DREISSIG
Sowie wir durch das Tor treten, halten wir Ausschau nach Haven. Doch sie bemerkt uns zuerst.
Das erkenne ich daran, wie sie mit allem aufhört – aufhört, zu reden, aufhört, sich zu bewegen, praktisch aufhört, zu blinzeln und zu atmen – und stattdessen nur noch gafft.
Sie dachte, ich sei tot.
Sie dachte, Jude sei tot.
Doch offenbar ist es nicht ganz so gelaufen, wie sie es geplant hatte.
Ich nicke bestätigend und streiche mir rasch das Haar nach hinten, damit sie meinen Hals deutlich sehen kann – nach wie vor ohne das Amulett. Sie soll wissen, dass ich nicht mehr verwundbar bin. Nicht mehr von einer Schwachstelle beeinträchtigt. Nicht mehr von mangelndem Urteilsvermögen gefährdet, sodass ich ständig den falschen Leuten vertraue oder Wissen falsch einsetze.
Darüber bin ich inzwischen komplett erhaben.
Womit ich ihr keine Wahl lasse, als sich mit mir auseinanderzusetzen, wenn sie mich schon nicht eliminieren kann.
Und als ich mir sicher bin, dass sie genug Zeit gehabt hat, um das alles zu verarbeiten, hebe ich die Hand, die mit der Damens verschlungen ist, hebe sie hoch genug, dass sie sie sehen kann. Sie soll wissen, dass wir nach wie vor zusammen sind, dass wir den Sturm überstanden haben, dass sie uns nicht besiegen kann und es daher am besten gar nicht erst versucht.
Und obwohl sie sich rasch wegdreht, sich wieder ihren Freunden zuwendet und so tut, als wäre alles ganz normal, wissen wir doch alle beide, dass dem nicht so ist. Ich habe ihren Plänen einen schweren Dämpfer versetzt, und falls sie das noch nicht restlos kapiert hat, dann wird sie es bald einsehen.
Wir gehen an ihr vorbei, über den Platz und hinüber zu der Bank, auf der Stacia ganz allein sitzt, die Kapuze über den Kopf gezogen und die Kopfhörer in die Ohren gestopft, während eine überdimensionale Designer-Sonnenbrille ihr halbes Gesicht bedeckt und sie gegen den Strom von Beleidigungen abschirmen soll, der von so gut wie jedem Schüler ertönt, der an ihr vorbeigeht. Sie wartet auf Damen, damit er sie gegen die anderen in Schutz nimmt.
Ich bleibe stehen, erstaunt darüber, dass sie genau wie ich aussieht oder vielmehr wie mein altes Ich, und frage mich, ob sie das auch erkennt, ob sie für die Ironie des Ganzen empfänglich ist.
Damen drückt mir mit fragendem Blick die Hand. Er hat mein Zögern als Unwillen missverstanden, es durchzuziehen, obwohl wir es schon hunderttausendmal besprochen haben.
»Ich komm schon klar«, sage ich nickend. »Ehrlich. Keine Sorge. Ich weiß genau, was ich sagen muss.«
Lächelnd beugt er sich herüber, um mich zu küssen, und seine Lippen streifen weich und zart über meine Wange. Eine schnelle und einfache Erinnerung daran, dass er mich liebt – dass er an meiner Seite ist und dort immer bleiben wird. Doch auch wenn es wirklich nett von ihm ist und ich mich auf jeden Fall darüber freue, stelle ich das alles ohnehin nicht mehr infrage.
Stacia zuckt zusammen, sowie sie mich sieht. Mir entgeht nicht, wie sie grimmig die Lippen zusammenkneift und unwillkürlich die Schultern hochzieht, als ich mich neben sie setze.
Da sie keine Ahnung hat, was ich will, aber eindeutig überzeugt davon ist, dass es nichts Gutes sein kann, schiebt sie sich die Brille auf die Stirn und wirft Damen einen Hilfe suchenden Blick zu, doch er setzt sich einfach neben mich, während ich sie kopfschüttelnd anschaue. »Sieh nicht ihn an, sieh mich an«, sage ich. »Ob du’s glaubst oder nicht, ich bin diejenige, die dich aus diesem Schlamassel herausholen wird. Ich bin diejenige, die alles wieder so hinbiegen wird, wie es war. Oder zumindest fast so, wie es war.«
Sie schaut hektisch zwischen uns hin und her und fingert nervös am Saum ihres Kleids herum, unschlüssig, ob ich es wirklich ernst meine oder ob sie nur mit einem von mir ersonnenen Racheplan aufs Kreuz gelegt werden soll.
Schon macht sie Anstalten, aufzustehen und zu gehen und ihr Glück bei den feindlichen Massen zu versuchen, als ich sie aufhalte. »Aber, wie du wahrscheinlich bereits erraten hast, gibt es eine Bedingung.«
Sie mustert mich argwöhnisch und vermutet das absolut Schlimmste.
»Die Bedingung dafür, dass ich dich an Tisch A zurückhole, ist, dass du deine Beliebtheit für das Gute einsetzt und nicht für das Böse.«
Sie bricht in ein nervöses Lachen aus, das fast ebenso schnell wieder endet, wie es begonnen hat. Außer Stande, zu erkennen, ob ich es ernst meine oder nicht, schaut sie Damen fragend an, doch die einzige Antwort, die er ihr gibt, ist ein lässiges Achselzucken, wobei er wiederum auf mich zeigt.
»Ich mache keine Witze. Ich meine es hundertprozentig ernst. Für den Fall, dass es dir nicht aufgefallen ist, für den Fall, dass du es schon vergessen hast – du hast dich mir gegenüber immer wie ein total fieses Miststück benommen, seit ich diese Schule zum ersten Mal betreten habe. Dir hat es viel zu viel Spaß gemacht, mir das Leben zur Hölle zu machen. Und ich könnte wetten, dass du mehr Zeit damit verbracht hast, Pläne gegen mich zu schmieden, als für deine College-Aufnahmeprüfung zu büffeln.«
Sie sieht auf ihre Knie herab und windet sich förmlich unter meinen Anschuldigungen, während mein scharfer Blick sie erröten lässt, doch sie ist klug genug, um zu schweigen. Ich bin noch lange nicht mit ihr fertig und habe noch etliche Hühnchen mit ihr zu rupfen.
»Ganz zu schweigen davon, wie du versucht hast, mir meinen Freund vor der Nase wegzuschnappen – mehr als einmal.« Ich sehe sie aus schmalen Augen an, ohne jede Gnade. »Aber tun wir bloß nicht so, als wäre ich die Einzige, die du gequält hast, denn wir wissen ja wohl beide, dass das nicht stimmt. So ziemlich jeder, den du als schwächer oder dir sonst irgendwie unterlegen betrachtet oder auch als Bedrohung für dich empfunden hast, war in deinen Augen ein Opfer. Du hast ja nicht mal vor deiner angeblich besten Freundin Halt gemacht.« Sie sieht mich mit gerümpfter Nase und schmalen Augen an, sodass ich mich genötigt sehe, ihrer Erinnerung nachzuhelfen. »Ähm, hal-lo – Honor?« Ich frage mich, ob ich hier womöglich nur meine Zeit verschwende, ob es überhaupt möglich ist, zu einer so eitlen, selbstsüchtigen und emotional unterentwickelten Person wie ihr durchzudringen. »Was glaubst du, warum sie sich gegen dich gewandt hat? Glaubst du, das ist alles Havens Schuld? Denk noch mal nach. Sie hat das jetzt schon seit geraumer Zeit geplant, vor allem weil du sie behandelt hast wie den letzten Dreck – so wie du eben jeden behandelst. Aber auch weil du sogar versucht hast, ihr ihren Freund wegzunehmen, und soweit ich gehört habe, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.«
Sie kämmt sich mit den Fingern das Haar und streicht es so zurecht, dass es zum Teil ihr Gesicht bedeckt. Sie will mich auf keinen Fall ansehen, und sie will auch nicht, dass ich sie ansehe, aber zumindest versucht sie nicht, etwas abzustreiten, von dem wir beide wissen, dass es wahr ist.
»Aber ich habe auch gehört, dass du dabei ungefähr so erfolgreich warst wie bei deinem Versuch, dir Damen zu schnappen. Und obwohl dein Benehmen so absolut grausam und berechnend und völlig unangebracht ist, helfe ich dir trotzdem dabei, deine alte Stellung zurückzuerobern.«
Sie sucht mein Gesicht ab, um zu entscheiden, ob das wirklich wahr ist, und sowie ich es bestätigt habe, widmet sie sich wieder dem intensiven Studium ihrer Knie.
»Und das nicht, weil ich dich mag – denn das tue ich nicht –, und auch nicht, weil ich glaube, dass du es verdient hast – ich weiß nämlich definitiv, dass das nicht der Fall ist –, sondern nur deshalb, weil das, was Haven tut, noch schlimmer ist als das, was du getan hast. Und da ich nicht daran interessiert bin, hier an der Schule die Bienenkönigin zu werden, habe ich beschlossen, diese Position an dich zurückzugeben. Allerdings sind, wie gesagt, ein paar Bedingungen damit verknüpft. Die Hauptbedingung ist, dass du dir ab jetzt, von diesem Moment an, eine andere Methode suchen musst, um dich gut zu fühlen. Du musst aufhören, alle anderen niederzumachen, nur damit du dir größer und besser vorkommst, weil das so ziemlich das Mieseste und Billigste ist, was man tun kann. Und wenn die Erfahrung, die du gemacht hast, diese Umkehrung deines gesellschaftlichen Erfolgs, dich das nicht gelehrt hat, dann weiß ich nicht, was dich dann noch belehren kann. Ich meine, jetzt, da du erlebt hast, wie es ist, auf der anderen Seite zu stehen, jetzt, da du aus erster Hand weißt, was für ein Gefühl es ist, ausgestoßen zu sein und so schlecht behandelt zu werden, wie du früher alle anderen behandelt hast, kann ich mir nicht vorstellen, dass du das wirklich noch einmal irgendjemandem antun willst. Aber vielleicht ja doch. Bei dir kann man nie wissen.«
Sie sitzt einfach nur weiter da, mit hängenden Schultern. Ihr Kopf wippt auf und ab, während sie die Spitzen ihrer teuren Designer-Sandalen aneinander tippt, der einzige Hinweis darauf, dass sie zuhört, dass sie mich ernst nimmt, und das ist alles, was ich brauche, um fortzufahren.
»Es ist doch so: Du bist hübsch und intelligent, und du besitzt sämtliche Vorzüge, die man sich in dieser Welt nur wünschen kann, und eigentlich sollte das allein genügen, damit du dich gut fühlst. Also könntest du vielleicht, statt dich weiter wie eine gierige Göre aufzuführen und dir alles zusammenzuklauen, was du haben willst, versuchen, einen Weg zu finden, deine Gaben dafür einzusetzen, einen guten Einfluss auf andere auszuüben. Du magst das für abgedroschen halten, du magst mich albern finden, aber das ist trotzdem mein voller Ernst. Wenn du wieder der Rockstar dieser Schule sein willst, dann wirst du genau das tun. Andernfalls habe ich nicht das geringste Interesse daran, dir zu helfen. Von mir aus kannst du den Rest des Jahres so verbringen, und weder Damen noch ich werden auch nur einen Finger rühren, um dir zu helfen.«
Sie holt tief Luft. »Ist das ihr Ernst?«, fragt sie dann an Damen gerichtet. »Meint sie das wirklich?«
Damen nickt nur, schlingt den Arm um mich und zieht mich enger an sich. »Allerdings. Du solltest also auf sie hören und dir vielleicht ein paar Notizen machen, falls nötig.«
Sie seufzt und sieht sich auf dem Schulgelände um, das sie einst beherrscht hat, jetzt aber fürchtet. Und obwohl klar ist, dass sie noch lange nicht bekehrt ist, dass sie nur bis jetzt mitgemacht hat, weil sie ganz unten angekommen ist und nichts zu verlieren hat und nirgends mehr hinkann als noch weiter nach unten, ist das immerhin ein Anfang.
Immer noch gut genug für mich.
Also gönne ich ihr noch einen Augenblick, damit sie alles verarbeiten kann, und warte, bis sie sich mir zuwendet und zustimmend nickt. »Okay«, sage ich dann, »du fängst folgendermaßen an …«
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sie gleich an Ort und Stelle begonnen. Und Damen und ich hätten zugesehen, wie sie sich Honor genähert und den Plan sofort umgesetzt hätte.
Doch Stacia brauchte mehr Zeit.
Zeit, um zu überlegen, Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Obwohl sie zweifellos wieder an die Spitze kommen wollte, war ihr die Vorstellung, sich zu entschuldigen, dermaßen fremd, dass es letztlich nicht nur ein gutes Stück Überredung gekostet hat, sondern auch reichlich Nachhilfe, bis sie die richtigen Worte gefunden hatte.
Trotzdem – sosehr ich sie auch gedrängt habe, sosehr ich auch versucht habe, sie davon zu überzeugen, dass es das Richtige war, hatte ich tief in meinem Inneren eigentlich nicht erwartet, dass es funktionieren würde – zumindest nicht gleich. Ich war mehr daran interessiert, sie an den Gedanken zu gewöhnen, ein besserer Mensch zu werden, und außerdem wollte ich sie auch nicht im Zweifel darüber lassen, dass ich meine, was ich sage.
Meine Hilfe ist an Bedingungen geknüpft. Und wenn sie sie haben will, tja, dann muss sie sie sich verdienen.
Ich lasse mich nicht noch mal aufs Kreuz legen.
Als dann in der Mittagspause Haven und ihre Lakaien aus dem Unterricht kommen und ihren Tisch von Damen, Miles, Stacia und mir besetzt vorfinden – tja, da ist ihnen nicht ganz klar, was sie davon halten sollen.
Und offensichtlich weiß auch Haven nicht genau, was sie von mir halten soll.
Aber das weiß Honor ja auch nicht.
Sie stehen irgendwie nur ratlos da und gaffen ungläubig, als Craig und seine Freunde langsam auf uns zukommen und dankbar die Plätze einnehmen, die ihnen Damen anbietet. Sie würdigen die Geste mit einem »Hey« und einem Nicken, was oberflächlich betrachtet belanglos erscheint, jedoch eindeutig etwas ist, wozu sie sich früher nie herabgelassen hätten.
Und während Haven noch dasteht, mit vor Wut zitternden Händen und zusammengekniffenen, blutunterlaufenen Augen, tue ich einfach so, als würde ich es nicht bemerken. Ich blicke über die Gewitterwolke aus Hass hinweg, die sie ausströmt, und sage: »Du darfst dich gern zu uns setzen, wenn du willst – das heißt, solange du dich benimmst.«
Sie verdreht die Augen, zischt ein paar unverständliche Verwünschungen und macht Anstalten, sich abzuwenden. Dabei erwartet sie selbstverständlich, dass das Häuflein Getreuer ihr folgt, doch ihre Macht über sie ist nicht mehr das, was sie einst war. Sie lässt nach. Und es ist nicht zu übersehen, dass sie alle langsam ein bisschen genug von ihr haben. Als sie schließlich Damens Angebot annehmen, sich zu uns zu setzen, wendet sie sich mit funkelnden Augen an Honor und macht ihr damit klar, welche Wahl sie zu treffen hat.
Und gerade als sich Honor von uns abwenden und auf Haven zugehen will, springt Stacia auf. »Honor, wart mal«, ruft sie. »Es … es tut mir ehrlich leid!«
Die Worte klingen aus ihrem Mund so schrill, so unpassend, so fremd, dass Miles augenblicklich losprustet und ich sein Knie unsanft drücken muss, damit er aufhört.
Stacia sieht mich aus schmalen Augen und mit zusammengezogenen Brauen an, als wollte sie sagen: Siehst du, ich hab’s versucht, aber es hat nicht geklappt!
Doch ich nicke nur zu Honor hin, die unschlüssig dasteht, den Kopf schiefgelegt und mit fragendem Blick, während sie zwischen zwei angeblich besten Freundinnen schwankt, die sie beide nicht besonders leiden kann.
Sie zögert so lange, dass Haven beleidigt davonstürmt. Und obwohl ich versucht bin, ihr nachzusetzen, versucht, sie zu beruhigen, einen Weg zu finden, ihr zu helfen oder sie zumindest durch Reden zur Vernunft zu bringen, tue ich es nicht. Vielleicht später einmal, aber nicht jetzt. Fürs Erste muss ich diese Sache hier hinter mich bringen.
Ich gebe Stacia einen Anstoß mit meinem Blick, mit meinen Gedanken, docke mit meiner Energie an ihre an und dränge sie, weiterzumachen, jetzt nicht aufzuhören, auch wenn das Terrain beängstigend und unbekannt wirken mag.
Und im nächsten Augenblick sind sie schon weg.
Sie gehen nebeneinander her, Honor schreit und bombardiert Stacia mit einer langen Latte von Vorwürfen und sämtlichen guten Gründen, warum Stacia sich entschuldigen sollte, während Stacia geduldig zuhört, genau wie ich es ihr eingeschärft habe.
»Lauschst du?«, fragt Miles, stößt mich mit dem Ellbogen an und nickt zu den beiden hin.
»Soll ich?« Ich sehe ihn an.
»Ja, schon.« Er zwinkert. »Ich meine, was, wenn es nicht so läuft, wie du denkst? Was, wenn sie sich beide gegen dich verschwören? «
Doch ich lächele nur und sehe zu, wie sich Stacias Aura verändert und mit jedem Schritt ein bisschen lebendiger wird. Natürlich hat sie noch einen langen Weg vor sich und kommt womöglich nie ganz ans Ziel, aber ich bin trotzdem davon überzeugt, dass Auren nie lügen. Und ihre hat gerade einen halbwegs anständigen Anfang hingelegt.
Ich trinke einen Schluck von meinem Elixier und sehe Miles an. »Vertrauen ist keine Einbahnstraße«, sage ich zu ihm. »Hast du das nicht mal zu mir gesagt?«