EINUNDZWANZIG

Eigentlich dachte ich, sie würde mir bis zum Lunch aus dem Weg gehen.

Dachte, sie würde jegliche Konfrontation aufschieben, bis sie ihre Groupies alle um sich versammelt hat und mir das volle Ausmaß der großen, bösen Tat, die sie vollbracht hat, zeigen kann.

Dachte, sie hätte meine einwöchige Abwesenheit, meinen Wunsch, mir über Damen klar zu werden, als Angst missverstanden.

Furcht vor ihr und alldem, was sie bewirkt hat.

Und genau deswegen habe ich dafür gesorgt, dass ich ihr deutlich vor diesem Zeitpunkt begegne.

Ohne Vorwarnung tauche ich neben ihr auf, tippe ihr auf die Schulter und starre ihr mitten in die dick geschminkten Augen, die mich verblüfft anschauen. »Hey, Haven«, sage ich und wahre dabei einen wohlwollenden, wenn nicht sogar freundlichen Blick. Sie soll wissen, dass ich wieder da bin und dass es für sie an der Zeit ist, sich zu zügeln, aber ich will sie nicht direkt herausfordern, da das zu nichts Gutem führt. »Ich wollte dir nur sagen, dass dein Auto umgeparkt worden ist. Ich hab den Platz gebraucht.«

Sie sieht mich an, zieht an einer Seite den Mundwinkel nach oben, offenbar eher belustigt als wütend und lächerlich erfreut darüber, dass das Spiel noch läuft.

»Aber das dürfte dich eigentlich nicht überraschen, da du ja weißt, dass das nicht dein Parkplatz ist. Er gehört Damen und mir. Schon seit fast einem Jahr.«

Sie lacht auf, ein kurzes, abgehacktes Geräusch, das fast im selben Moment endet, in dem es begonnen hat. Sie streift Shorts und T-Shirt ab, wirft beides in ihren Spind und holt ihr blaues Kleid heraus, um es sich unsanft über den Kopf zu ziehen. »Na ja, du warst nicht da, und Damen schien es nicht besonders zu stören. Nach dem, was ich so gesehen habe, scheint er in letzter Zeit allerdings auch schwer beschäftigt gewesen zu sein.«

Sie zieht das Kleid herunter und blickt mir in die Augen, sowie ihr Gesicht aus den Stoffmassen hervorkommt. Dann schlenkert sie die Hüften hin und her, damit das Kleid richtig fällt. Erneut mustert sie mich einen Moment lang, und ihr spöttischer Blick wandert von meinem Kopf bis zu den Füßen, ehe er wieder nach oben gleitet und nach einer Reaktion sucht, die einfach nicht kommt.

Ihre Bemerkung berührt mich nicht im Geringsten. Damen und ich haben uns geeinigt, und diese Konfrontation mit ihr – nun, das ist ja genau das, wofür ich trainiert habe.

»Ich dachte, du hasst die Sportstunden.« Ich lasse mich auf die verkratzte Holzbank fallen, schlage die Beine übereinander und falte die Hände über dem Knie. Dann sehe ich mich in der Mädchenumkleide um, einem Raum, den sie gezielt vermieden hat, seit sie zu Beginn ihres ersten Schuljahrs hier ein besonders brutales Einführungsritual erleben musste.

»Tja, früher schon.« Sie zuckt mit den Schultern und ordnet die vielen Halsketten, die sie jetzt dem Amulett vorzieht, das ich ihr gegeben habe. Mit blitzenden Augen und strahlender Miene sieht sie mich an. »Aber wie du weißt, können sich die Dinge ja ändern, Ever. Oder vielmehr habe ich mich verändert. Und deshalb habe ich schließlich etwas begriffen, das ich früher nur hätte erraten können.« Sie hält einen Moment inne, um ihre Schuhe anzuziehen. Ein-, zweimal wickelt sie sich die Schnürsenkel um die Knöchel, dann bindet sie sie etwa in der Mitte ihrer schmalen und doch muskulösen Waden zu einem Knoten. »Wenn du es erst mal an die Spitze der Pyramide geschafft hast, wenn du erst einmal schön, mächtig und mit Kraft und Schnelligkeit ausgestattet bist, tja, dann gibt es wirklich keinen Grund mehr, irgendetwas nicht zu mögen. Außer vielleicht diese jämmerlich neidischen Loser, die entschlossen sind, einen zu Fall zu bringen. Aber davon abgesehen ist einfach alles gut. Du kannst dir nicht einmal vorstellen, was für ein Gefühl es ist, jetzt ich zu sein.« Sie plustert ihre Haare auf, streicht ihr Kleid vorn und an den Seiten glatt und sieht sich bewundernd im Spiegel an der Wand gegenüber an, während sie dafür sorgt, dass alles perfekt sitzt.

Einen Moment lang reißt sie sich von ihrem Spiegelbild los, um mich anzuschauen, wobei sie tief und laut seufzt und mich voller Mitleid betrachtet. »Das habe ich übrigens wörtlich gemeint«, sagt sie. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es ist, ich zu sein. Wie es ist, ganz oben zu stehen – an der Spitze deiner eigenen Show.« Sie grinst und fasst in ihrem Spind ins oberste Fach, wo sie ihre vielen Ringe abgelegt hat. »Ich meine, geben wir’s doch zu, ohne grausam zu sein oder irgendwas, aber du bist so ziemlich dein ganzes Leben lang der Loser gewesen, und selbst jetzt, da du – zumindest theoretisch – alles oder jeden haben kannst, was oder wen du willst, hast du dich trotzdem wieder dafür entschieden, eine Riesennull zu sein.« Sie schüttelt den Kopf und steckt sich die Ringe an die Finger, eine Aufgabe, die angesichts der Zahl der Ringe reichlich Zeit in Anspruch nimmt. »Ich meine, wenn es nicht so lustig wäre, wäre es traurig. Trotzdem muss ich zugeben, dass du mir zu einem ganz winzigen Teil leidtust.«

»Und abgesehen von diesem winzigen Teil?« Ich sehe sie an und verfolge, wie sie ihre Haare zurechtstreicht und sie sich um Gesicht und Schultern drapiert.

Sie lacht. Zufrieden mit ihrer Frisur, wühlt sie in ihrer Tasche nach Lipgloss, ehe sie mir erneut einen Blick zuwirft. »Tja, der andere Teil von mir wird dich töten. Aber das weißt du ja schon.«

Ich nicke so beiläufig, als hätte sie gerade eine banale Bemerkung gemacht, statt eine Drohung gegen mein Leben ausgestoßen.

»Ich meine, versteh mich nicht falsch, ursprünglich hatte ich vor, zuerst Jude zu töten, weißt du, ihn direkt vor deinen Augen zur Strecke zu bringen, etwas in der Art. Aber dann, als ich genauer darüber nachgedacht habe, ist mir klar geworden, dass es viel mehr Spaß machen würde, die Sache umzudrehen und zuerst dich zu erledigen. Du weißt schon, ihn ganz wehrlos und allein zurücklassen, ohne irgendjemanden, der in der Lage, geschweige denn bereit wäre, ihn zu retten. Ich meine, Damen wird sich dafür bestimmt nicht zur Verfügung stellen – und das nicht, weil er so damit beschäftigt wäre, Stacia zu beschützen, sondern weil er, auch wenn er sich für noch so edel und hilfreich und gut hält, garantiert nicht so furchtbar traurig ist, Jude verschwinden zu sehen, wenn man bedenkt, was in letzter Zeit alles abgelaufen ist.« Schulterzuckend fährt sie sich mehrmals mit dem Pinselchen über die Lippen, wirft dem Spiegel einen Kussmund zu und steckt das Lipgloss wieder in die Tasche. »Ich weiß nicht, war nur so eine Idee. Was meinst du?«

»Was ich meine?« Ich ziehe eine Braue hoch und lege den Kopf schief, sodass mir das Haar vorne übers Kleid fällt.

Wartend sieht sie mich an.

»Ich meine – na, dann mal los.«

Sie prustet vor Lachen, ein tiefes, zwerchfellerschütterndes Lachen. Mühsam schnappt sie nach Atem, streicht erneut ihr Haar glatt, hängt sich die Tasche über die Schulter und mustert sich ein letztes Mal bewundernd im Spiegel. »Das kann nicht dein Ernst sein. Willst du allen Ernstes damit anfangen, jetzt und hier?« Sie sieht mich mit zweifelnder Miene an.

»Es spricht doch nichts gegen jetzt und hier«, erwidere ich achselzuckend. »Ich meine, warum das Unvermeidliche aufschieben, oder?«

Ich erhebe mich von der Bank und stelle mich ohne jede Spur von Furcht vor sie hin, bin mir meiner überlegenen Kraft absolut sicher. Kurz erinnere ich mich an das Versprechen, dass ich abgegeben habe – nämlich dass es an ihr ist, den ersten Schritt zu tun. Ich reize sie nicht, sondern tue nichts weiter als dastehen und warten. Die Folgen sind viel zu ernst, viel zu unabänderlich für einen so rücksichtslosen Schritt. Mein einziges Ziel ist, ihr eine Lektion zu erteilen, sie ein bisschen von ihrem hohen Ross herunterzuholen. Ihr zeigen, dass ich stärker bin, als sie glaubt, und es für sie an der Zeit ist, sich zurückzuziehen und das Feld zu räumen. Wobei ich hoffe, dass sie das dazu anregt, sich alles noch mal zu überlegen und zu begreifen, dass ihr großer, böser Plan nicht so besonders clever ist.

Kopfschüttelnd verdreht sie die Augen, murmelt irgendetwas Unverständliches und versucht, sich an mir vorbeizudrängen, während sie das Ganze mit einer Handbewegung abtut. »Glaub mir. Es passiert, wenn es passiert.« Sie blickt nach hinten und kneift die Augen zusammen. »Du brauchst nur zu wissen, dass du es nicht unter Kontrolle haben, dass du es nicht entscheiden und es nicht kommen sehen wirst. Auf die Art macht es doch wesentlich mehr Spaß, findest du nicht auch?«

Doch gerade als sie an der Tür angelangt ist, sicher, davongekommen zu sein, tauche ich direkt vor ihr auf und versperre ihr den Ausgang. »Pass auf, Haven, wenn du Miles, Jude oder irgendjemand anders auch nur anrührst, dann kannst du was erleben …«

Sie schürzt die Lippen, und ihre Augen werden dunkler – dunkler, als ich sie je gesehen habe. »Und was, wenn ich auf Stacia losgehe?« Sie lächelt, obwohl es eher wie ein höhnisches Grinsen aussieht. »Was machst du dann? Riskierst du dein Leben – ja, sogar deine Seele – auch, um sie zu schützen?« Sie hält lange genug inne, dass ich die Worte verarbeiten kann, ehe sie sich in einem vorgetäuschten Anfall von Scham die Hand vor den Mund schlägt. »Ach, was soll’s. Ich hab ja total vergessen, dass sie dafür jetzt Damen hat. Mein Fehler.« Sie grinst erneut, drängt sich an mir vorbei und zur Tür hinaus.

Sie lässt mich allein zurück, in dem Wissen, dass ich vielleicht nur einen kleinen Sieg errungen habe, jedoch ohne jeden Zweifel, dass es mir gelungen ist, ihr meine Botschaft zu übermitteln.

Der nächste Schritt ist an ihr.