DREI
Musst du nicht langsam zur Schule aufbrechen?« Ich drehe den Deckel von der Flasche mit meinem Elixier ab und schaue zum Küchentisch, wo Sabine sitzt. Sie hat das schulterlange, blonde Haar ordentlich hinter die Ohren gesteckt, ist geschmackvoll und dezent geschminkt und trägt ein sauberes, frischgebügeltes und perfekt sitzendes Kostüm – und ich frage mich zwangsläufig, wie es wohl ist, sie zu sein. Wie es wohl ist, in einer Welt zu leben, in der alles so ordentlich, so methodisch und so akkurat eingerichtet ist.
In der es für jedes Problem eine logische Lösung gibt, für jede Frage eine akademische Erklärung und jeder Zweifel mit dem simplen Urteilsspruch schuldig oder nicht schuldig aufgelöst werden kann.
Eine Welt, in der alles schwarz oder weiß ist und in der sämtliche Schattierungen von Grau schleunigst weggewischt werden.
Es ist schon sehr lange her, dass ich in dieser Welt gelebt habe, und nach allem, was ich inzwischen gesehen habe, ist es ausgeschlossen, dass ich je wieder dort einziehen werde.
Sie sieht mich unverwandt an, mit strenger Miene und verkniffenem Mund und will sich gerade wiederholen, als ich sage: »Damen nimmt mich heute mit. Er müsste bald da sein.«
Ihr ganzer Körper verkrampft sich, als sie nur seinen Namen hört. Sie macht ihn für meinen Sündenfall verantwortlich, obwohl er an dem Tag nicht einmal in der Nähe des Ladens war.
Sie nickt und lässt den Blick langsam über mich streifen, wobei sie jede Einzelheit registriert. Beginnend an meinem Kopf, arbeitet sie sich bis zu den Zehen hinab, ehe sie erneut oben anfängt. Auf der Suche nach schlechten Vorzeichen, Warnleuchten, Alarmsignalen, eben irgendetwas, das neuen Ärger prophezeit. Die Art von verräterischen Symptomen, vor denen sie ihre Bücher über Kindererziehung gewarnt haben. Doch sie bekommt wenig mehr zu sehen als das Bild eines leicht gebräunten, blonden und blauäugigen Mädchens in einem weißen Sommerkleid und ohne Schuhe.
»Ich hoffe, wir kriegen dieses Jahr nicht noch mehr Ärger. « Sie hebt den Becher an die Lippen und späht mich über dessen Rand hinweg an.
»Und welche Art von Ärger meinst du damit?«, frage ich und hasse es, dass meine Stimme so leicht eine sarkastische Färbung annimmt, aber ich habe es langsam ein bisschen satt, dass sie mich ständig in die Defensive drängt.
»Ich denke, das weißt du.« Ihre Worte klingen abgehackt, und ihre Stirn ist gefurcht, während ich tief Luft hole und mir verkneife, so mit den Augen zu rollen, dass sie es sehen kann.
Ich bin hin und her gerissen zwischen tiefem Gram darüber, dass es so weit gekommen ist – die lange Liste täglicher Schuldzuweisungen, die nie wieder gelöscht werden kann –, und Wut darüber, dass sie sich weigert, mich beim Wort zu nehmen – das, was ich sage, als die Wahrheit zu akzeptieren und einzusehen, dass das die Person ist, die ich wirklich, ehrlich bin, mit allen Vor- und Nachteilen.
Doch ich zucke nur die Achseln, bevor ich ihr antworte. »Tja, dann wird es dich ja freuen zu hören, dass ich nicht mehr trinke. Ich habe kurz nach der Suspendierung damit aufgehört. In erster Linie weil es mir nicht besonders gutgetan hat, und auch wenn du das jetzt wahrscheinlich nicht hören willst, ja vielleicht nicht einmal glaubst, es hat meine Begabungen in übelster Art und Weise beeinträchtigt.«
Sie wird wütend. Als sie mich das Wort Begabungen aussprechen hört, stellt sie förmlich die Stacheln auf. Nachdem sie mich bereits als erbärmliche, geltungssüchtige Betrügerin abgestempelt hat, die unmissverständlich um Hilfe ruft, ist ihr meine Verwendung dieses Worts zutiefst verhasst. Es ist ihr unerträglich, dass ich mich weigere, klein beizugeben, dass ich mich weigere, mich ihr zu unterwerfen.
»Außerdem«, sage ich und tippe mit meiner Flasche gegen die Arbeitsfläche, während ich sie aus schmalen Augen ansehe, »hast du wahrscheinlich ohnehin schon Mr. Muñoz überredet, mich auszuspionieren und dir jeden Abend einen vollständigen Bericht zu liefern.« Ich bereue meine Worte, sowie ich sie ausgesprochen habe, denn selbst wenn das auf Sabine zutreffen sollte, ist es Mr. Muñoz gegenüber echt nicht fair. Er ist immer nett und hilfsbereit mir gegenüber gewesen und hat mir kein einziges Mal ein schlechtes Gewissen deswegen gemacht, wie ich bin. Wenn überhaupt, dann ist er eher neugierig, fasziniert und erstaunlich gut informiert. Ein Jammer, dass er seine Freundin nicht auch davon überzeugen kann.
Aber trotzdem, wenn es ihr dermaßen widerstrebt, mich so zu akzeptieren, wie ich bin, warum soll ich dann so schnell akzeptieren, dass sie in meinen alten Geschichtslehrer verliebt ist?
Abgesehen davon, dass es mir gut anstünde.
Und zwar nicht nur, weil ein zweifaches Unrecht so gut wie nie ein Recht ergibt, sondern weil ich im Endeffekt, ganz egal, was sie denkt, und ganz egal, was ich sage, in Wirklichkeit nur will, dass sie glücklich ist.
Tja, das und dass sie über all das hinwegkommt, damit wir wieder so leben können wie zuvor.
»Hör mal«, sage ich, bevor sie reagieren kann, da ich unbedingt verhindern muss, dass die Situation noch schlimmer wird, als sie schon ist. Ehe das Ganze zu einer Brüllorgie ausartet, wie wir sie schon oft hatten, seit sie mich dabei ertappt hat, wie ich ihrer Freundin unter dem Decknamen Avalon die Zukunft vorhergesagt habe. »Ich hab’s nicht so gemeint. Ehrlich. Es tut mir leid.« Ich nicke. »Können wir also bitte Waffenstillstand schließen? Einen, bei dem du mich akzeptierst und ich dich und wir danach glücklich und zufrieden leben, in Frieden und Freude und Harmonie und so weiter?«
Ich flehe sie praktisch mit Blicken an, nachzugeben, doch sie schüttelt den Kopf und murmelt etwas kaum Verständliches. Es geht irgendwie darum, dass ich von jetzt an sofort nach der Schule nach Hause kommen soll, bis sie mir andere Anweisungen erteilt.
Doch obwohl ich sie liebe – obwohl ich ihr dankbar für alles bin, was sie getan hat –, es wird keine Einschränkungen geben, keinen Hausarrest, nichts dergleichen. Denn schließlich muss ich nicht hier wohnen. Ich muss mich nicht mit all diesem Kram abfinden. Ich habe Alternativen – und zwar jede Menge. Und Sabine hat keine Ahnung, was ich alles auf mich nehme, um ihr etwas anderes vorzugaukeln.
Ich gebe vor zu essen, obwohl ich nicht mehr essen muss, ich gebe vor zu lernen, obwohl es nicht mehr nötig ist, ich gebe vor, genau wie jedes andere normale siebzehnjährige Mädchen zu sein, das in Bezug auf Essen, Wohnen und Unterhalt und so ziemlich ihr gesamtes Wohlergehen auf die Erwachsenen angewiesen ist – obwohl ich nicht einmal annähernd ein solches Mädchen bin. Ich bin so weit davon entfernt wie nur irgend möglich. Und es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie niemals mehr herausfindet, als sie bereits herausgefunden hat.
»Wie wär’s damit?«, frage ich, lasse mein Elixier in der Flasche herumwirbeln und sehe zu, wie es glitzert und leuchtet, während es an den Seiten hinauf- und hinunterläuft. »Ich werde mich mit aller Kraft darum bemühen, keinen Ärger mehr zu kriegen und dir keinen Stress zu machen – wenn du einwilligst, das Gleiche zu tun. Abgemacht?«
Sie sieht mich mit zusammengezogenen Brauen an und versucht offenbar zu ergründen, ob ich es ernst meine oder gerade eine Drohung ausgestoßen habe. Einen Moment lang schürzt sie die Lippen, lange genug, um ihre Worte zu wählen, ehe sie antwortet. »Ever – ich – ich mache mir einfach nur solche Sorgen um dich.« Sie schüttelt den Kopf und fährt mit einem Finger den Rand ihres Bechers entlang. »Ob du es nun zugibst oder nicht, du hast ganz massive Probleme, und ich bin mit meiner Weisheit am Ende. Ich weiß nicht mehr, wie ich mit dir umgehen soll, wie ich an dich rankommen soll, wie ich dir helfen kann …«
Ich knalle den Deckel auf die Flasche. Mein letztes Quäntchen guter Wille hat sich in Luft aufgelöst. »Ja, gut, vielleicht hilft das ja. Erstens – wenn du mir wirklich helfen willst, dann könntest du schon mal damit anfangen, dass du mich nicht als verrückt bezeichnest.« Ich schüttele den Kopf und streife die Sandalen über die Füße, da ich spüre, wie Damen in unsere Einfahrt einbiegt, und das keine Sekunde zu früh. »Und zweitens …« Ich werfe mir die Tasche über die Schulter und erwidere ihren bösen Blick mit einem ebensolchen meinerseits. »Du könntest dir auch abgewöhnen, mich als geltungssüchtige, schwer gestörte, bedürftige Betrügerin oder Ähnliches zu bezeichnen. Die beiden Punkte allein wären schon ein sehr guter Anfang, um mir zu helfen, Sabine.«
Ich lasse ihr keine Zeit, zu reagieren, stürme aus der Küche und aus dem Haus, schlage die Tür wesentlich fester zu als beabsichtigt und eile auf Damens Auto zu.
Ich lasse mich auf den weichen Ledersitz gleiten und zwinkere ihm zu.
»So weit ist es also schon gekommen«, sagt er.
Ich folge seinem ausgestreckten Zeigefinger bis zu dem Fenster, hinter dem Sabine steht. Sie macht sich nicht die Mühe, durch die Jalousien zu spähen oder durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Sie versucht nicht einmal zu verbergen, dass sie mich beobachtet – uns beobachtet, sondern steht einfach nur da mit zusammengepressten Lippen und ernster Miene, die Hände in die Hüften gestemmt, und starrt uns beide an.
Ich seufze und weiche ihrem Blick aus. »Sei bloß froh, dass ich dir das Verhör erspart habe, das dir geblüht hätte, wenn du reingekommen wärst.« Ich schüttele den Kopf. »Glaub mir, ich hatte meine Gründe, als ich dich gebeten habe, draußen zu warten.«
»Reitet sie immer noch darauf rum?«
Ich nicke und verdrehe die Augen.
»Bist du sicher, dass ich nicht mit ihr reden soll? Vielleicht würde es helfen.«
»Vergiss es.« Ich schüttele den Kopf und wünschte, er würde schnellstens zurücksetzen und mich von hier wegbringen. »Man kann nicht mit ihr reden – sie ist komplett außer sich, und glaub mir, wenn du versuchst, mit ihr zu reden, machst du es nur schlimmer.«
»Schlimmer als der böse Blick, den sie mir gerade von ihrem Spähposten am Fenster zugeworfen hat?« Er schaut zwischen Rückspiegel und mir hin und her und fährt aus der Einfahrt, wobei er den Mund auf eine Weise verzieht, die mir eindeutig zu neckisch ist.
Das hier ist ernst.
Ich meine es ernst.
Und auch wenn das alles für ihn nicht so ernst erscheinen mag, ist es für mich ein ganz schöner Brocken.
Doch als ich ihn erneut ansehe, beschließe ich, nachsichtig mit ihm zu sein. Ich rufe mir in Erinnerung, dass ihn die Anzahl seiner Lebensjahre, der Reichtum seiner sechs Jahrhunderte Lebenserfahrung, den kleinen Alltagsdramen, die immer so viel Raum einnehmen, mehr oder weniger ungerührt gegenüberstehen lässt.
In Damens Augen fällt so ziemlich alles andere außer mir in die Kategorie »Nicht der Mühe wert«. Das geht so weit, dass es den Anschein hat, als wäre das Einzige, was ihm momentan überhaupt noch am Herzen liegt, das Einzige, worauf er sich überhaupt noch konzentriert – noch mehr als darauf, ein Gegengift zu finden, damit wir nach vierhundert Jahren Warten endlich zusammen sein können –, meine Seele vor dem Schattenland zu bewahren. In seinen Augen spielt alles andere daneben kaum eine Rolle.
Und auch wenn ich durchaus kapiere, dass es ums große Ganze geht, kann ich trotzdem nicht aufhören, mir auch über die kleineren Dinge den Kopf zu zerbrechen.
Und zu Damens Pech kriege ich das am besten geregelt, indem ich immer und immer wieder darüber rede.
Glaub mir, du bist verschont worden, und zwar so was von verschont. Wenn du darauf bestanden hättest, reinzukommen, wäre es noch viel schlimmer geworden. Die Worte strömen von meinem Geist in seinen, während ich durch die Windschutzscheibe starre und erstaunt feststelle, wie unglaublich hell, heiß und sonnig der Tag bereits ist, obwohl es erst kurz nach acht Uhr morgens ist. Und immer wieder frage ich mich, ob ich mich je daran gewöhnen werde – ob ich je aufhören werde, mein neues Leben in Laguna Beach, Kalifornien, mit demjenigen zu vergleichen, das ich in Eugene, Oregon, zurückgelassen habe.
Ob ich je aufhören kann, zurückzublicken.
Immer wieder kehren meine Gedanken zu dem Thema zurück, bis mir Damen das Knie drückt und sagt: »Mach dir keinen Kopf, sie beruhigt sich schon wieder.«
Obwohl seine Stimme zuversichtlich klingt, sagt seine Miene etwas anderes. Seine Worte beruhen wesentlich mehr auf Hoffnung als auf Überzeugung – sein Wunsch, mich zu beruhigen, sticht seine Wahrheitsliebe locker aus. Denn in Wirklichkeit sieht es doch so aus: Wenn Sabine sich jetzt noch nicht beruhigt hat, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie es je tun wird – zumindest nicht in absehbarer Zeit.
»Weißt du, was mich am meisten stört?«, sage ich, wobei mir natürlich klar ist, dass er es weiß, denn er hat es schon öfter gehört, dennoch fahre ich fort: »Ganz egal, was ich ihr sage, ganz egal, wie oft ich versuche, es ihr zu beweisen, indem ich ihre Gedanken lese und ihr alle möglichen kleinen Ausschnitte aus ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft präsentiere, die ich gar nicht wissen könnte, wenn ich nicht hellsehen könnte – all das ändert irgendwie überhaupt nichts. Ja, es hat eher den Anschein, als würde es das genaue Gegenteil bewirken. Es bestärkt sie bloß darin, noch störrischer zu reagieren und keines meiner Argumente oder irgendetwas, was ich sonst in der Angelegenheit zu sagen habe, zu berücksichtigen. Sie lehnt es komplett ab, sich auch nur ein klein bisschen zu öffnen. Stattdessen wirft sie mir diesen grimmigen, abwertenden Blick zu und ist restlos davon überzeugt, dass ich schwindele und mir die ganze Geschichte bloß aus jämmerlicher Geltungssucht ausgedacht habe. Als hätte ich völlig den Verstand verloren.«
Bei diesem Thema komme ich immer richtig in Fahrt, ich kriege ein rotes Gesicht und rege mich wahnsinnig auf. »Selbst nachdem ich sie gefragt hatte, warum ich eigentlich so viel Zeit und Mühe darauf verwenden soll, meine Fähigkeiten zu verbergen, wenn ich nur scharf darauf bin, dadurch Aufmerksamkeit zu bekommen – selbst nachdem ich sie gebeten hatte, sich noch einmal ihr eigenes dämliches Argument durch den Kopf gehen zu lassen, damit sie begreift, dass es vollkommen unsinnig ist –, hat sie immer noch nicht nachgegeben. Ich meine, sie hat mir allen Ernstes Betrug vorgeworfen!« Ich schließe die Augen und runzele die Stirn und sehe den Moment so klar vor mir, als würde sich alles gerade jetzt abspielen.
Sabine, wie sie am Morgen nach Romans Tod in mein Zimmer gestürzt kam, an dem Morgen, nachdem ich jegliche Hoffnung verloren hatte, jemals wirklich mit Damen zusammen zu sein oder jemals das Gegengift zu bekommen. Wie sie mir nicht mal Zeit gelassen hat, richtig aufzuwachen, mir das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen und mich irgendwie zu wappnen.
Wie sie mich mit einem Schwall selbstgerechter Wut konfrontiert, mich aus schmalen Augen angefunkelt und mich angeblafft hat: »Ever, findest du nicht, dass du mir für gestern Abend eine Erklärung schuldig bist?«
Ich schüttele die Erinnerung daran ab und schaue zu Damen. »Ihrer Meinung nach«, fahre ich fort, »gibt es nämlich keine übersinnlichen Kräfte, keine außersinnliche Wahrnehmung oder irgendetwas dergleichen. Ihr zufolge kann niemand in die Zukunft sehen. Es ist nur eine erlogene Behauptung von geldgierigen, skrupellosen, betrügerischen Scharlatanen wie mir! Und ich habe mutwillig von dem Augenblick an Betrug betrieben, als ich für meine erste Sitzung als Wahrsagerin Geld genommen habe. Und nur für den Fall, dass du es nicht weißt, so etwas hat juristische Konsequenzen, die sie mir natürlich postwendend genüsslich aufgelistet hat. Als sie es dann gestern Abend fertiggebracht hat, mir die Sache noch mal aufs Butterbrot zu schmieren, hab ich sie gefragt, ob sie mir einen guten Anwalt empfehlen könne, da mir langsam klar würde, dass ich in großen Schwierigkeiten stecke.« Ich verdrehe die Augen beim Gedanken daran, wie schlecht das angekommen ist.
Nervös zupfe ich am Saum meines kurzen, weißen Baumwollkleids und balanciere die offene Flasche mit Elixier auf dem Knie, während ich mich ermahne, mich zu beruhigen und es einfach so stehen zu lassen. Wir haben das Ganze schon zigmal durchgekaut, und trotzdem bringt es mich jedes Mal nur noch mehr aus der Fassung.
Ich sehe aus dem Fenster, während Damen langsam abbremst, um eine ältere Frau mit einem Surfbrett in der einen Hand und einer Hundeleine mit einem gelben Labrador in der anderen über die Straße zu lassen. Der Hund erinnerte mich so sehr an meinen alten Hund Buttercup mit seinem wedelnden Schwanz, dem glänzend gelben Fell, den fröhlichen braunen Augen und der niedlichen rosa Schnauze, dass ich zweimal hinsehen muss und sich der altbekannte Schmerz wieder meldet – die stetige Erinnerung an alles, was ich verloren habe.
»Hast du sie daran erinnert, dass sie diejenige ist, die dich mit Ava bekannt gemacht hat, was dich ja dann unbeabsichtigterweise zu dem Job bei MYSTICS & MOONBEAMS geführt hat?«, fragt Damen und holt mich damit in die Gegenwart zurück.
Ich nicke, schaue auf meiner Seite aus dem Fenster und sehe den Hund im Spiegel immer kleiner werden. »Ich habe es gestern Abend erwähnt, und weißt du, was sie gesagt hat?«
Ich lasse die Szene aus meinem Geist in seinen strömen. Sabine steht am Küchentresen, vor sich einen Berg Gemüse, das sie putzen und zerkleinern will. Ich habe meine Joggingsachen angezogen, weil ich ausnahmsweise einmal ohne Theater das Haus verlassen will. Doch alle beiden Vorhaben werden brutal sabotiert, als sie in ihrem endlosen Kampf gegen mich die fünfzehnte Runde einläutet.
»Sie hat gesagt, es sei ein Gag gewesen. Ein Partyspaß. Rein zu Unterhaltungszwecken. Dass man es keinesfalls ernst nehmen soll.«
Eigentlich will ich noch weiterreden, da ich noch nicht einmal annähernd am Ende angelangt bin, da sieht er mich an und sagt: »Ever, wenn ich in meinen sechshundert Lebensjahren eines gelernt habe, dann ist es das, dass die Menschen Veränderungen fast ebenso sehr hassen, wie sie es hassen, wenn man ihre Überzeugungen infrage stellt. Ehrlich. Sieh dir nur an, wie es meinem armen Freund Galileo ergangen ist. Er wurde gnadenlos niedergemacht, weil er die Kühnheit besaß, zu behaupten, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sei. Es ging so weit, dass er vor Gericht gestellt, der Ketzerei schuldig gesprochen und zum Widerruf gezwungen wurde, und dann musste er den Rest seines Lebens unter Hausarrest verbringen, obwohl wir doch heute alle genau wissen, dass er absolut Recht hatte. Also wenn du’s dir genau überlegst, bist du noch ziemlich gut weggekommen, würde ich sagen.« Er lacht und wirft mir einen Blick zu, der praktisch einer Aufforderung gleichkommt, es leichtzunehmen und mitzulachen, aber ich bin einfach noch nicht so weit. Eines Tages kann ich das vielleicht lustig finden, doch dieser Tag existiert in einer weit entfernten Zukunft, die ich noch nicht sehe.
»Glaub mir«, sage ich und lege meine Hand auf seine, nicht ohne den vibrierenden Energieschleier zwischen uns zu registrieren. »Sie hat es auch mit Hausarrest versucht, doch da war sie bei mir an der falschen Adresse. Ich meine, es ist einfach unfair, dass ich sie und die Schwarz-Weiß-Welt, in der sie lebt, von vornherein akzeptieren soll, während sie mir überhaupt keine Chance gibt, mich zu erklären. Sie ist nicht einmal bereit, meinen Standpunkt auch nur in Betracht zu ziehen, sondern stempelt mich automatisch zu einem verrückten, bedürftigen, überspannten Teenager ab, nur weil ich zufällig Fähigkeiten besitze, die in ihrem engstirnigen Denken keinen Platz haben. Und manchmal macht mich das so wütend, dass ich echt …« Ich halte inne und presse die Lippen fest zusammen, da ich nicht weiß, ob ich es wirklich laut aussprechen soll.
Damen sieht mich abwartend an.
»Manchmal-kann-ich-es-gar-nicht-erwarten-bis-dieses-Jahrum-ist-und-wir-die-Schule-hinter-uns-haben-und-irgendwo- hin-ganz-weit-weg-gehen-können-wo-wir-unser-eigenes-Lebenführen-und-das-alles-hinter-uns-lassen-können. « Ich stoße die Worte so hastig hervor, dass sie alle ineinander übergehen und sich eines praktisch nicht mehr vom anderen trennen lässt. »Ich meine, ich habe ein schlechtes Gewissen dabei, erst recht nach allem, was sie für mich getan hat, aber Tatsache ist doch, dass sie nicht einmal die Hälfte davon weiß, was ich alles tun kann. Sie weiß bloß, dass ich übersinnliche Kräfte habe – weiter nichts! Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn ich ihr die ganze Wahrheit sage? Dass ich unsterblich bin und körperliche Kräfte habe, die sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen kann? Wie zum Beispiel die Macht der sofortigen Manifestation, ach und nicht zu vergessen die kleine Zeitreise, die ich neulich unternommen habe, ganz zu schweigen davon, dass ich meine Freizeit gern in der reizenden, etwas abgelegenen, alternativen Dimension namens Sommerland verbringe, wo ich in Kostümen aus vergangenen Epochen mit meinem unsterblichen Freund herumknutsche. Kannst du dir vorstellen, wie sie das aufnehmen würde?«
Damen sieht mich lächelnd an, und seine Augen glitzern auf eine Art, die mich augenblicklich mit Kribbeln und Hitze erfüllt. »Was hältst du davon, wenn wir das lieber gar nicht erst ausprobieren?«, fragt er.
Er hält an der Ampel und zieht mich an sich. Seine Lippen streifen über meine Stirn, meine Wange und meinen Hals, bis sie endlich, endlich mit meinen verschmelzen.
Nur Sekundenbruchteile, ehe die Ampel grün wird, löst er sich von mir, sieht mich noch einmal an und fragt: »Bist du dir sicher, dass du das durchziehen willst?«
Die Wärme seines tiefen Blicks brennt sich ein bisschen länger als nötig in meine Augen ein. Er lässt mir genug Zeit, um Nein zu sagen, zu sagen, dass ich noch nicht bereit bin, ja noch nicht einmal nahe daran, damit er wenden und woandershin fahren kann. Irgendwohin, wo es schöner, freundlicher, wärmer ist – zum Beispiel an einen weit entfernten Strand oder vielleicht sogar zu einem geheimen Ort im Sommerland –, weil er noch die schwache Hoffnung hegt, dass ich dann einwillige.
Er ist längst über die ganze Highschool-Szene hinaus – schon seit Jahrhunderten. Ich bin der einzige Grund, warum er hier ist. Der einzige Grund, warum er bleibt. Und jetzt, da wir zusammen sind, glücklich vereint nach mehreren schmerzhaften Jahrhunderten, in denen wir wieder und wieder auseinandergerissen wurden, begreift er einfach nicht, was für einen Sinn das alles haben soll. Sieht es als eine Art nutzlose Scharade an.
Und obwohl ich den Sinn auch nicht immer begreife, da es ziemlich schwierig ist, überhaupt irgendetwas zu lernen, wenn einem das Wissen einfach zufließt, indem man die Gedanken der Lehrer liest oder eine Hand auf ein Buch legt und so dessen Inhalt in sich aufsaugt, bin ich trotzdem fest entschlossen, dabeizubleiben und meinen Abschluss zu machen.
Vor allem weil es so ziemlich der einzige Teil meines reichlich bizarren Lebens ist, der auch nur halbwegs normal ist. Und ganz egal, wie sehr sich Damen auch langweilt, ganz egal, wie oft er mich bittet, alles sausen zu lassen, damit wir unser gemeinsames Leben beginnen können, tue ich es nicht. Kann es nicht. Aus irgendeinem sonderbaren Grund will ich einfach, dass wir beide unseren Schulabschluss machen.
Ich will das Abschlusszeugnis in der Hand halten und meine Mütze in die Luft werfen.
Und heute machen wir den ersten Schritt in Richtung auf dieses Ziel.
Lächelnd und nickend dränge ich ihn weiterzufahren, und als ich eine Spur von Unbehagen über sein Gesicht ziehen sehe, erwidere ich seinen Blick mit neu gewonnenem Selbstvertrauen und Kraft. Ich recke die Schultern und fasse mein Haar zu einem tief im Nacken sitzenden Pferdeschwanz zusammen, streiche die Falten in meinem Kleid glatt und wappne mich für die bevorstehende Schlacht.
Obwohl ich nicht genau weiß, was kommt oder was genau ich zu erwarten habe, obwohl ich in meine eigene Zukunft nicht ebenso leicht sehen kann wie in die aller anderen, weiß ich eines doch hundertprozentig sicher: Nämlich dass mich Haven nach wie vor für Romans Tod verantwortlich macht.
Mich nach wie vor für alles verantwortlich macht, was in ihrem Leben schiefgelaufen ist.
Und sie ist wild entschlossen, ihr Versprechen, mich zu ruinieren, einzulösen.
»Glaub mir, ich bin mehr als bereit.« Ich sehe aus dem Seitenfenster und suche die Menge nach meiner einst besten Freundin ab, da es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie den ersten Schritt tut, und ich hoffe, dass ich die Chance bekomme, das Blatt zu wenden, ehe wir uns alle beide zu etwas hinreißen lassen, das wir zwangsläufig bereuen werden.