Keith
EPILOG
Einen Monat später
Maxine hatte sich ordentlich in Schale geschmissen und bewunderte Lou, der in seinem Smoking wirklich toll aussah. Mit einer Hand hielt sie ihn fest, mit der anderen Lydia. Auch sie sah glamourös aus. Pailletten, ein gewagter Ausschnitt, und prachtvoll herabfallende blonde Locken. Sie hatte den ganzen Abend begierige Blicke auf sich gezogen, von Männern wie von Frauen. Alles war wunderschön, aber auch bittersüß.
„Das ist unglaublich“, sagte Stormy und beugte sich über Lou, um Maxine anzugrinsen. „Ich kann nicht glauben, dass ihr ein Extraticket für mich organisiert habt.“
„Für das beste Drehbuch sind nominiert …“, sagte jetzt die atemberaubend schöne Moderatorin auf der Bühne.
Stormy lehnte sich zurück, während sie sich alle auf die Bühne konzentrierten und Maxine den Atem anhielt. David saß auf der anderen Seite neben Lydia, und seinem Gesichtsausdruck nach war er genauso nervös wie sie, als das Starlet auf der Bühne den Umschlag aufriss. „Und die Auszeichnung geht an …“
Als die Schauspielerin aufblickte, hatte sie Tränen der Rührung in ihren Augen. „Morgan De Silva für Twilight Hunger.“
Applaus toste durch den Saal. Die Favoritin der Herzen hatte gewonnen. Als die Menge sich erhob, schlossen die fünf sich an. Sie umarmten sich. Maxine und Lydia weinten beide hemmungslos, und David ging den Gang hinauf zur Bühne, während eine Stimme verkündete: „Im Namen der kürzlich verstorbenen Morgan De Silva, David Sumner, ihr Produzent, Regisseur und enger Freund.“
Er betrat die Bühne, nickte traurig, als er der hübschen Moderatorin die Hand schüttelte, und nahm ihren Kuss auf die Wange entgegen. Er hielt die goldene Statue in Händen, kämpfte mit den Tränen und wartete, bis der Applaus sich gelegt hatte. Auf der großen Leinwand hinter ihm erschien plötzlich ein überlebensgroßes Foto von Morgan, bevor die Krankheit ihre Spuren hinterlassen hatte.
„Gott, sie war so schön“, hörte Maxine jemanden sagen. „Und so jung.“
Die Menge setzte sich langsam wieder hin, und der Applaus verhallte.
David sprach. „Danke. Morgan wäre so aufgeregt und geehrt gewesen. Ich wünschte nur, sie könnte heute selber auf dieser Bühne stehen und den Preis in Empfang nehmen. Dieser Film – nicht nur dieser, sondern alle drei Filme – bedeutete ihr alles. Und ich hoffe, durch sie lebt Morgan weiter. Danke. Vielen Dank.“
Wieder donnerte der Applaus, als zwei Models ihn von der Bühne begleiteten.
Lou ging mit Maxine in den frühen Morgenstunden auf den Friedhof. Dort angekommen, hielt er sich jedoch zurück. Ließ ihr Freiraum.
Sie stand allein und hielt die goldene Statue in beiden Händen. Maxine starrte den eleganten Grabstein aus rosa Granit an, auf den Morgans Name, zusammen mit ihrem Geburts- und Todesdatum, eingraviert war.
Maxine schniefte und hielt die Trophäe dem Grabstein hin.
„Du hast es geschafft, meine schöne Schwester. Du hast gewonnen.“
Hinter dem Grabstein trat Morgan hervor. Sie konnte das Lächeln in ihrem Gesicht nicht unterdrücken, als sie die Statue nahm und sie an ihre Brust presste. „Habe ich das wirklich? Oh Gott, das ist einfach unglaublich. Gewonnen! Ich habe gewonnen!“ Sie drehte sich im Kreis, legte den Kopf zurück und lachte. Sie liebte, wie der volle, klare, kräftige Klang ihrer Stimme durch die Nacht schallte.
Dante kam ebenfalls aus den Schatten und nahm sie in die Arme. Starke Arme, die sie gerne um sich spürte. „Lass uns nicht vergessen, wessen Geschichte es eigentlich war.“
„Oh, bitte“, bestätigte sie und lächelte ihn an. „Bis ich ein Drehbuch daraus gemacht habe, war überhaupt kein Leben darin.“
„Dein Drehbuch hatte kein Leben, bis du es mit meiner Geschichte gefüttert hast“, neckte er sie.
„Na gut. Teilen wir uns den Preis eben.“
Dante küsste sie, und ihr Lachen verstummte. „So, wie wir alles teilen“, flüsterte er, und seine tiefe Stimme, so nahe an ihrem Ohr, ließ köstliche Schauer über ihren Rücken fahren.
Erst als Maxine sich überdeutlich räusperte, ließ Dante sie endlich los. „Du siehst sie schließlich viel öfter als ich“, entschuldigte sie sich und hielt ihre Arme auf, „es macht dir doch nichts aus?“
Dante hob ergeben seine Arme. Morgan drückte Maxine mit einem Grinsen fest an sich. Ihre Schwester. Ihre ganz eigene Schwester. Morgan konnte kaum glauben, wie sehr sie Maxine in nur zwei Monaten lieben gelernt hatte. Aber wie es schien, hatte sie jetzt, da Überleben nicht mehr das Wichtigste für sie war, endlich Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was Maxine für ihr Leben wirklich bedeutete.
„Du siehst wunderbar aus“, schwärmte Maxine, hielt sie auf Armlänge und ließ ihre grünen Augen über Morgans Gesicht gleiten. „Gesund. Strahlend. Okay, ein bisschen blass, aber das ist wohl ganz normal.“
„Es geht mir auch wunderbar, weißt du“, erklärte Morgan. „Besser als je zuvor, Max. Stärker. Kräftiger. Ich fühle mich lebendiger, als – als ich es lebendig je gewesen bin. Alles dank dir.“
„Ich hätte dich fast umgebracht“, flüsterte sie.
„Nein, Liebes. Du hast mich gerettet. Du bist aufgetaucht, als ich dich am meisten gebraucht habe. Du bist geblieben, obwohl ich versucht habe, dich zu vertreiben. Du hast mich am Leben gehalten, du hast meine Liebe gerettet und ihn zu mir gebracht.“ Immer noch blieb Maxines Blick gesenkt. Morgan fasste ihr Kinn, hob es und sah ihr fest in die Augen. „Schatz, wenn du nicht gekommen wärest, hätte Stiles uns beide umgebracht. Auch wenn es etwas gedauert hat, bis du die Wahrheit erkannt hast, war es doch deine Gegenwart, durch die wir es geschafft haben. Davon bin ich überzeugt.“
Maxine schniefte und drückte sie wieder an sich. „Es tut mir leid, dass es so knapp war. Ich hätte von Anfang an auf dich hören sollen.“
„Das war ein Fehler, den ich auch gemacht habe, Maxine“, sagte Dante leise. „Ich glaube, Malone war der Einzige, der die Dinge von Anfang an deutlich überblickt hat.“
„Deutlich, ist klar“, sagte Lou, der sich ihnen endlich anschloss, „ich dachte, ich wäre durchgedreht.“
„Gott sei Dank bist du das nicht.“ Dante streckte seine Hand aus und schüttelte Lous.
Morgan nahm Maxine an der Hand und führte sie ein Stück fort. Die beiden Männer begannen zwischen den Grabsteinen ein Gespräch. „Wir müssen reden“, sagte sie.
„In Ordnung.“
Die zwei Schwestern machten einen Spaziergang, wandelten auf den verschlungenen Pfaden zwischen Grabsteinen, die tiefe Schatten auf das noch saftige Gras, die frischen Blumen und die Toten warfen. Laublose Bäume wiegten sich im scharfen Nachtwind. Der Duft von Blumen auf einem frischen Grab und der drohende Winter belebten die Luft.
„Ich wollte mit dir über das Haus sprechen“, begann Morgan. „Du hast es kaum benutzt, seit ich – na, seit meiner Beerdigung.“ Eine kalte Brise streichelte über ihren Nacken, und sie zitterte. „Gott, wie komisch, das zu sagen.“
„Es ist dein Haus, Morgan. Du musst immer noch irgendwo wohnen. Ich will es dir nicht wegnehmen. Ich meine, das Testament war nur eine Formalität. Es gehört mir nur auf dem Papier.“
„Nein, ich meinte es ernst. Es soll dir gehören“, sagte Morgan. „Außerdem kann ich es nicht bewohnen und dadurch riskieren, entdeckt zu werden. Ich will, dass dir das Haus gehört. Benutz es. Führe dein Geschäft von dort aus, wenn du willst. Das wäre für uns beide am besten.“
„Für uns beide, hm?“, fragte Maxine. Sie blieb neben einer Bank stehen, die man für Besucher am Wegrand aufgestellt hatte, und setzte sich. Morgan setzte sich neben sie. „Und was genau haben du und Dante davon? Die ganze Zeit Verwandte um sich zu haben klingt nicht gerade wie der Traum eines frischgebackenen Paares. Ihr zwei seid so ausgelassen.“
„Du hast ja keine Ahnung“, flüsterte Morgan und wandte sich ab. „Er ist unglaublich. Ich hätte nie gedacht, ich könnte mich so … vollkommen fühlen. Ich hatte so lange niemanden. Nur David. Und jetzt, plötzlich, habe ich dich, und ich habe diesen Mann, der – er würde für mich sterben. So sehr liebt er mich. Das kann ich noch gar nicht richtig fassen.“
„Umso mehr ein Grund, euch eure Privatsphäre zu lassen“, sagte Max. „Wenn ich einziehen würde, brächte euch beiden das gar nichts.“
Morgan blinzelte wieder, als ihr die Tränen in die Augen stiegen, und ihre Stimme brach genauso, wie sie es tat, wenn sie über Dantes Liebe nachdachte. „Doch, doch“, sagte sie zu ihrer Schwester. „Wenn du da bist, hätte ich eine Tarnung.“
„Tarnung?“
Morgan nickte und begann, vor der Bank auf und ab zu gehen. „Im Moment muss ich unglaublich aufpassen, damit mich keiner bemerkt. Wenn du hier wärest, und jemand mich sieht, würde jeder annehmen, du bist es. Ich könnte wieder rausgehen, ab und zu. Einen Film anschauen oder einkaufen.“ Sie blieb stehen, hockte sich vor Maxine hin und nahm ihre Hände. „Und außerdem, wenn meine Nachkommen das Haus bewohnen, hören vielleicht die Fremden auf, hier rumzuschnüffeln.“
„Es kommen Leute her?“, fragte Maxine besorgt.
Morgan nickte. „Ja, ab und zu. Neugierige Fans oder Kinder aus dem Dorf. Hey, ich bin berühmt. Ich habe eine Auszeichnung gewonnen, weißt du.“
Maxine lächelte. „Ja, das habe ich irgendwo gehört.“
„Und?“
Einen Augenblick dachte Maxine darüber nach. „Es wäre wirklich ein tolles Haus für mein Geschäft. Aber, ähm, na ja, Stormy ist meine Partnerin. Sie würde auch kommen müssen.“
Nachdenklich nickte Morgan. Sie hatte die blonde junge Frau nur aus der Ferne beobachtet, aber etwas an ihr war ihr seltsam vertraut. „Weiß sie von mir?“
„Ich habe es ihr nicht gesagt“, erklärte Maxine, „aber merkwürdigerweise scheint sie eine Ahnung zu haben. Und ich vertraue ihr. Übrigens ist sie davon überzeugt, dass sie dich getroffen hat, als sie im Koma lag. Sie redet ununterbrochen davon, wie du sie zurück ins Land der Lebenden geführt hast. Sie ist felsenfest davon überzeugt, dass das alles kein Traum war. Stormy hat das Gefühl, dir etwas schuldig zu sein. Du kannst dich darauf verlassen, sie behält dein Geheimnis für sich.“
Da war sie endlich, die Erinnerung, die sie nicht hatte einordnen können, jetzt löste sich ein weiteres Rätsel. Sie war der besten Freundin ihrer Schwester schon einmal begegnet – im Traum, als sie im Krankenhaus lag und zwischen Leben und Tod schwebte. Oder … vielleicht war es wirklich kein Traum gewesen.
„Und natürlich ist da auch Lou. Ich muss auch an ihn denken“, fuhr Maxine laut grübelnd fort.
„Meinst du, er würde hierherziehen? Um mit dir zu arbeiten?“
Maxine zuckte mit den Schultern. „Meine Aufgabe wäre dann wohl, ihn zu überzeugen, es wenigstens zu versuchen. Er redet neuerdings von einer kleinen Hütte am See und einem Fischerboot. Er geht bald in den Ruhestand, weißt du.“
„Und was hält dich dann noch, Maxine? Komm her. Mach es.“ Sie nahm die Hand ihrer Schwester. „Ich vermisse dich. Wenn du hier wärest, hätten wir mehr Zeit, um all die Jahre aufzuholen, die wir verpasst haben.“
„Wenn du dir sicher bist, dass du uns hier haben willst.“
„Du bist meine Schwester“, sagte Morgan, jetzt mit einem Lächeln, weil sie bereits wusste, Maxine war einverstanden, „und du weißt, ich will dich hier haben.“
„Okay. Dann komme ich. Der Supernatural Investigations Service bekommt sein Hauptquartier in Easton, Maine.“
„SIS“, sagte Morgan mit einem kurzen Nicken, „gefällt mir.“
„Das dachte ich mir bereits.“
Sie standen Arm in Arm von der Bank auf und gingen zurück zu den Männern am Grab. Morgan schmiegte sich in Dantes Arme, und er hielt sie sanft und liebevoll fest. „Bald geht die Sonne auf, mein Herz“, sagte er zu ihr.
„Ich weiß.“ Sie lächelte ihre Schwester an, genauso wie den Mann, der neben Maxine stand und ein wenig unbehaglich aussah. „Sehen wir uns bald?“
„Ganz bald“, versprach Maxine.
Morgan und Dante drehten sich um und verschwanden in den Schatten.
„Weißt du, sie ist jetzt glücklicher, als sie es ihr ganzes Leben gewesen ist“, erklärte Maxine, die ihnen nachsah, bis sie verschwunden waren. „Sie hat so viel Glück.“
„Wie das?“, fragte Lou. Er ging zum Auto, neben ihm Maxine.
„Ist das nicht offensichtlich? Sie sind Seelenverwandte. Wahnsinnig, wild, für immer verliebt. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie erfüllend es sein muss, von einem Mann so geliebt zu werden, wie Dante Morgan liebt. Die beiden haben etwas ganz Besonderes.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, gab Lou zu und legte wie beiläufig einen Arm um Maxine, als sie den Pfad zum Parkplatz hinaufgingen. „Manch einer findet das sein ganzes Leben lang nicht.“
„Ja. Und einige haben es direkt unter ihrer Nase und weigern sich, hinzusehen.“
„Meinst du?“, fragte er und sah sie an.
Maxine verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. „Ja, meine ich.“
Scheinbar teilnahmslos ging Lou weiter.
Aus den dunkelsten Schatten heraus beobachtete Sarafina, wie Dante mit den Sterblichen redete und lachte und sie endlich, seine Geliebte fest im Arm, wieder verließ.
„Ich werde dich ewig lieben“, flüsterte er Morgan zu, „ich glaube, auf meine Art habe ich das bereits getan.“
„Wir sind füreinander bestimmt. Dante. Das weißt du doch, oder nicht?“
„Ich habe es immer gewusst. Aber als du es zum ersten Mal gesagt hast, hat es mich erschreckt.“ Er küsste sie sanft. „Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe.“
Sie lächelte und erwiderte seinen Kuss. „Wenn es nicht noch mal passiert.“ Dann tanzte sie ein Stück von ihm fort. Ihre Augen funkelten vor Liebe und Leben. „Wer als Erster zurück am Haus ist!“ Sie wirbelte auf der Stelle herum, rannte davon und lachte, rannte fast so schnell, wie Sarafina selbst sich bewegen konnte.
Dante folgte ihr, ohne zurückzublicken.
Das also war es, was er wollte. Er hatte jetzt eine neue Familie. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt. Dante – die letzte Verbindung zu ihrer eigenen Familie, ihr Erbe, ihr Blut.
Zur Hölle mit ihm.
Er hatte sie betrogen. Genauso wie jedes andere Mitglied ihrer Familie sie betrogen hatte.
Es war egal, dachte sie, als sie aus den Schatten trat und sich ins Mondlicht auf den Boden setzte. Sie war ein Vampir. Sie brauchte keine Familie. Sie brauchte überhaupt niemanden.
Nein. Nie mehr.
– ENDE –