DREIUNDDREISSIG

Wir fahren an Romans früherem Laden RENAISSANCE! vorüber, obwohl ich nicht vorhabe, hineinzugehen – dafür ist es noch zu früh. Das Letzte, was ich brauche, ist ein erneuter Zusammenstoß mit Haven oder einem der anderen Unsterblichen, die dort arbeiten. Dennoch fahre ich beim Näherkommen langsamer und überschlage kurz, wie lange es her ist, dass ich zum letzten Mal hier war. Ich bin ganz schön neugierig, was daraus geworden ist, seit Roman nicht mehr da ist.

Doch obwohl ich mit gewissen Veränderungen gerechnet habe, hätte ich nie erwartet, den Laden derart verbarrikadiert vorzufinden. Das Schaufenster ist leer, die einst so aufwändig dekorierten Auslagen sind abgebaut und verschwunden, und die Tür ist nicht nur abgesperrt, sondern es hängt auch ein Schild mit der Aufschrift Geschlossen! davor. Direkt darüber hat jemand gekritzelt: Für immer!

»Eigentlich sollte es mich nicht überraschen, aber ich habe es trotzdem nicht kommen sehen«, sagt Damen mit leiser Stimme, während er das Schild fixiert. »Ich hätte wetten können, dass Haven den Laden übernimmt oder auch Marco, Misa oder Rafe.«

Ich nicke zustimmend und parke am Straßenrand. Wir steigen aus und überqueren die Straße, bis wir vor dem Laden stehen. Drinnen sieht man noch einige der größeren Möbelstücke – die Sofas, Tische und Regale –, die aus irgendeinem Grund zurückgelassen wurden. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, sind sämtliche kleineren Artikel wie Kleider, Schmuck und dergleichen verschwunden.

Ich überlege, wessen Entscheidung es wohl war, den Laden zu schließen. Ganz zu schweigen von der Frage, wem Roman den Laden gern hinterlassen hätte.

Aber irgendwie bezweifle ich, dass er als Unsterblicher je auf die Idee gekommen ist, ein Testament zu machen.

Ich sehe mich rasch um, um mich zu vergewissern, dass uns niemand beobachtet, ehe ich die Augen schließe und telepathisch die Tür öffne. Meinen ursprünglichen Plan, bis Einbruch der Dunkelheit zu warten, habe ich verworfen, da der Laden bis dahin restlos ausgeräumt sein könnte und ich sofort zuschlagen muss.

»Das Einbrechen ist dir allmählich in Fleisch und Blut übergegangen«, sagt Damen, während er mir hineinfolgt. »Muss ich mir Sorgen machen?«

Ich lache, ein unvermitteltes Geräusch, das in dem weiten Raum mit der hohen Decke widerhallt. Dann bedeute ich Damen, hinter uns die Tür zu schließen, und sehe mich aufmerksam um. Einen Moment lang schließe ich die Augen, setze alle meine Sinne ein, um den Raum zu erfassen und vielleicht zu erspüren, wo das Hemd sein könnte, während Damen das Gleiche tut.

Da nicht viel dabei herauskommt, beschließen wir, einfach irgendwo anzufangen. Wir spähen in antike Schränke und alte Kommoden und wühlen alles hastig, wenn auch methodisch durch, ohne jedoch das zu finden, was wir brauchen. Damen geht ins Hinterzimmer, den Raum, den Roman einst als Büro benutzt hat, und ruft mich prompt zu sich.

Es ist ein Chaos. Ein absolutes Chaos. Als wäre ein Tornado hindurchgefegt. Als hätte es ein Erdbeben gegeben. Was mich daran erinnert, wie Judes Laden an dem Tag aussah, als Haven uns vermeintlich tot liegen gelassen hat – und deshalb denke ich, dass sie dafür verantwortlich ist.

Wir bahnen uns den Weg durch hohe Papierstapel, die kreuz und quer über den Boden verstreut sind. Damen pirscht sich vorsichtig hindurch, während ich ein paar Mal ins Stolpern komme und ausrutsche, sodass er mich auffangen muss.

Ich weiche einem umgekippten Stuhl sowie einigen richtig hässlichen grünen Paisley-Kissen aus, die zu dem kleinen Zweiersofa in der Ecke gehören. Damen schiebt einen leer geräumten Aktenschrank aus dem Weg, sodass wir uns dem Schreibtisch nähern können, der fast so überfüllt ist wie der Fußboden – massenhaft Papiere, Pappbecher, Bücher und solche Berge von Gerümpel, dass man darunter das Holz mit den feinen Intarsien kaum mehr erkennen kann. Wir durchwühlen jede einzelne Schublade, äugen in jeden Winkel, bis wir sicher sind, dass es nicht hier ist – überzeugt davon, dass es nirgends mehr versteckt sein kann.

Damen steht neben mir mit einem Gesichtsausdruck, der eher entschlossen als enttäuscht wirkt, da er sich nie der Hoffnung hingegeben hat, dass wir es so leicht finden würden. Und obwohl er sich bereits zum Gehen wendet, bin ich noch nicht ganz so weit. Irgendwie muss ich immer wieder den kleinen Weinkühlschrank in der Ecke anschauen. Der Stecker ist herausgezogen, und die Tür hängt schief in den Angeln.

Ein kleiner, unschuldiger Kühlschrank, der nichts Besonderes an sich hat, abgesehen davon, dass ich mir sicher bin, dass er einst voller Elixier war, doch ich habe keine Ahnung, wer ihn geleert haben könnte.

Waren es Misa und Marco, die ich zuletzt gesehen habe, als sie mit zwei Reisetaschen voller gestohlenem Saft über einen Zaun geklettert sind?

War es Rafe, den ich schon so lange nicht mehr gesehen habe, dass ich gar nicht weiß, ob er überhaupt noch hier wohnt?

Oder war es Haven, die – zumindest soweit ich weiß – eine massive Elixiersucht entwickelt zu haben scheint?

Und, was noch wichtiger ist, spielt es überhaupt eine Rolle, da es mir hier doch in Wahrheit nur darum geht, an das Hemd zu kommen?

Damen stupst mich an, damit wir gehen. Und da es keinen Grund zum Bleiben gibt und hier nichts zu holen ist, sehe ich mich ein letztes Mal um, um sicherzustellen, dass ich nichts übersehen habe, ehe ich ihm zur Tür hinaus folge und wir ebenso leise und unbemerkt wieder verschwinden, wie wir gekommen sind.

Wir haben unser Ziel nicht erreicht, auch wenn wir jetzt noch genauer wissen, dass wir dem Objekt unserer Begierde näher kommen und eindeutig Fortschritte gemacht haben.

Havens Welt zeigt nicht nur Abnutzungserscheinungen, sondern beginnt überall um sie herum in die Brüche zu gehen. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie entweder um Hilfe bittet oder sich komplett selbst zerstört.

So oder so, ich habe vor, dabei zu sein.