie bloß weiß aus, aber von nahem kann man auch die anderen Farben sehen. Braun und Schwarz, sogar ein b-b-bisschen Rot.«
Er schenkte ihr ein Lächeln, und Helen erwiderte es. Erneut spürte sie, dass sie beide etwas verband, doch hätte sie nicht sagen können, was es war. Schließlich wandte sie den Blick ab und betrachtete die Wölfin.
»Das alte Mädchen wird bald wieder aufwachen.«
Sie befestigte den Ohrclip und notierte sich die Nummer. Dann legte sie der Wölfin das Halsband um, stellte sicher, dass es weder zu eng noch zu locker saß, und schaute nach, ob das Signal noch funktionierte. Schließlich nahm sie die Augenbinde ab, machte ein paar Fotos, und als sie ihre Sachen zusammenpackten, begann sich die Wölfin auch schon zu regen.
»Verschwinden wir«, sagte Helen.
Luke stand neben der Wölfin und sah auf sie herab. Helen dachte, er hätte sie nicht gehört.
»Luke?«
Er drehte sich um, und sie sah die Trauer in seinen Augen.
»Ist was?«
»Nein.«
»Wissen Sie, das Halsband kann ihr das Leben retten.«
Er zuckte die Achseln. »Ja, vielleicht.«
Sie zogen die Wölfin aus dem Dickicht und legten sie neben dem Pfad etwa an die Stelle, an der sie in die Falle geraten war. Dann hievten sie die Rucksäcke auf den Rücken und liefen über die Wiese zurück. Unten am Bach verjagte ein Kojote die Raben vom Elchkadaver. Als er Luke und Helen sah, hielt er inne und verzog sich dann griesgrämig ins Gebüsch.
Unter den Bäumen am anderen Ende der Wiese blieben sie stehen und beobachteten, wie die Wölfin benommen auf die Beine kam. Sie machte ein paar wacklige Schritte, verharrte aber gleich darauf, um sich die Vorderpfote zu lecken. Dann streckte sie die Nase in den Wind, fing ihre Witterung auf, drehte sich sofort zu ihnen um und starrte sie an. Helen winkte ihr zu.
»Bis später, Mom.«
Verächtlich, wie eine gekränkte Filmdiva, wandte sich die Wölfin mit stolz hochgerecktem Schwanz ab und trottete in Richtung Cañon davon.