DREIUNDZWANZIG
Die Wochen verstreichen, doch es verändert sich kaum etwas. Jude geht mir weiterhin aus dem Weg, bis ich zu einer Entscheidung komme. Damen wacht in der Schule weiter über Stacia, Miles wacht über meine Gefühle in Bezug darauf, dass Damen in der Schule über Stacia wacht, während ich weiterhin im Alarmzustand bin und auf den Moment warte, in dem Haven auf mich losgeht.
Doch das ist nur die Oberfläche.
Bei genauerem Hinsehen tun sich mehr als nur ein paar Risse auf.
Zum einen lässt sich die Tatsache nicht verbergen, dass Honor ebenso unglücklich darüber ist, Havens Nummer zwei zu sein, wie sie es als Stacias Nummer zwei war – vielleicht sogar noch mehr.
Zum zweiten – auch wenn ich mir da nicht sicher bin, da wir ja nicht miteinander reden oder so, doch ich schließe es daraus, mit welcher Entschlossenheit und Sehnsucht sie Tisch A beäugt – liegt mehr oder weniger auf der Hand, dass Stacia es allmählich satthat, von einem Jungen bewacht zu werden, der gegenüber ihren Reizen immun ist und sie eindeutig nur beschützen will.
Und was Haven angeht, nachdem sie mit praktisch jedem Jungen, der sie früher hat abblitzen lassen, etwas angefangen und ihn dann sitzen lassen hat, so beginnt das Spielchen sie allmählich zu langweilen. Außerdem ärgert sie sich immer mehr darüber, dass alle die verschiedenen Looks kopieren, die zu kreieren sie so viel Mühe kostet, was sie dazu zwingt, immer neue, noch bombastischere Stylings zu entwickeln, die aber letztlich auch imitiert werden.
Ich glaube, das Alpha-Weibchen zu sein, ist doch nicht ganz das, was sie sich davon versprochen hat. Die Realität wird langsam schal wie ein Job, der ihr keinen großen Spaß macht und für den sie eigentlich von vornherein nicht richtig qualifiziert war.
Das sehe ich daran, wie sie ihre angeblichen neuen Freundinnen anfaucht, wie sie dramatisch mit den Augen rollt, tiefe, laute Seufzer ausstößt und manchmal gar in Wutausbrüche und zorniges Aufstampfen verfällt, wenn sie schwer frustriert ist und alle es wissen sollen.
Das Leben an der Spitze zieht sie nach unten, und soweit ich es beurteilen kann, beginnt ihr Honor allmählich diesen Platz zu missgönnen, genau wie ich es vorhergesagt habe.
Trotzdem ist klar, dass keine von beiden die Absicht hat, ihre Position aufzugeben. Haven muss viel zu viel beweisen, und Honor, tja, ich habe zwar keine Ahnung, welche Stufe sie mit ihren magischen Kräften erreicht hat, jetzt, da Jude ihren Unterricht unterbrochen hat, ganz zu schweigen davon, was sie sich überhaupt hat aneignen können. Jedenfalls ist sie Haven nach wie vor nicht gewachsen, und das weiß sie auch ganz genau.
Und obwohl Miles und ich eigentlich nicht richtig darüber reden, selbst wenn ich mich Tag für Tag mehr oder weniger an die langweilige alte Prozedur halte, morgens zu trainieren, in der Schule wachsam zu bleiben und dann vor dem Schlafengehen noch einmal zu trainieren, nur um am nächsten Tag aufzustehen und das Ganze wieder von vorn zu beginnen –, weiß ich, dass ich nicht die Einzige bin, der das auffällt.
Damen merkt es auch.
Ich sehe es daran, wie sein Blick stets auf mich geheftet ist und mir folgt, wohin ich auch gehe. Er ist besorgt um mich, hat Angst.
Angst, dass sie allmählich die Nerven verliert – dass sie ohne Warnung explodiert und auf mich losgeht.
Angst, dass ich ihm nicht Bescheid sage, wenn es passiert, obwohl ich es versprochen habe.
Wahrscheinlich hat er guten Grund, sich Sorgen zu machen. Sie ist kurz vorm Überschnappen. Abgedreht. Komplett von der Rolle.
Wie eine Bombe Sekunden vor der Detonation.
Und wenn es passiert, bin ich die Erste, die sie anfällt.
Oder zumindest hoffe ich, dass ich es bin.
Lieber ich als Jude.
Auf dem Nachhauseweg von der Schule fahre ich am Laden vorbei, obwohl mich Jude gebeten hat, nicht zu kommen. Angeblich kann er meine Gegenwart nicht ertragen, bis ich eine klare Entscheidung getroffen habe, so oder so.
Trotzdem rede ich mir ein, dass es meine Pflicht sei – dass es ernsthaft meine Aufgabe sei, mich um ihn zu kümmern und dafür zu sorgen, dass er in Sicherheit ist und unversehrt bleibt und so weiter.
Doch als ich mich dabei ertappe, wie ich mir ein schickes neues Kleid und dazu passende Schuhe manifestiere sowie Frisur und Make-up im Rückspiegel kontrolliere, weiß ich, dass das nur einen Teil der Wahrheit ausmacht. Der andere Teil ist, dass ich ihn sehen muss. Sehen muss, ob seine Gegenwart etwas in mir auslöst.
Etwas, worauf ich bauen kann.
Etwas Starkes und Greifbares, das klar genug ist, um mich in die richtige Richtung zu weisen.
Vor der Tür zupfe ich noch einmal an meinen Kleidern und Haaren herum, ehe ich tief Luft hole und hineingehe. Fast rechne ich schon damit, Ava hinter dem Ladentisch sitzen zu sehen, denn es ist ein so schöner Tag, dass Jude den Sirenengesang des guten Wellengangs wohl kaum überhören kann, doch zu meiner Freude steht er brav hinter der Kasse. Er lacht und scherzt, als hätte er keine einzige Sorge auf der Welt. Mit entspannter Miene, seine Aura grün und luftig, tippt er die Käufe einer Kundin ein.
Einer hübschen Kundin.
Einer Kundin, deren wallende pinkfarbene Aura mir sagt, dass sie nur zum Teil wegen der Bücher da ist, die sie kauft, in erster Linie aber, um Jude zu sehen.
Ich bleibe stehen und frage mich, ob ich einfach wieder gehen und später wiederkommen soll, als die Tür hinter mir zufällt, die Glocke hart anschlägt und Jude über seine Kundin hinwegschaut und mich entdeckt. Prompt verdunkeln sich seine Augen, sein Lächeln versiegt, und seine Aura wird unscharf und matt – so ziemlich das Gegenteil dessen, wie sie aussah, als er mit ihr sprach.
Als würde allein mein Anblick genügen, um die Freude aus dem Raum zu saugen.
Er stopft ihr Zeug in eine Tüte und verabschiedet sich so hastig, so unvermittelt von ihr, dass ihr der Umschwung nicht verborgen bleiben kann. Sie mustert mich rasch von Kopf bis Fuß, begleitet von einem vorwurfsvollen Stirnrunzeln, murmelt irgendetwas Unverständliches und huscht an mir vorbei, während Jude sich am Ladentisch zu schaffen macht, als wäre ich gar nicht da.
Sie mag dich«, sage ich und sehe zu, wie er sich extra lange Zeit lässt, um den Durchschlag des Kassenzettels abzuheften.
»Sie mag dich und sie ist hübsch«, ergänze ich, ernte als Antwort aber nichts weiter als ein Schnauben.
»Sie mag dich und sie ist hübsch und sie hat eine gute Energie«, lasse ich nicht locker und nötige ihn, mich anzusehen, während ich näher trete. »Wobei sich allerdings die Frage stellt, was dir fehlt.«
Er hält inne. Hört auf, sich geschäftig zu geben und so zu tun, als würde ich nicht direkt vor ihm stehen, und sieht mich endlich an. »Du.« Er erklärt es so offen, so einfach, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. »Du bist es, was mir fehlt.«
Ich sehe auf meine Füße herab, da ich ihn nicht anschauen kann und mir dumm vorkomme, weil ich hier einfach so aufgetaucht bin. Ich wage kaum zu atmen, als er weiterspricht. »Ist das nicht das, was du hören wolltest?«
Ich nicke leicht, denn er hat Recht. Genau das wollte ich hören. Genau deswegen bin ich hergekommen.
Er setzt sich auf den Hocker, lässt die Schultern sinken und vergräbt das Gesicht in den Händen. »Ever, was soll das? Mal im Ernst. Was willst du hier – was willst du von mir?«
Ich weiß, dass ich ihm eine Antwort schuldig bin, ihm die Wahrheit schuldig bin – in beiden Erscheinungsformen. Das will ich auch erfüllen, und so sage ich: »Na ja, zuerst einmal wollte ich mich vergewissern, dass es dir gut geht. Ich habe dich eine Zeit lang nicht gesehen, und …«
»Und?«, faucht er.
»Und … ich wollte dich einfach sehen. Musste dich sehen, könnte man vielleicht sagen.«
»Vielleicht?«
Er lässt den Blick über mich wandern, sodass ich mir schutzlos und nackt vorkomme und das merkwürdige Gefühl habe, Damen zu verraten. Trotzdem brauche ich etwas von Jude, da ich keine Alternative mehr habe. Ich meine, ich kann das Hemd nicht finden, die Große Halle verweigert mir ihren Beistand, der Wunsch, den ich an meinen Nachtstern gerichtet habe, muss erst noch in Erfüllung gehen, und bis jetzt gab es keinerlei Hinweise oder Vorzeichen. Das alles hat mich hierhergeführt, da mir nur noch ein Weg eingefallen ist, wie ich der ganzen Sache auf die Spur kommen kann.
Ein Weg, der lediglich versucht, aber nie ganz durchgeführt worden ist.
Ein Weg, der mich vielleicht zum Richtigen führen könnte.
»Jude«, setze ich an, und meine Stimme klingt heiser. »Jude, ich …«
Ich trete noch näher und denke: Das ist lächerlich – die ganze Sache ist total lächerlich.
Ich meine, er liebt mich, und ich weiß, dass ich ihn auch einmal geliebt habe, oder selbst wenn es nicht gerade Liebe war, so bin ich doch sicher, dass ich etwas für ihn empfunden habe. Und vielleicht bräuchte es nur einen Kuss, um mir das zu offenbaren. So wie damals, als ich Damen zum ersten Mal geküsst habe, und wir uns so verbunden, so verschmolzen gefühlt haben, ehe all die Schrecklichkeiten über uns hereingebrochen sind.
Ich gehe um den Ladentisch herum und fasse schnell nach seiner Hand. Im nächsten Moment presse ich meine Finger gegen seine, und ein beruhigender Strom seiner kühlen, ruhigen Energie fließt durch meine Glieder. Mein Geist wird ruhiger, mein Körper weicher und nachgiebiger, während sein Gesicht näher kommt. Er sieht mich mit prüfendem, brennendem Blick an, und ich schlinge die Finger um seinen schlanken, muskulösen Arm.
Mein ganzes Ich ist überflutet von Vorfreude, als ich ihn an mich ziehe und darauf warte, dass sich seine Lippen auf meine drücken. Ich muss es endlich ein für alle Mal erleben, muss wissen, was wir eigentlich die ganzen Jahrhunderte hindurch verpasst haben.
Zuerst bin ich schockiert davon, wie es sich anfühlt, die unerwartete Kühle, die kissenartige Festigkeit seines Kusses – so ganz anders als Damens perfekte Mischung aus Kribbeln und Hitze. Höre das leise Stöhnen, das aus seiner Kehle dringt, als er meinen Hinterkopf umfasst und mich an sich drückt. Seine Lippen teilen sich leicht, seine Zunge sucht meine, als plötzlich die Tür weit aufschwingt, krachend gegen die Wand knallt und die Glocke erst klingeln und dann scheppernd zu Boden fallen lässt.
Wir drehen uns um.
Lösen uns überrascht voneinander.
Und da steht Haven, dunkel, bedrohlich und wie ein Schatten im Gegenlicht in der Tür und funkelt uns böse an.
Mit geschürzten Lippen und schmalen Augen, die Hände in die Hüften gestemmt, sagt sie: »Wow. Was für ein Anblick. Heute muss mein Glückstag sein. Zwei Fliegen mit einer Klappe, und keiner von euch hat auch nur die geringste Chance.«