Keith

5. KAPITEL

Dante stand draußen in der Dunkelheit. Der Wind wehte ihm ins Gesicht und durchfuhr mit seinen kalten feuchten Fingern seine Haare. Er brachte Regen. Dante konnte spüren, wie er leise seine Haut berührte. Er schmeckte ihn. Kurz hinter dem Haus schlug das Meer seine Wellen an den Strand. Sein Haus – wenigstens war es das einst gewesen. Warmes gelbes Licht strömte aus seinen Fenstern, als wolle es ihn zu Hause willkommen heißen. Aber er wusste es besser. Jemand befand sich darin. Er konnte die Person auf die gleiche Art und Weise spüren und schmecken wie den Regen in der Luft. Eine Frau.

Als er sich entschlossen hatte, hierherzukommen, war er sich nicht einmal sicher gewesen, ob es den Ort überhaupt noch gab. Als er das Haus zum letzten Mal gesehen hatte, war es eigentlich schon dem Verfall anheimgegeben. Davon war jetzt nichts mehr zu sehen. Jemand hatte sehr viel Zeit, Mühe und Geld investiert und es wieder so hergerichtet, wie es vor über einem Jahrhundert ausgesehen hatte. Er erinnerte sich genau an den weißen Weg aus Steinplatten, der sich zur Vordertür hinaufschlängelte. Er sah genauso aus wie früher. An seinem Ende standen Laternen wie Wachposten. Damals waren sie natürlich nicht elektrisch gewesen. Die Lampen im Haus auch nicht. Aber die Fensterläden waren schwarz und die Farbe des Hauses weiß und frisch. Und der Schornstein hatte die gleiche Größe und Form, auch wenn die Steine alle brandneu waren.

Die Tür, bemerkte er, war jetzt anders. Sie war weiß gewesen, mit vier Glasscheiben und Trompetenmuster am oberen Rand. Die neue Tür war viel aufwendiger gestaltet, breiter, und ihr Rahmen war aus gedrechseltem Hartholz. Über ihr streckte sich ein gebogenes Sims in die Breite, auf dem falsche Blumen angebracht waren. Für einen Augenblick traf ihn diese imitierte Echtheit. Es sah lächerlich aus. Der Geruch von Plastik und Seide verspottete die Schönheit der echten Blumen nur.

Künstliche Blumen waren ein Sakrileg.

Eine ovale Buntglasscheibe streckte sich über fast die gesamte Länge der Tür, und ihre Klinke war aus glänzendem Messing. Es sah alles fast wie neu aus. Zwei Autos standen auf der mit weißem Kies bedeckten Auffahrt, beide schnell und ausländischer Herkunft. Hier lebte jetzt Geld. Eine Frau mit Vermögen. Und Jugend. Auch das konnte er in der Luft schmecken.

Da war auch ein Mann. Älter. Robust. Stark. Während die Frau von Schwäche umgeben war. Es lag kein Sex in der Luft, also ging er von einer platonischen Beziehung aus.

Dante war neugierig, das musste er zugeben. Begierig zu sehen, was innen im Haus gemacht worden war. Und es blieb ihm sowieso keine Wahl. Seit er dem vernarbten Mann so knapp entkommen war, hatte er festgestellt, dass jeder seiner Zufluchtsorte aufgedeckt, jeder seiner vertrauten Aufenthaltsorte überwacht werden konnte. Irgendwoher kannte der Mann seine Geheimnisse. Also war Dante hierhin zurückgekommen – an einen Ort, den er seit über einem Jahrhundert nicht betreten hatte –, um Sicherheit und Trost zu finden, bis seine nächsten Schritte geplant waren.

Natürlich war er viel zu lange fortgeblieben. Ein anderer wohnte jetzt hier.

Aber das tat sowieso nichts zur Sache.

Er umrundete das Haus bis zur Rückseite und bis zur Weide, die immer noch dort stand. Sie war so viel größer geworden, dass er zweimal hinsehen musste. Lieber Gott, die Zeit verging wirklich wie im Flug. Er sprang leichtfüßig auf einen der unteren Äste und begann, den Baum zu erklimmen. Die glatte Rinde, die biegsamen Äste, das Flüstern des Windes in den hängenden Blättern, all das war ihm vertraut. Er selbst hatte den Baum vor hundert Jahren an dieser Stelle gepflanzt.

Als er in die Nähe seines alten Schlafzimmers kam, hielt er inne, legte seinen Kopf zur Seite und weitete seine Vampirsinne. Er spürte etwas. Nicht ganz einen Duft in der Brise. Etwas anderes. Etwas … das seine Nerven anspannte wie ein Magnet, der über Metallspäne gehalten wurde.

Was war das?

Indem er den Ast verließ und seine Hände um das kalte Metall der Balkonbrüstung legte, näherte er sich dem Haus. Dann ließ er sich auf den Balkon selbst hinab und schlich sich an die geschlossenen Glastüren heran. Dahinter hingen luftige weiße Vorhänge. Durchsichtig genug, um das Schlafzimmer zu erkennen.

Es schien die Besitzerin des Hauses zu sein, die schlafend in einem Himmelbett lag.

Ihr Haar hatte die Farbe von Zimt, üppig und lang lag es über ihr Kissen gefächert. Ihre Haut war sahnig weiß und so blass, als hätte er bereits von ihr gekostet. Ihre nackten Arme lagen auf einem dünnen weißen Laken. Er spürte, dass sie nicht von mehr bedeckt wurde. Ihr Hals war lang und schlank. Dante befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge und merkte, wie in ihm Begehren erwachte. Normalerweise labte er sich nicht an unschuldigem Blut. Er tötete, das ja. Er konnte auch von kaltem, abgestandenem Blut aus Plastikbeuteln leben, wie einige andere es taten. Aber das war nicht das wirkliche Leben. Also tötete er, aber meistens nur die, die getötet werden mussten. Manchmal bezahlte er auch dafür, seine Lust befriedigen zu lassen. Es gab Frauen, die sich darauf spezialisiert hatten, Bedürfnisse wie das seine zu stillen. Sie waren diskret, und er bezahlte ihnen genug, damit es auch so blieb.

Diese Frau … war keine von ihnen. Und doch fühlte er sich zu ihr hingezogen wie von einem unsichtbaren Faden. Er begehrte sie.

Er stand so nahe an der Glastür, dass sein kühler Atem das Glas beschlagen ließ. Vorsichtig wischte er die Scheibe ab und betrachtete sie. Wie schön wäre es, sie möge das Laken wegziehen, damit er sie besser sehen konnte. Damit er mit Sicherheit wissen konnte, ob sie noch etwas anderes auf ihrer Haut trug, unter ihrer Decke.

Noch ehe der Gedanke zu Ende gedacht war, hatte die Frau ihre Hand an den Rand des Tuches gelegt und begann, es langsam von ihrem Körper zu ziehen. Sie war darunter vollkommen nackt, genau wie er vermutet hatte. Und einen Augenblick lang konnte er nichts weiter tun als sie anzusehen und sich an ihrer Schönheit zu laben. Kleine Brüste, aber weich, mit rosigen Spitzen. Sie war viel zu dünn; unter ihrer Haut zeichneten sich die Rippen ab. Das Haar zwischen ihren Schenkeln hatte die gleiche lodernde Farbe wie ihr Kopfhaar.

Er ließ seinen Blick wieder ihren Körper hinaufwandern. Verweilte lüstern auf ihren Brüsten, und im gleichen Augenblick wurden ihre Brustwarzen hart. Dante legte die Stirn in Falten und beobachtete sie ungläubig. Konnte sie seine Gedanken auf irgendeiner Ebene empfangen? Er konnte einen Sterblichen mit schwachem Willen durch seine Gedanken kontrollieren, das wusste er, aber dazu musste er es wenigstens versuchen. Ein einzelner beiläufiger Gedanke sollte nicht …

Dante blickte auf ihr Gesicht und fragte sich, ob sie vielleicht, falls er daran dachte, wie ihre sahnigen Schenkel sich für ihn öffneten …

Langsam spreizte sie ihre Beine. Dante bebte vor Verlangen und Hunger und auch vor Angst. Erst als er sich von ihr entfernte, klärte sich sein Verstand und gab ihm die Antwort, auf die er sofort hätte kommen sollen. Plötzlich verstand er, was er vorher gespürt hatte, diesen Schauer aus Aufmerksamkeit und Anziehungskraft.

Sie war eine von denen. Sie war eine der Auserwählten.

Er ging rückwärts über den Balkon bis zum Geländer, drehte sich um und sprang dann, ohne zu zögern, hinunter. Auf dem Boden angekommen, richtete er sich auf, blickte sich um und dann hinaus aufs Meer, als würde er dort die Antworten finden, die er suchte. Wenn er einen anderen Ort auf der Welt hätte, an den er gehen konnte, egal wo, er wäre gegangen, und das leichten Herzens.

Aber die Sonne würde bald aufgehen. Und dieser Ort war die einzige Zuflucht, die ihm noch blieb. Er konnte sich weitere schaffen, doch das brauchte Zeit. Nein, erst einmal war er nur hier sicher.

Allerdings musste er diese Frau um jeden Preis meiden. Er hatte diese Art von Verbindung noch nie zu einer Sterblichen gespürt. Nie. Auch nicht mit anderen seiner eigenen Art. Was zum Teufel sollte das bedeuten?

Er ging hinaus zu den Klippen und sah an dem ihm vertrauten Punkt hinab auf den Steinvorsprung etwa fünf Meter unter ihm. Hinter diesem Vorsprung lag eine kleine Öffnung in der Steinwand. Sie war noch immer von den Ranken verdeckt, die er vor Jahren dort gepflanzt hatte. Die Wurzeln hatten sich in dem kargen Boden am Absatz der Klippe verankert. Von dort rankten die Triebe hinab und verhängten den Zugang zur Höhle wie ein Vorhang.

Hoffentlich war der Gang, der unter der Erde bis zurück zum Haus führte, nicht zusammengebrochen und die Räume, die unter dem alten Haus verborgen lagen, nach all der Zeit nicht zu Staub zerfallen.

Wieder träumte sie von Dante.

Er stand über ihr Bett gebeugt und blickte zu ihr hinab. Er stand einfach da. Er sagte kein Wort, und er fasste sie nicht an.

Wie sehr wünschte sie sich, er würde etwas tun oder sagen. Irgendwas. Aber er tat nichts.

Morgan öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, und merkte, dass es ihr nicht gelang. Stattdessen sah sie ihn an. Es war seltsam, wie gut sie sein Gesicht kannte, während sie ihn im Traum betrachtete. Es war kantig und irgendwie grausam. Lang und umschattet. Sein Kiefer war scharf geschnitten, seine Nase schmal. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen und waren so dunkel, dass er sie aus etwas, was tief dahinter lag, anzustarren schien. Vielleicht aus seiner Seele.

Ihre Augen blieben jetzt, da sie einmal seinem Blick begegnet waren, dort gefangen. Und sie wusste, was er wollte. Sie selbst wollte nichts mehr, als ihm zu gehorchen. Sie hob eine Hand, schob ihre Decke zurück und lag einfach da, vollkommen nackt und ohne Scham, um sich von seinem dunklen begehrenden Blick verbrennen zu lassen. Jeden Teil von ihr.

Berühr mich, flehte sie ihn stumm an. Lieber Gott im Himmel, berühr mich einfach.

Dann blinzelte sie – und er war verschwunden.

Einfach so, ganz plötzlich.

Morgan schlug abrupt ihre Augen auf. Ihre Decke lag auf dem Boden, und ihr Körper bebte. Aber sie war allein.

Lieber Gott, diese Träume schienen ja wirklich ein Eigenleben zu entwickeln. Vielleicht sollte sie über irgendeine Therapie nachdenken. Nicht, dass sie noch nie von ihm geträumt hätte, wieder und wieder, Nacht für Nacht, seit sie in dieses Haus gezogen war. Aber dieses Mal war es anders gewesen. Dieses Mal war es … real.

Sie setzte sich langsam auf, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und stand auf. Sie zog sich einen Morgenmantel aus cremefarbenem Satin an, ging zu den Glastüren und öffnete sie. Dann trat sie hinaus auf den Balkon und atmete die Nachtluft tief ein. Der Geschmack auf ihrer Zunge war intensiv und gut.

Plötzlich hielt sie inne und starrte direkt geradeaus.

Auf den Klippen stand ein Mann. Der Wind zerzauste seine Haare, während er hinaus aufs Meer starrte. Sein Gesicht konnte sie kaum erkennen, und doch war etwas unglaublich Vertrautes an ihm. Am Fall seiner Haare. Seiner Haltung. Irgendetwas.

Ihr Magen rebellierte, als die Wolken den Mond freigaben und sein Gesicht nur für einen Augenblick vom Mondlicht beleuchtet wurde.

„Dante …“ Sie flüsterte seinen Namen atemlos.

Und als hätte er sie gehört, auch wenn das aus der Ferne unmöglich war, drehte er sich abrupt um und sah genau in ihre Richtung.

„Kann es sein …?“ Morgan schloss die Augen, atmete dreimal tief ein und spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte. „Es kann nicht sein.“

Dann öffnete sie ihre Augen wieder.

Die Klippen, das Meer, der Wind und nichts sonst. Da war niemand. Da war überhaupt niemand.