Keith
2. KAPITEL
Es dauerte dreizehn Jahre, bis ich Sarafina wieder sah. Dreizehn ganze Jahre, in denen ich viele Dinge lernte. Egal wohin wir gingen, man würde uns schließlich vertreiben. Egal wie ehrlich wir sein mochten, wir wurden von Fremden als Diebe beschimpft, die nichts über uns wussten. Also lernte ich auch, mir zu nehmen, was ich wollte, und sie alle zur Hölle zu wünschen. Meine Schlussfolgerung war, dass ich die Früchte der Verbrechen, die man mir zuschrieb, genauso gut genießen konnte. Wenn man mich erwischte, bezahlte ich für diese Verbrechen, egal ob ich sie begangen hatte oder nicht. Ich wollte lieber für mein eigenes Vergehen hängen, als für das irgendeines blassen Welpen, der Ehrlichkeit vortäuschte und dem man ohne weitere Fragen glaubte, solange es einen Zigeuner in der Nähe gab, dem man die Schuld zuschieben konnte.
Doch so viel ich auch lernte, das entscheidende Wissen blieb mir vorenthalten, obwohl ich es ohne Unterlass suchte. Es gelang mir nicht, Sarafinas Geheimnis zu ergründen. Wer sie wirklich war, welche verwandtschaftlichen Beziehungen uns verbanden, warum man sie von unserer Truppe ausgeschlossen hatte.
Nicht vor jener Nacht, in der mein Leben fast ein Ende fand – in der es praktisch gesehen tatsächlich endete. Es endete – und ein neues begann. Es war später Herbst, und wir schrieben das Jahr 1848.
Damals war ich ein junger Mann. Hitzköpfig und unbesonnen. Meine Familie war gerade dabei, zusammenzupacken und wieder einmal weiterzuziehen. Nicht, weil wir des Ortes überdrüssig geworden waren, sondern weil die Anwohner uns beschuldigten, ihnen Vieh zu stehlen, und wir wussten, die Gesetzeshüter würden bald hinter uns her sein.
Ehe wir endgültig aufbrachen, hatte ich beschlossen, unseren Anklägern noch ein wenig Fleisch zu entwenden. Tatsächlich sollte es etwas mehr sein.
Es war Neumond; nur eine schmale silberne Sichel leuchtete am Himmel, als ich mich auf den Hof des Bauern schlich. Es war mir egal, was ich in dieser Nacht stehlen würde, solange ich nur irgendetwas mitnahm. Es war Vergeltung. Ein Ausgleich für die üble Nachrede, die mir und den meinen angetan worden war.
Das erste Tier, dem ich begegnete, war ein bärtiger Ziegenbock. Ich erinnere mich gut – beige und weiß und struppig. Die Hörner bogen sich von seinem Kopf. Die Hufe hätten dringend beschnitten werden müssen, wie bei einem alten Mann mit zu langen Fingernägeln.
Ich schlang ein Seil um seinen Hals und führte ihn von dem Schuppen fort, in dem er angebunden gewesen war, über den zerfurchten Boden, wo tagsüber die Hennen pickten und scharrten. Jetzt schliefen sie auf der obersten Stange des Zaunes und in den wirren jungen Trieben, die hier und da aus dem Boden schossen. Der Bock kam ohne Aufheben mit mir, bis ich durch das Gatter hindurchgegangen war und begann, mich vom Hof zu entfernen. Da blieb er plötzlich stehen, grub seine Vorderhufe in den Boden und begann, laut und anhaltend zu blöken. Es klang wie ein Schrei in der Nacht.
Ich hätte das Tier loslassen sollen. Aber der Stolz eines jungen Mannes nimmt sich manchmal zu wichtig, und in mir war er begleitet von Wut und Zorn und Frustration.
Also zog ich weiter an der Leine und zerrte das Tier durch saftige grüne Gräser, die feucht vom Tau der Nacht waren. Es bockte, zerrte und schüttelte seinen ruppigen Kopf von einer Seite zur anderen und blökte lauthals weiter.
Der Bauer rief nicht, er befahl mir nicht, stehen zu bleiben oder die Ziege loszulassen oder irgendetwas anderes. Ich wusste nicht einmal, dass er aus seinem Haus gekommen war. So stillschweigend kam der Tod in dieser Nacht zu mir. Erst verfluchte ich noch den störrischen Bock, zerrte und drehte ihn, mit dem Seil über der Schulter und dem Tier hinter mir. Im selben Moment lag ich auch schon mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, und in meinen Ohren dröhnte der Gewehrschuss, der wie aus dem Nichts gekommen war.
Es war unfassbar, wie schnell und einfach das alles geschah. Ohne Ankündigung, ohne Theater. Der Bauer hatte einfach den Abzug an seinem Gewehr betätigt und mit einem ohrenbetäubenden Knall eine Bleikugel in meinen Rücken gejagt.
Der Schock und der Schmerz wüteten in den Sekunden, nachdem ich zu Boden gefallen war, in mir. Ich fühlte einen Augenblick lang das Feuer der Kugelbahn und dann, wie ein Schwall von warmem Blut meine Kleider tränkte. Doch danach spürte ich etwas viel Beängstigenderes als den Schmerz.
Taubheit.
Es begann an meinen Füßen, wenn ich mich richtig erinnere. Und ich war mir dessen nicht bewusst, während es geschah, erst später, als ich die Schritte des Bauern näher kommen hörte. Ich merkte, dass ich mich nicht bewegen konnte, meine Füße nicht mehr spürte. Innerhalb kürzester Zeit breitete sich die Taubheit in mir aus und kroch meine Beine wie eine gleichmäßig steigende Flut hinauf. Dann meine Hüften, mein Becken, meinen Bauch. Sie stieg weiter, und der Schmerz, der wie Feuer in meinem Rücken brannte, verschwand. Er verschwand einfach.
Ich fühlte nichts mehr. Ich versuchte meine Arme zu bewegen, meine Beine, es war unmöglich.
Ich keuchte vor Schreck auf, als mein Körper sich auf einmal umdrehte, denn ich hatte nicht gespürt, wie sich die Stiefelspitze des Bauern in meine Seite grub, um mich auf den Rücken zu wenden. Der Hass in seinen Augen, als er auf mich hinabstarrte, sein wettergegerbtes Gesicht, wie die Rinde eines alten Kirschbaumes, und sein weißer ungekämmter Schnurrbart – das alles nahm ich voller Angst in Sekundenbruchteilen wahr.
„Diebisches Zigeunerpack.“ Er spuckte mich an, drehte sich um und ging dann mit seinem Ziegenbock davon.
Nein, er hatte mich nicht umgebracht.
Die Erleichterung darüber wurde schnell überschattet von dem Wissen, dass er es getan hätte. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, weil ich in den nächsten Minuten sowieso sterben würde. Ich konnte nicht spüren, wie sich unter mir eine Blutlache bildete, die immer größer wurde und das Gras rot färbte. Aber ich nahm wahr, wie das Leben sich aus meinem Körper stahl, spürte, wie ich langsam durch den Blutverlust immer schwächer wurde. Spürte, wie ich … starb.
Ich hörte, wie seine Schritte sich entfernten. Hörte, wie die Tür seines maroden Hauses zuknallte. Und dann umgab mich das sanfte Geräusch des leise säuselnden Nachtwinds, der in den Bäumen flüsterte. Meinen Namen flüsterte.
„Oh, süßer Dante“, drang eine Stimme aus der Nähe an mein Ohr. Nicht der Wind. Dieses Mal nicht. „Das Unglück ist viel schneller über dich gekommen, als ich gehofft hatte.“
Ich blickte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Meine Augen schienen der einzige Teil meines Körpers zu sein, der noch meinem Willen unterstand.
Sarafina stand neben mir, von der Nacht eingerahmt wie ein düsterer Engel. Die schwarzen Wolkenfinger legten sich über die Sterne hinter ihr. Ich versuchte zu sprechen, aber meine Worte waren so leise, sie konnte sie nicht hören. Dann kniete sie sich nieder und beugte sich über mich, und mit dem letzten Rest Kraft, der noch in mir war, gelang es mir zu sprechen. „Sarafina … ich sterbe.“
Ihre sanfte Hand strich mir das dunkle Haar aus der Stirn. „Nein, Dante. Du weißt genau, ich werde das nicht zulassen.“
„A…aber …“
„Still. Es ist fast Zeit.“ Sie blickte mich an, und ich fragte mich, was sie sah. „Du bist schon fast verblutet. Es dauert nur noch einen Augenblick.“
Voller Panik riss ich die Augen auf; meine Kehle war wie zugeschnürt. „Sarafina!“, krächzte ich. Die Angst hatte meiner Stimme neue Kraft verliehen, auch wenn sie immer noch nicht mehr war als ein raues Flüstern. „Bitte!“
„Vertrau mir, mein Liebling. Du wirst nicht sterben.“
„Aber …“
„Du wirst nicht sterben“, beruhigte sie mich wieder.
Mein Geist verließ nach und nach meinen Körper und die Dunkelheit umwölkte meinen Blick immer mehr. Dennoch bemerkte ich, dass sie sich nicht verändert hatte, seit ich ihr zum letzten Mal begegnet war. Sie war nicht gealtert. Nichts an ihr war anders.
„Siehst du. So ist es besser.“
Meine Augen öffneten sich, fielen zu, öffneten sich wieder. Mein Atem war flach und spärlich, und ich konnte meinen Herzschlag spüren. Er schlug mir in den Ohren, langsamer, immer langsamer … langsamer …
„Hör mir zu, mein besonderer Schatz.“ Ihre Stimme schien aus so weiter Ferne zu kommen, als würde sie aus den Tiefen einer Höhle mit mir sprechen. „Du musst eine Wahl treffen, und es muss jetzt sein. Keine Zeit, lange zu überlegen. Willst du sterben? Hier und jetzt? Oder leben, auch wenn es bedeutet, im Exil zu leben, wie ich es tue? Von der Familie gehasst, ausgestoßen und vertrieben?“
Ich fühlte mich schwach. Als verwandelte ich mich in einen Schatten. Ich verstand ihre Fragen nicht.
„Leben oder Tod, Dante? Antworte. Wenn du zögerst, wird dir die Wahl genommen. Du wirst sterben. Sag es mir jetzt. Was soll es sein? Leben … oder Tod?“
Ich bemühte mich, ein einziges Wort zu bilden, hörte aber nicht, wie es meine Lippen verließ, spürte nicht, wie sie sich bewegten. Alles, was ich tun konnte, war, das Wort zu denken und mir vorzunehmen, es laut auszusprechen. Leben.
„Gut.“
Sie bewegte sich. Meine Sicht verschwamm, und ich konnte nicht sehen, wohin sie ging und was sie tat. Dann drückte sie plötzlich etwas Warmes und Feuchtes an meine Lippen. „Trink, Dante. Dieses Elixier wird dir das Leben schenken. Trink“, flüsterte sie.
Die warme schwere Flüssigkeit benetzte meine Lippen und belebte meine Sinne. Sofort folgte das erschreckende Gefühl, mehr zu brauchen. Ich schloss meinen Mund um die Quelle, die sie mir anbot, und trank davon wie ein Säugling. Leben schien in mir zu erwachen, gemeinsam mit einem Hunger, den ich nie vorher gekannt hatte. Meine Arme bewegten sich, meine Hände klammerten sich an ihre Beute, hielten sie fest an mein Gesicht gepresst, während sich die köstliche Flüssigkeit in meinen Mund ergoss.
„Genug!“
Sarafina packte meinen Schopf und riss meinen Kopf zurück. Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass es ihr Handgelenk gewesen war, an dem ich mich so begierig gelabt hatte. Ihr Blut, das ich so durstig getrunken hatte. Sie entzog mir ihren Unterarm, nahm einen Schal aus ihrem Haar und wickelte ihn fest um die Wunde.
Voller Entsetzen spürte ich, wie mein Magen sich zusammenzog. Ich wendete meinen Kopf von ihr ab und wischte mit dem Handrücken über meinen Mund.
„Es ist in Ordnung, Dante“, flüsterte sie. „So wird unser Geschenk eben weitergegeben.“
Ich sah hinab auf meine Hände, rot von dem Blut, das ich von meinem Mund gewischt hatte. Aber lebendig. Stark. Ich bewegte meine Finger, ballte sie zu Fäusten.
„Was ist passiert?“, fragte ich sie leise. „Was … was hat das zu bedeuten?“ Und noch als ich es sagte, verließ die Taubheit meinen Körper. Das Gefühl kam zurück in meinen Oberkörper, meine Beine und meine Füße, stärker als zuvor.
Meine Sinne surrten vor neuen Eindrücken. Meine Haut kribbelte, allein weil die Luft sie berührte. Meine Augen schienen viel intensiver zu sehen, präziser, als sie es je zuvor getan hatten. Und durch meine Adern floss reine Kraft.
Sie riss mir mein Hemd vom Leib und den Stoff in Streifen, während sie zu mir sprach. „Es ist ein Geschenk, junger Dante, auch wenn die Alte es einen Fluch nennt. Ein Geschenk, das ich dir gegeben habe. Du wirst jetzt niemals sterben. Niemals älter werden. Und auch wenn deine Familie sich von dir abwenden wird, du wirst nie allein sein, wie ich es gewesen bin. Denn nun sind wir zu zweit. Für immer.“
Den restlichen Stoff meines Hemdes ballte sie zusammen und drückte ihn in die Wunde an meinem Rücken, was mir enorme Schmerzen verursachte. Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Sie band mehrere der Streifen eng um mich, die den Stoffballen dort fixieren sollten, streckte mir dann eine Hand entgegen und half mir auf. Im selben Moment erkannte ich den Umriss des alten Mannes, der hinter ihr lauerte.
Ich öffnete meinen Mund, um sie zu warnen.
Doch ehe ich ein Wort sagen konnte, drehte Sarafina sich mit solcher Geschwindigkeit um, dass mir schwindelig wurde. Das Gewehr des Bauern flog durch die Luft, außer Sichtweite, und feuerte ziellos in die Wälder, als es auf den Boden auftraf. Und Sarafina, die schöne, elegante Frau, die mich so in ihren Bann gezogen hatte, packte den Bauern an seinem Hemd und riss ihn an sich. Ehe ich überhaupt reagieren konnte, hatte sie ihren Mund an seinen Hals gelegt.
Ich hörte die Geräusche … und sah, trotz der Dunkelheit jetzt sehr deutlich, was sie tat. Sie trank … sein Blut. Labte sich an seiner Kehle. Am Anfang schlug der Bauer auf ihren Rücken ein und trat nach ihr, doch dann … ergab er sich einfach. Ich hörte sein Seufzen, beobachtete, wie er die Augen schloss und sogar seine Arme um sie schlang. Er ließ seinen Kopf zurückfallen und rieb seine Hüften an Sarafinas, während sie weiter an seinem Hals saugte.
Und dann war kein Leben mehr in ihm.
Sie ließ sein Hemd los, und sein lebloser Körper fiel zu Boden. Leer. Eine Lumpenpuppe. Vollkommen ausgesaugt.
Mit einem ihrer Schals tupfte Sarafina sich vornehm die Mundwinkel, während sie sich zu mir umdrehte. Ich starrte sie an und bewegte den Mund, ohne einen Laut von mir zu geben.
„Schau mich nicht so schockiert an, Dante. Begreifst du wirklich erst jetzt? Hmm? Wir sind Nosferatu. Wir sind untot.“ Sie leckte sich die Lippen, legte ihren Kopf zur Seite und schenkte mir ein dünnes Lächeln. „Vampire“, flüsterte sie, und ich hätte schwören können, der Nachtwind nahm das Wort und wiederholte es tausendmal, in tausend Stimmen.
Vampire.
Ein Windstoß aus einer unsichtbaren Quelle ließ die Kerzenflammen flackern. Morgan löste ihren Blick von den verwitterten Seiten und sah sich automatisch um. Aber natürlich war niemand dort. Nichts war dort. Das alles war nicht echt.
Es war nicht echt.
„Oh mein Gott“, flüsterte Morgan. „Das ist kein Tagebuch. Keine Memoiren. Es ist … Es ist nur eine Geschichte. Eine unglaubliche, atemberaubende Geschichte!“
Oh, vielleicht nicht für den Mann, der sie geschrieben hatte. Der wunderbar wahnsinnige Künstler, der dieses Märchen erschuf, glaubte vielleicht sogar daran. Man stelle sich vor. Ein Mann, der tatsächlich dachte, ein Vampir zu sein. Ein Mann, der aller Wahrscheinlichkeit nach hier gewohnt hatte. Genau hier. In diesem Haus.
Etwas kratzte an der Fensterscheibe, und Morgan wirbelte herum, ihre Hand auf ihre Brust gedrückt, wo ihr Herz wild klopfte. Aber es war nur ein Ast, gebogen wie eine Klaue, der gegen das Glas schabte. Keine Kreatur der Nacht, die sich Dante nannte, war zurückgekommen, um ihre Tagebücher und ihr Haus für sich zu beanspruchen. Natürlich nicht. Vampire gab es nicht.
Das unerwartete Geräusch und der Schreck lösten ein Schwindelgefühl bei Morgan aus, und ihr Herz trommelte wild. Sie wartete, bis es sich beruhigt hatte. Die Atemnot verging, wie sie es immer tat. Sie nahm einige tiefe reinigende Atemzüge und sah auf ihre Uhr. Sie hatte stundenlang auf dem dunklen muffigen Dachboden gesessen, in der ausgedachten Welt eines Wahnsinnigen verloren. Und dabei hätte sie an ihrer eigenen fesselnden Geschichte arbeiten sollen.
Gott, wie sollte sie es jemals schaffen, in drei Monaten ein verkaufbares Drehbuch für David fertig zu haben? Besonders jetzt, wo sie nichts anderes wollte, als diese unglaubliche Geschichte weiterzulesen.
Sie fragte sich beiläufig, wie lange der fantasievolle Dante wohl für sein Buch benötigt hatte. Nicht lange, dachte sie – falls jedes Tagebuch auf dem Stapel gefüllt war. Und selbst dann wusste sie nicht, wie er es in einem einzigen kurzen Leben geschafft haben konnte, so viel zu schreiben.
Jetzt war er tot. Er musste tot sein, weil sie endlich ein Datum gefunden hatte und daran kein Zweifel bestehen konnte. Und seine Worte, seine Geschichten – sie lagen einfach da, unberührt. So lebendig, so wunderbar geschrieben; es brach ihr fast das Herz, dass sie nie der Welt mitgeteilt worden waren. Gott, wenn sie etwas so Gutes geschrieben hätte, und niemand es je gesehen hätte, wäre sie …
Oh.
Oh. Der Gedanke, der ihr gerade gekommen war! Es könnte doch ihre Arbeit werden. Für alle anderen konnten diese Worte von ihr stammen. Wer zum Teufel sollte je den Unterschied erkennen?
„Nein“, flüsterte sie laut. „Das wäre nicht richtig.“
Wäre es das nicht? widersprach ihr der Verstand. Sie hatte doch gerade entschieden, es wäre ein Verbrechen, dieses Werk nicht mit anderen zu teilen. Sie hatte gerade zugegeben, sie, wäre sie die Verfasserin, hätte es in Ewigkeit bedauert, wenn ihre Worte hier unentdeckt liegen blieben. Das geschriebene Wort war schließlich dazu da, gelesen zu werden. Nicht versteckt, sondern … geteilt. Erlebt.
Wieder kniete sie sich vor die Truhe und fuhr mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. Was sollte schon Schlimmes passieren, fragte sie sich? Dante war lange genug tot, und niemand sonst konnte von diesen Tagebüchern wissen. Oder doch? Natürlich nicht! Wenn jemand davon wüsste, hätte er die Tagebücher nicht auf dem staubigen Dachboden verschimmeln lassen.
Und es waren so viele!
„Mein Gott“, flüsterte sie noch einmal. „Das ist die reinste Goldmine. Ich sitze hier auf einer echten Goldmine.“ Und während sie dort saß und auf die mit Büchern gefüllte Truhe hinabstarrte, formte sich ein anderer Gedanke in ihrem Kopf. Die Bücher waren der Schlüssel dazu, alles wiederzubekommen, was sie wollte, alles, was sie verloren hatte. Reichtum. Macht. Ruhm. Ihre triumphierende Rückkehr nach L.A. All das lag vor ihren Füßen. Fast wie ein Geschenk – ihr hinterlassen von einem lange verstorbenen Wahnsinnigen namens Dante, der glaubte, ein Vampir zu sein.
Sie nahm behutsam das erste Tagebuch und drückte es gegen ihre Brust wie einen Liebhaber, als sie sich aufrichtete. Sie drehte sich um und trug es die Treppe hinab in ihr Arbeitszimmer.
Als sie dieses Mal die Hände über ihre Tastatur hielt, lag Dantes Tagebuch offen auf dem Tisch neben ihrem Computer. Und dieses Mal kamen die Worte.