ACHTUNDZWANZIG
Das Erste, was ich bei unserer Ankunft sehe, ist so ziemlich das Letzte, was ich erwartet hätte.
Die Zwillinge.
Romy und Rayne Seite an Seite – Romy von Kopf bis Fuß in Pink und Rayne von Kopf bis Fuß in Schwarz. Den beiden klappt gleichzeitig der Unterkiefer herunter, sowie sie mich sehen.
»Ever!«, kreischt Romy, läuft auf mich zu und fällt mir um den Hals, wobei ihr magerer Körper gegen mich prallt und mich fast umwirft, ehe sie die dünnen Ärmchen um mich schlingt und mich festhält.
»Wir waren sicher, dass du im Schattenland festsitzt«, sagt Rayne und blinzelt kopfschüttelnd gegen ihre Kummertränen an. Sie tritt vor und stellt sich stumm neben ihre Schwester, die sich nach wie vor an mich klammert. Und gerade, als ich mir sicher bin, dass sie das Ganze mit irgendeinem bissigen Scherz überspielen wird, irgendeiner spöttischen Spitze darüber, wie enttäuscht sie ist, dass ich heil wieder herausgekommen bin, sagt sie etwas ganz anderes. »Ich bin ja so froh, dass wir uns geirrt haben.« Dabei ist ihre Stimme dermaßen brüchig, dass sie die Worte kaum herausbringt.
Da ich das Friedensangebot auf den ersten Blick als solches erkenne, lege ich den Arm um sie, wobei ich erstaunt bin, dass sie es zulässt und sich sogar an mich schmiegt. Sie erwidert meine Umarmung nicht nur, sondern bleibt viel länger darin, als ich je erwartet hätte. Erst nach einer Weile macht sie sich los, räuspert sich, kämmt sich mit den Fingern die rasiermesserscharf geschnittenen Ponyfransen und wischt sich mit ihrem langen Baumwollärmel die Nase.
Und obwohl ich darauf brenne, zu erfahren, wie sie hierhergekommen sind, muss das fürs Erste zurückstehen. Es gibt wesentlich drängendere Probleme.
Allerdings komme ich gar nicht dazu, sie anzusprechen, denn die Zwillinge nicken viel sagend mit den Köpfen und ergreifen das Wort. »Er ist da«, sagen sie, wenden sich um und zeigen auf die Großen Hallen des Wissens direkt hinter ihnen. »Er ist bei Ava. Es ist alles gut.«
»Dann ist er also … wieder geheilt?« Meine Stimme bricht, während ich hoffe, dass sie das gemeint haben, was sie mir zu meiner enormen Erleichterung sofort bestätigen. »Und ihr? Wohnt ihr jetzt wieder hier?«
Sie sehen einander an, mit unverändert finsteren Mienen, die indes schnell von wackelnden Schultern und Lachsalven abgelöst werden. Die beiden schütten sich aus vor Lachen und prusten über irgendeinen Witz, den nur sie verstehen, ehe sich Rayne so weit beruhigt hat, dass sie es mir erklären kann. »Willst du denn, dass wir wieder hier wohnen?« Sie mustert mich stirnrunzelnd und ist wieder ganz die Alte – na ja, zumindest weitgehend.
»Ich will nur, dass ihr glücklich seid«, sage ich wie aus der Pistole geschossen.» Wo auch immer das für euch zutrifft.«
Romy grinst und strafft die Schultern. »Wir bleiben bei Ava. Jetzt, da wir wissen, dass wir auf Besuch kommen können, wann immer wir wollen, müssen wir ja nicht mehr hier wohnen. Außerdem mögen wir die Schule.«
»Ja, und die Schule mag uns.« Rayne ringt sich eines ihrer seltenen kurzen Lächeln ab, das ihre Augen zum Tanzen bringt. »Ich bin zur Klassensprecherin gewählt worden. «
Ich nicke, nicht im Geringsten erstaunt darüber.
»Und Romy wurde bei den Cheerleaders aufgenommen«, sagt sie und verdreht die Augen.
»Ich glaube, das viele Üben mit Riley, damals, als sie noch hier gewohnt hat und viel mit uns zusammen war, also, das hat echt geholfen.« Romy zuckt bescheiden die Schultern.
»Riley hat euch Cheerleading beigebracht?« Ich muss blinzeln, da ich bass erstaunt bin, obwohl ich gar nicht weiß, warum.
Romy nickt. »Sie wollte eben genau wie du sein. Sie hat sich jede einzelne Figur gemerkt, die du je gemacht hast, und sie dann uns gezeigt.«
Ich presse die Lippen zusammen, lehne mich an Damen und genieße den Schutz seiner starken, verlässlichen Wärme und seiner Hand, die meine drückt. Ich weiß ganz sicher, sicherer als je zuvor, dass ich das jederzeit haben kann, wann immer ich es will und brauche. Er wird immer für mich da sein.
»Apropos Vermisste …«, wende ich mich erneut an die Zwillinge.
Sie sehen erst einander an und dann mich.
»Ich kenne jemanden, der euch echt gern wiedersehen würde.«
Ich male mir den alten Engländer aus, der mir damals begegnet ist, als ich auf die Hütte gestoßen bin, in der sie beide lebten. Damals, als ich die Wahrheit über ihre Verbindung zu meiner Schwester und zu Ava erfahren habe, und nun schicke ich ihnen das Bild auf telepathischem Weg.
»Leider ist er aber ziemlich verwirrt. Irgendwie ist er auf die Idee gekommen, dass Romy die Sture und Rayne die Lässige wäre, aber wir wissen ja wohl alle, dass das nicht stimmt.«
Sie sehen zwischen Damen und mir hin und her, ehe sie erneut kichernd losprusten. Damen und ich stehen ratlos dabei und haben keine Ahnung, was sie so witzig finden, also konzentrieren wir uns rasch wieder aufeinander.
Und so finden uns Ava und Jude vor, als sie aus den Hallen des Wissens kommen und die steilen Marmorstufen hinabsteigen.
Die Zwillinge hören nicht auf zu kichern.
Damen und ich kommunizieren – mein Kopf auf seiner Schulter, unsere Hände fest verschlungen.
Und mehr braucht Jude auch nicht zu sehen, um zu begreifen, dass die Entscheidung gefallen ist.
Zu begreifen, dass Damen und ich füreinander bestimmt sind.
Dass alles, was zwischen uns passiert ist, längst vorüber war, ehe es richtig angefangen hat.
Er bleibt auf der letzten Stufe stehen und lässt sich von Ava überholen, während er mir tief in die Augen sieht. Er hält den Blickkontakt für mein Gefühl sehr lange, jedoch werden weder Worte ausgetauscht noch telepathische Gedanken übermittelt.
Doch Worte sind gar nicht nötig, wenn die Botschaft klar ist.
Dann holt er tief Luft und sammelt sich kurz, ehe er zustimmend nickt. Wir beide wissen, dass es damit besiegelt, dass meine Entscheidung gefallen ist und nie mehr infrage gestellt werden wird.
Er wendet sich Ava und den Zwillingen zu und beschließt, sie auf ihrer Reise durch all ihre alten Lieblingsorte zu begleiten, wenn auch nur, um sich von seinem soeben erlittenen vermeintlichen Verlust zu erholen.
Sie wollen gerade losziehen, als ich mich noch einmal an die Zwillinge wende. »Hey – wie habt ihr das eigentlich gemacht? Wie seid ihr wieder hierhergekommen?«
Ava strahlt stolz, während die Zwillinge erst einander und dann mich ansehen, ehe Romy das Wort ergreift. »Wir haben uns nicht mehr selbst in den Mittelpunkt gestellt, sondern uns zur Abwechslung mal auf jemand anders konzentriert. «
Ich blinzele und begreife nicht, worauf sie hinauswollen.
»Wir waren bei Damen, als er dich gefunden hat«, erklärt Rayne. »Und als wir gesehen haben, in welchem Zustand Jude war, da wussten wir, dass es nur einen Weg gibt, um ihn zu retten, und das war, ihn hierherzuholen, ins Sommerland.«
»Was bedeutet hat, dass es bei unserem Bestreben, hierherzukommen, nicht mehr um uns ging, sondern um ihn. Unser einziges Ziel war, ihm zu helfen.« Romy lächelt. »Und es hat funktioniert.«
»Genau wie Ava es uns immer vorhergesagt hat«, ergänzt Rayne und sieht Ava bewundernd an. »Genau wie sie immer sagt …« Sie unterbricht sich und zeigt auf Ava. »Tja, wahrscheinlich solltest du es selber sagen, es ist ja schließlich dein Satz und so.«
Ava lacht und zaust Rayne kurz die Haare. »Es kommt alles auf deine Absichten an. Wenn du dich ausschließlich auf ein Problem konzentrierst, bekommst du nur mehr von dem Problem. Aber wenn du dich darauf konzentrierst, hilfreich zu sein, dann wird deine Energie auf die Hilfe gerichtet statt auf das Problem. Dass die Zwillinge also bisher nicht ins Sommerland zurückkehren konnten, lag daran, dass sie sich allzu sehr auf sich selbst und auf das Problem, hierherzugelangen, konzentriert haben. Doch diesmal ging es ihnen einzig und allein um Jude, und schon waren sie im Handumdrehen hier. Wann immer du nach einer Lösung suchst, hast du positive Gefühle – und wann immer du ein Problem fixierst, hast du negative Gefühle, die einen, wie du weißt, nie ans Ziel bringen. Wenn du aber erst einmal die Konzentration von dir selbst und deinen Wünschen abziehst und sie stattdessen darauf richtest, wie etwas, was du dir wünschst, auch jemand anders nützen könnte, tja, dann wird es dir wie von selbst gelingen«, sagt sie mit sanfter, süßer Stimme. »Das ist der Schlüssel zu jedem Erfolg. «
Rayne zuckt lächelnd die Achseln und schüttelt den Kopf. »Wer hätte das gedacht?«, meint sie.
Ja, wer hätte das gedacht? Lächelnd werfe ich Ava einen Blick zu, und ich weiß instinktiv, dass sie meine Wahl gutheißt. Dann richte ich meine Aufmerksamkeit auf Jude, der dank der wunderbaren heilenden Magie des Sommerlands wieder so stark und süß und sexy wie immer ist.
Er sieht nicht so aus, als hätte ihm Haven gerade erst sämtliche Knochen im Leib zertrümmert.
Als hätte ich ihm das Herz gebrochen.
Genau der Typ, den als Freund zu haben sich jedes Mädchen glücklich schätzen dürfte.
Genau der Typ, den seit Langem zu kennen ich mich glücklich schätzen darf.
Ich schließe die Augen und manifestiere mir meinen eigenen Nachtstern, hänge ihn hoch an den Himmel über dem Sommerland, genau über Judes Kopf. Ich weiß, dass Wünsche nicht immer so in Erfüllung gehen, wie wir möchten, aber wenn man daran glaubt und seinen Geist offen hält, dann bestehen gute Aussichten darauf, dass sie in irgendeiner Form wahr werden. Denn obwohl ich es damals nicht begriffen habe, ist das genau das, was mein Nachtstern für mich getan hat.
Indem er mich ins Schattenland geschickt hat, hat er mir geholfen, die Antwort zu finden, die ich gebraucht habe.
Und ehe sie alle weiterziehen, ehe mein Stern verblassen kann, hole ich tief Luft und wünsche mir etwas für Jude.
Wünsche ihm, dass er offen und voller Hoffnung bleibt und weiter daran glaubt, dass es irgendwo ein Mädchen gibt, das wesentlich besser zu ihm passt, als ich es je könnte.
Wünsche ihm, dass er die Eine findet, die er so liebt wie sie ihn.
Wünsche ihm, dass er das findet, was ich bei Damen gefunden habe.
Und ich verlasse ihn mit diesem Wunsch. Lasse meinen Stern hoch am Himmel leuchten, so lange es geht. Sehe zu, wie sie in die eine Richtung davongehen, während Damen und ich die andere einschlagen und Hand in Hand, still und zufrieden, auf den Pavillon zuschlendern.
»Bist du dir sicher?«, fragt er, als wir direkt davor stehen, denn er hat eindeutig gemischte Gefühle in Bezug auf diesen erneuten Versuch.
Doch ich nicke nur und ziehe ihn hinein. Ich bin mir mehr als sicher. Ja, ich kann es kaum erwarten.
Es steckt so viel in diesem Südstaatenleben, das wir noch ergründen müssen, und nach dem, was ich im Schattenland gesehen habe, gab es unbestritten auch etliche richtig schöne Passagen, die ich unbedingt noch einmal nachvollziehen möchte.
Ich stehe vor dem Bildschirm und reiche ihm lächelnd die Fernbedienung. »Spul einfach zum guten Teil vor, nachdem du mir meine Freiheit verschafft, mein Vertrauen gewonnen und mich nach Europa mitgenommen hast …«