Keith

1. KAPITEL

Wir Kinder hätten schlafen sollen …

Doch wir erwachten, wie auf einen stummen Lockruf hin. Wir krochen in die Eingänge unserer Zelte und Wagen, wie Motten angezogen von den züngelnden Flammen des Lagerfeuers und von den düsteren, springenden Schatten der fremden Frau, die dort tanzte.

Keine Musik war zu hören. Ich wusste, es gab keine, aber es schien mir doch, als füllte eine Melodie meinen Kopf, als ich um die bemalte Zeltklappe spähte und ihr zusah. Sie drehte sich, ihre Tücher wirbelten ihr wie Geister hinterher, und ihr Haar, schwarz wie die Nacht, schien im Schein des Feuers blau zu leuchten. Sie wand und drehte sich und sprang im Kreis. Dann jedoch blieb sie ganz ruhig stehen, und ihre Augen, die wie leuchtende Kohlestücke waren, vertieften sich genau in meine. Ihre blutroten Lippen verzogen sich zu einem furchtbaren Lächeln, und sie lockte mich mit einem Finger.

Ich versuchte zu schlucken, aber der Klumpen aus kalter Angst in meiner Kehle ließ es nicht zu. Ich leckte mir die Lippen, warf dann einen Blick zur Seite, auf die Zelte und die bemalten Wagen meiner Sippe, und sah die anderen Kinder unserer Bande, die nach ihr spähten, genau wie ich es tat. Einige meiner Vettern waren älter als ich, andere jünger. Die meisten sahen mir sehr ähnlich. Ihre olivenfarbene Haut war glatt, die Augen sehr rund und groß, und zu dicht von Wimpern umrahmt für Jungen, wenn sie auch bei den kleinen Mädchen schöner als alles andere aussahen. Ihre Haare waren ungeschnitten, wie meine, doch sie waren sauber und rabenschwarz.

Wir waren alle Zigeuner und stolz darauf. Die tanzende Frau … auch sie war eine Zigeunerin. Ich wusste es auf den ersten Blick. Sie gehörte zu uns.

Und sie lockte mich immer noch mit ihrem Finger.

Dimitri, der drei Jähre älter als ich war, sah mich von oben herab an und flüsterte: „Geh zu ihr. Oder traust du dich nicht?“

Nur um zu beweisen, dass ich mutiger war als er, richtete ich mich auf und trat aus dem Zelt meiner Mutter. Meine bloßen Füße bewegten sich mit jedem zögerlichen Schritt nur wenige Zentimeter auf dem kühlen Erdboden vorwärts. Als ich mich vorwagte, begannen auch die anderen, von meiner Kühnheit selbst ermutigt, hervorzutreten. Wir sammelten uns langsam um die schöne Fremde, wie Sünder, die sich um die Füße einer Göttin scharten, um sie anzubeten. Und während wir das taten, wurde ihr Lächeln immer breiter. Sie lockte uns näher, hatte dabei einen Finger auf ihre Lippen gelegt, und dann setzte sie sich auf einen Baumstamm in der Nähe des Lagerfeuers.

„Wer ist sie?“, flüsterte ich Dimitri zu, denn auch er hatte sich uns jetzt angeschlossen, beschämt, schien es mir, nicht von Anfang an unser Anführer gewesen zu sein.

„Trottel, weißt du denn gar nichts? Sie ist unsere Tante.“ Er schüttelte verständnislos den Kopf und wandte seinen hingerissenen Blick dann wieder der Frau zu. „Ihr Name ist Sarafina“, klärte er mich auf. „Sie kommt manchmal zu uns … du bist wohl zu jung, um dich an ihren letzten Besuch zu erinnern. Sie darf eigentlich nicht hier sein. Wenn die Erwachsenen sie finden, gibt es Ärger.“

„Warum?“ Auch ich war von der geheimnisvollen Fremden wie gefesselt, als sie sich auf den Baumstamm setzte und die Lagen ihrer bunten Röcke um sich ausbreitete. Sie öffnete ihre Arme, um die Jungen willkommen zu heißen, die sich zusammengeschart um sie herum auf den Boden gesetzt hatten. Ich saß ihr am nächsten, gleich zu ihren Füßen. Noch nie hatte ich eine so schöne Frau gesehen. Aber da war noch etwas anderes an ihr. Etwas … Überirdisches. Etwas Furchtbares.

Und da war noch die Art, wie ihr Blick immer wieder meinem begegnete. Es lag ein Geheimnis in diesem schwarzen Blick – ein Geheimnis, das ich nicht zu sehen vermochte. Etwas in den Schatten, verborgen.

„Warum wird es Ärger geben?“, flüsterte ich erneut.

„Warum, warum! Sie ist eine Ausgestoßene!“

Erstaunt zog ich meine Brauen nach oben. Ich wollte gerade fragen, warum, als die Frau – meine Tante Sarafina, die ich nie zuvor im Leben gesehen hatte – zu sprechen begann. Ihre Stimme klang wie eine Melodie. Fesselnd, tief, verlockend.

„Kommt, meine Kleinen. Oh, wie ich euch vermisst habe.“ Ihr Blick wanderte über die Gesichter der Kinder, und der Ausdruck darin war kaum zu ertragen, so starke Gefühle lagen darin. „Aber die meisten von euch erinnern sich wohl gar nicht an mich?“ Ihr Lächeln verblasste. „Und du, kleiner Dante. Du bist jetzt … wie alt?“

„Sieben“, sagte ich ihr, meine Stimme nicht lauter als ein Flüstern.

„Sieben Jahre“, antwortete sie mit einem schweren Seufzen. „Ich war hier am Tag, als du geboren wurdest, weißt du.“

„Nein. Das … wusste ich nicht.“

„Es ist auch egal. Oh, Kinder, ich habe euch so viel zu erzählen. Aber zuerst …“ Sie zog einen Beutel auf, der ihr von der Schärpe um ihre Hüfte baumelte, und daraus zog sie fantastische Dinge, die sie an alle verteilte. Süßigkeiten und Gebäck, wie wir es noch nie gekostet hatten, verpackt in leuchtend buntes Papier. Glitzernden Tand an Ketten, und funkelnde Steine aller Arten, geschnitzt als Vögel oder andere Tiere.

Mir gab sie einen schwarzen Onyx in Form einer Fledermaus. Ich zitterte, als sie den kalten Stein in meine Handfläche legte.

Als der Beutel leer war und die Kinder wieder ruhig, begann sie, zu erzählen. „Ich habe so viele Dinge gesehen, meine Kleinen. Dinge, die ihr nicht glauben würdet. Ich bin in die Wüstenländer gereist und habe dort Gebäude gesehen, so groß wie Gebirge – jeder Stein größer als ein Zigeunerwagen! Sie sind vollkommen und glatt und verlaufen zu einer Spitze.“ Sie benutzte ihre Hände, um vor uns die Form dieser Wunder aufzuzeigen. „Niemand weiß, wer sie gebaut hat, und auch nicht, warum. Einige sagen, sie seien schon immer dort gewesen. Andere sagen, sie wurden als Denkmäler für alte Könige gebaut … und dass die Leichen dieser Regenten sich immer noch darin befinden, zusammen mit unbeschreiblichen Schätzen!“ Als wir unsere Augen weit aufrissen, nickte sie eindringlich, bis ihre rabenschwarzen Locken tanzten und ihre Ohrringe klimperten. „Ich bin über das Meer gereist … zu dem Land dahinter, wo es Kreaturen gibt mit Hälsen, so lang wie … wie diese Eibe dort. Sie gehen auf Beinen wie Stelzen und knabbern die jungen Blätter aus den Wipfeln der Bäume. Sie sind goldgelb und gefleckt! Und aus den Köpfen wachsen ihnen Äste!“

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Sicher dachte sie sich nur Geschichten aus.

„Oh, Dante, aber es stimmt“, beschwor sie mich. Und ihr Blick hielt meinen gefangen, ihre Worte waren nur für mich bestimmt, dessen war ich mir sicher. „Eines Tages wirst auch du diese Dinge sehen. Eines Tages werde ich sie dir selbst zeigen.“ Sie streckte ihre Hand aus und fuhr mir durch die Haare. Dann beugte sie sich zu mir hinab und flüsterte mir ins Ohr. „Du bist mein ganz besonderer Junge, Dante. Du und ich, wir sind auf eine Art verbunden, die stärker ist selbst als die Bindung zu deiner eigenen Mutter. Merke dir meine Worte gut. Ich werde eines Tages zu dir zurückkehren. Wenn du mich brauchst, werde ich kommen.“

Ein unerklärliches Zittern durchfuhr meinen Körper.

Im selben Moment erstarrte ich. Das Keifen meiner Großmutter war nicht zu überhören. „Ausgestoßen!“, schrie sie, kam aus ihrem Zelt gerannt und fuchtelte mit ihrem Finger in Sarafinas Richtung, wie man es tat, um das Böse abzuwehren – die zwei mittleren Finger angelegt, der Zeigefinger und der kleine Finger ausgestreckt. Sie zischte dabei, sodass ich unwillkürlich an eine Schlange mit einer gespaltenen Zunge denken musste.

Die Kinder rannten in alle Richtungen davon. Sarafina aber erhob sich langsam, und so anmutig, wie es nur ging. Nur ich blieb bei ihr stehen. Ohne nachzudenken stand ich ebenfalls auf und drehte mich zur Großmutter um, als wollte ich die bezaubernde Sarafina beschützen. Als könnte ich es wirklich. Ich hatte ihr jetzt meinen Rücken zugedreht, und als sie ihre Hände auf meine Schultern legte, spürte ich, wie ich ein ganzes Stück größer wurde.

Doch als mich die wütenden Blicke meiner Großmutter trafen, glaubte ich, auf die Größe eines Flohs zusammenzuschrumpfen.

„Kannst du meine Anwesenheit nicht wenigstens alle paar Jahre ertragen, alte Vettel?“, fragte Sarafina. Ihre Stimme war nicht länger liebevoll oder weich und warm. Sie war tief, klar … und bedrohlich.

„Du hast hier nichts zu suchen!“, gab meine Großmutter ihr zu verstehen.

„Doch, das habe ich“, antwortete sie. „Ihr seid meine Familie. Und ob es dir gefällt oder nicht, ich gehöre zu euch.“

„Du bist kein Teil dieser Familie. Du bist verflucht. Verschwinde!“

Um uns herum brach Chaos aus, als die Mütter, die von den Geräuschen wach geworden waren, aus ihren Zelten und Wagen rannten, ihre Kinder zu sich holten und schnell in Sicherheit brachten. Sie taten, als wäre der meuchelnde Wolf an unserem Lagerfeuer aufgetaucht, und nicht eine ausgestoßene Tante von seltener Schönheit, die fremdartige Geschenke und unglaubliche Geschichten mitbrachte.

Auch meine Mutter kam gerannt. Als sie auf mich zueilte, steckte ich die Fledermaus aus Stein in meinen Ärmel. Sie blieb stehen, ehe sie mich erreicht hatte, und sah Sarafina in die Augen. „Bitte“, war alles, was sie sagte.

Es folgte ein Augenblick der Stille, in der etwas zwischen den beiden Frauen geschah. Eine Nachricht, unausgesprochen, trieb meiner Mutter Tränen in die traurigen Augen.

Sarafina beugte sich hinab und presste ihre kühlen Lippen auf meine Wange. „Wir treffen uns wieder, Dante. Zweifle nie daran. Aber für jetzt, geh. Geh zu deiner Mama.“ Sie gab mir einen sanften Stoß und nahm ihre Hände von meinen Schultern.

Während ich auf meine Mutter zuging, hasste ich sie fast, weil ich die geheimnisvolle Sarafina verlassen musste, ehe ich von ihren Geheimnissen erfahren konnte. Sie packte mich fest am Arm und rannte so schnell zu unserem Zelt, dass sie mich fast hinter sich her schleifte. Im Inneren schloss sie die Klappe und nahm mein Gesicht in ihre Hände. Sie fiel vor mir auf die Knie. „Hat sie dich angefasst?“, schluchzte sie. „Hat sie dich gezeichnet?“

„Sarafina würde mir nicht wehtun, Mama. Sie ist meine Tante. Sie ist nett und schön.“

Doch meine Mutter schien meine Worte nicht zu hören. Sie beugte meinen Kopf zu einer Seite, dann zur anderen, strich meine Haare aus dem Weg und suchte meine Haut ab. Ich hatte schnell genug davon und machte mich los.

„Du darfst nie wieder in ihre Nähe gehen, verstehst du mich, Dante? Wenn du sie siehst, musst du sofort zu mir kommen. Versprich es!“

„Aber warum, Mama?“

Ihre Hand schlug auf meine Wange, so schnell, ich wäre gefallen, hätte sie mich nicht mit der anderen festgehalten. „Stell keine Fragen! Versprich es mir, Dante! Schwör es bei deiner Seele!“

Ich senkte meinen Kopf. Der Schlag schmerzte, doch ich murmelte zustimmend. „Ich verspreche es.“ Ich schämte mich der Tränen, die in meinen Augen brannten. Sie kamen eher durch den Schreck als durch den Schmerz. Meine Mutter erhob kaum jemals die Hand gegen mich. Ich verstand nicht, warum sie es in dieser Nacht tat.

Dann kniete sie sich noch einmal hin, ihre Hände auf meinen Schultern, ihr ausgezehrtes Gesicht nahe an meinem. „Dieses Versprechen musst du halten, Dante. Wenn du es brichst, ist deine Seele in Gefahr. Merk dir meine Worte gut.“ Sie atmete tief durch, seufzte und küsste die Wange, die sie gerade erst geschlagen hatte. „Und jetzt ins Bett mit dir.“ Sie hatte sich etwas beruhigt, und ihre Stimme klang fast wieder normal.

Ich war alles andere als ruhig. Etwas hatte in dieser Nacht mein Blut aufgewühlt. Ich kroch in mein Bett, zog mir die Decke über den Kopf und ließ die kleine, kalte Steinfledermaus aus meinem Ärmel in meine Hand fallen. Unter der Decke, wo meine Mutter mich nicht sehen konnte, hielt ich sie fest und strich mit dem Daumen über ihre harte Oberfläche. Mama blieb noch eine ganze Weile neben meinem Bett stehen, ehe sie die Lampe ausblies und sich zusammenrollte – nicht auf ihrem eigenen Bett, sondern auf dem Boden neben meinem, mit einer abgetragenen Decke als einziges Kissen.

Als ich die ruhigen Atemzüge meiner Mutter hörte, rollte ich mich an den Rand des Zeltes und stieß meinen Zeigefinger durch das kleine Loch dort. Ich hatte es in den Stoff gemacht, damit ich die Erwachsenen noch lange, nachdem sie die Kinder zu Bett geschickt hatten, um das Feuer sitzend beobachten konnte. In der Dunkelheit riss ich das Loch ein wenig weiter auf. Und durch das winzige Loch beobachtete und belauschte ich nun Großmutter, die Weise unserer Bande, die älteste und verehrteste Frau aller Familien dabei, wie sie sich der schönsten Frau stellte, die ich je im Leben gesehen hatte.

„Warum quälst du uns, indem du in unsere Mitte zurückkehrst?“, fragte Großmutter. Die tanzenden Flammen bemalten ihr ledernes Gesicht in Orange und Braun, in Schatten und Licht.

„Warum? Du, meine eigene Schwester, fragst mich, warum?“

„Schwester, pah!“ Großmutter spuckte auf den Boden. „Du bist mir keine Schwester, sondern ein Dämon. Ausgestoßen! Verflucht!“

Ich schüttelte verwundert den Kopf. Was konnte Sarafina meinen? Schwester? Sie konnte kaum mehr die Schwester der alten Frau sein als … als ich selbst.

„Sag mir, warum du hierherkommst, Dämon! Es sind immer die Kinder, die du bei deiner Rückkehr um dich versammelst. Es geht um eines von ihnen, nicht wahr? Dein elender Fluch hat sich an eines von ihnen weitergegeben! Nicht wahr? Nicht wahr ?

Sarafina lächelte zurückhaltend. Ihr Gesicht, eingetaucht in das Leuchten des Feuers, schien gleichzeitig engelsgleich und dämonisch. „Ich komme, weil ihr alles seid, was ich habe. Ich werde immer wiederkehren, alte Frau. Immer. Lange nachdem du zu Staub zerfallen bist, werde ich zurückkehren, und den Kleinen Geschenke bringen. In ihren Augen finde ich die Liebe und die Akzeptanz, die meine eigene Schwester mir verweigert. Und es gibt nichts, was du tun kannst, um es zu verhindern.“

Ehe Sarafina sich abwendete, sah sie an Großmutter vorbei und direkt in meine Augen. Als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass ich sie von der anderen Seite des kleine Lochs in der Zeltwand aus beobachtete. Sie hatte mich nicht sehen können. Und doch muss es so gewesen sein. Ihre Lippen zuckten fast unmerklich an ihren Mundwinkeln, und ihr Mund bewegte sich. Auch wenn kein Laut hervorkam, wusste ich, welche Worte sie flüsterte. Denk an mich.

Dann drehte sie sich mit fliegenden Röcken um und verschwand in der Nacht. Ich sah nur für einen Augenblick, wie die Farben ihrer Schals einem Kometenschweif gleich hinter ihr her zogen. Dann verschluckte sie die Schwärze der Nacht, und ich konnte sie nicht mehr sehen.

Ich legte mich auf meine Kissen und zitterte vor unerklärlicher Angst.

Ich war es. Meine Tante war meinetwegen gekommen. Tief in meiner Seele war es mir klar. Was sie von mir wollte, konnte ich nicht erraten. Warum ich so sicher war, blieb mir ein Rätsel. Aber bis ins Innerste wusste ich, dass sie tatsächlich einen Grund hatte, trotz des Hasses, der ihr entgegenschlug, zurückzukehren.

Und dieser Grundwar ich.

Langsam, langsam senkte sich der Rauch der Lagerfeuer. Das Licht der Flammen wurde trüber, und die Hitze – so echt, sie hätte schwören können, sie auf ihrem Gesicht zu spüren – kühlte ab.

Morgan De Silva blinzelte sich den Traum aus den Augen. Sie sah sich nicht länger durch die großen dunklen Augen eines kleinen Jungen ein Zigeunerfeuer an. Sie saß auf dem Fußboden eines staubigen Dachbodens und starrte auf die vergilbten Seiten eines handgeschriebenen Tagebuchs. Das Leder des Einbands war mit dem Alter butterweich geworden. Die Vision, die dieses Spinnennetz aus Worten auf den Seiten gewoben hatte, war sehr lebendig gewesen. Sie war fast … Wirklichkeit. So wirklich, als sei sie selbst in diesem Zigeunerlager in der Vergangenheit gewesen, statt hier an der Küste von Maine im Frühjahr 1997.

Morgan blätterte langsam um, begierig darauf, weiterzulesen …

Das Klingeln des Telefons drang aus weiter Ferne zu ihr und hinderte sie daran. Mit einem ergebenen Seufzen schloss sie das große Buch und legte es vorsichtig in die alte Schranktruhe, zurück auf einen Haufen anderer, die genauso aussahen. Als sie den Deckel der Truhe schloss, knarrten die Scharniere, und eine winzige Staubexplosion stob ihr ins Gesicht. Sie rieb ihre Hände aneinander, dann an ihrer Jeans, und blies die Kerzen aus, die ihre einzige Lichtquelle im Raum gewesen waren. Schließlich eilte sie die schmale, steile Dachbodentreppe hinab.

Sie hatte nicht erwartet, etwas anderes als Spinnweben und Staub dort oben zu finden. Das heruntergekommene Haus näher zu untersuchen war nur eine neue Art Zeitvertreib, keine Neugierde. Wenn ihre eigene Arbeit irgendwie fortgeschritten wäre, sie hätte sich nie die Mühe gemacht, in dem alten, baufälligen Haus herumzustöbern.

Und das wäre ein schlimmer Fehler gewesen.

Sie rannte die Treppe zum Flur hinab, zwischen Wänden, an denen der Putz abblätterte und die Latten darunter hervorkamen, bis zum nächsten Treppenabsatz. Diese Treppe war breiter, aber nicht besser erhalten als der Rest des Hauses. Der dritten Stufe von oben fehlte ein Brett, über das sie auf dem weiteren Weg nach unten automatisch hinwegtrat, während das Telefon weiter klingelte.

Wenn es noch ein Anwalt oder ein weiterer Geldeintreiber war, dachte sie atemlos, würde sie sich auf die Jagd machen und sie alle umbringen.

Die breite Treppe führte in ein riesiges Zimmer, das früher, vor einem Jahrhundert oder so, prächtig gewesen sein musste. Jetzt war es mit nichts weiter gefüllt als herzzerreißenden Echos und einem Kabelgewirr, das aus der gewölbten Decke ragte, wo einst ein funkelnder Kronleuchter gehangen haben musste. Hinter diesem Zimmer und einigen Türen lag ihr Zimmer. Ihr … Büro. Wenigstens für den Augenblick. Aber nur, bis sie ihr Vermögen zurückgewonnen hatte und triumphierend nach L.A. zurückgekehrt war.

Also etwa genau das Gegenteil von der jämmerlichen Abreise aus der Stadt.

Ihr Herz klopfte vor Anstrengung, als sie es so weit geschafft hatte, sie rang nach Atem, und außerdem war ihr schwindelig. Sie drückte eine Hand auf ihre Brust. Es war lächerlich für eine Zwanzigjährige, so schnell zu ermüden, aber so war es eben. Sie war nie gesund gewesen, und das würde sie auch nie sein. Aber wenigstens hatte ihr Zustand sich noch nicht verschlechtert. Bald würde es so weit sein. Und sie hatte doch noch so viele Dinge zu erledigen.

Endlich hob Morgan das Telefon ab, das genau so veraltet war wie der Rest des Hauses. Der Hörer wog wenigstens ein Kilogramm, schätzte sie, und die Drehscheibe schien ihren gewöhnlich hoch technisierten Geschmack verspotten zu wollen.

Falls ihr „Hallo?“ verärgert klang, dann, weil sie es kaum abwarten konnte, mehr von den Tagebüchern auf dem Dachboden zu lesen, und mehr über ihren Verfasser herauszufinden. Sie mochte kurz davorstehen, zuzugeben, selbst eine untalentierte Lohnschreiberin zu sein, aber eine gute Schreibe erkannte sie immer noch, und was sie bisher dort oben gelesen hatte, war gut geschrieben. So gut, dass es wehtat.

„Morgan? Wieso hat das so lange gedauert? Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen.“

Ihr Ärger verflog, als sie David Sumners vertraute Stimme hörte. Ihr Onkel ehrenhalber – auch wenn sie ihn schon lange nicht mehr so nannte – war die einzige Person, die sich nicht von ihr abgewendet hatte, als sie innerhalb weniger Stunden vom verwöhnten reichen Mädchen zum mittellosen Waisenkind geworden war. Er war außerdem die einzige Person, von der sie zurzeit gerne etwas hörte.

„Hey, David“, sagte sie, „ich war nur am … Stöbern. Das Haus ist riesig, weißt du.“

„Nein, ich weiß es nicht, schließlich habe ich es noch nie gesehen. Du klingst etwas außer Atem.“

„Das liegt an den zwei Stockwerken.“

Sie bemerkte sein Zögern. Er neigte dazu, sich viel mehr Sorgen um sie zu machen, als nötig war.

„Wie ist das Haus eigentlich?“, fragte er schließlich.

„Die reinste Ruine“, berichtete sie ein wenig ironisch, einerseits, um ihn zu beruhigen, und andererseits, weil sie ihn zu gern ein wenig aufzog. „Und das geschieht dir recht, weil du es gekauft hast, ohne es dir vorher anzusehen. Wer macht so etwas überhaupt?“

Sie sah sein Gesicht fast vor sich, die Lachfalten um die Augen, den kahl werdenden Kopf. David war ihr bester Freund, solange sie sich erinnern konnte. „Ein Freund der Familie“, hatten ihre Eltern immer gesagt. Aber Morgan war es immer so vorgekommen, als könne er die Familie kaum ertragen.

Natürlich hatte er die ganze Zeit gewusst, wie es um ihre Eltern wirklich bestellt war. Sie selbst hatte es erst vor Kurzem erfahren, durch die Schlagzeilen der Regenbogenpresse und durch die Aasfresser im Gerichtssaal.

„Ich habe es wegen der Lage gekauft, das weißt du genau“, erklärte David geduldig. „Und ich vertraue meinem Immobilienguru, was solche Dinge angeht. Das Haus wird sowieso abgerissen.“

„Ja, und es trägt selbst seinen Teil dazu bei. Sogar während wir uns unterhalten.“

Er schwieg einen Augenblick. „So schlimm, was?“

Morgan hätte sich ohrfeigen können. Manchmal war sie eine richtige egoistische kleine … „Ist es nicht“, sagte sie schnell. „Das war nur ein Scherz.“ Sie sah sich in dem Zimmer um, das sie sich zum Wohnen ausgesucht hatte. Es war vor langer Zeit einmal Bibliothek oder Arbeitszimmer von jemandem gewesen.

Der kleine Junge aus dem Tagebuch kam ihr in den Sinn, und sie fragte sich, ob ihm dieses Haus gehört hatte. Als er älter war vielleicht, als er sich entschieden hatte, seine Memoiren zu schreiben.

Aus dem Augenwinkel konnte sie ihn sehen. Eine dunkle, breitschultrige Gestalt beugte sich über den Schreibtisch, eine Schreibfeder in der langen eleganten Hand. Ihr Herz machte einen Sprung, und sie hielt den Atem an, als sie sich zu ihm drehte. Aber da war nichts. Kein Mann, keine Gestalt, keine Schreibfeder. Nur ihr Computer mit dem leuchtend blauen Bildschirm. Was auch immer sie gesehen hatte, war im gleichen Augenblick wieder verschwunden. Eine Vision. Eine Gedankengestalt. Vielleicht eine etwas zu reale Fantasie.

Ein Schaudern kroch ihren Rücken hinauf, aber sie schüttelte es ab.

„Beschreib es mir“, forderte David sie auf.

„Was?“ Morgan musste sich zwingen, ihren Blick von dem alten Schreibtisch zu lösen.

„Das Haus. Beschreib es mir.“

Ihr Blick huschte noch einmal hinüber zum Schreibtisch. Niemand dort. Mit einem Seufzen versuchte sie, Davids Bitte nachzukommen. „Früher muss es atemberaubend gewesen sein. Die Verzierungen um den Kamin sind abgestoßen und verblasst, aber immer noch prächtig. Ich glaube, sie sind aus Hartholz. Du solltest das ganze Teil herausnehmen, ehe du den Rest abreißt. Und jedes Fenster hat einen handgeschnitzten Rahmen. Dieser Ort … ich weiß nicht. Er hat was.“

„Allerdings ganz anders, als das, was du gewöhnt bist“, sagte David.

„Ja, na ja, es ist nicht Beverly Hills, und es kommen keine Filmstars zu den Poolpartys … aber dann würde ich ja auch nicht zum Arbeiten kommen, nicht wahr?“

„Und, kommst du? Zum Arbeiten?“

Morgan blickte auf den leuchtenden blauen Bildschirm ihres Computers – der den Mahnungen der Nachlassverwalter nur entgangen war, weil sie ihn bei sich an der Universität in L.A. gehabt hatte, als ihre Eltern verunglückt waren und das wahre Ausmaß ihrer Finanzen ans Licht kam. Sie waren pleite und so hoch verschuldet, dass Morgan die tatsächlichen Zahlen kaum begreifen konnte. Zuerst hatte es einfach keinen Sinn ergeben. Ihr Vater war ein erfolgreicher Regisseur, ihre Mutter eine Schauspielerin, die zwar vor einem Jahrzehnt am Höhepunkt ihrer Karriere angekommen war und sich jetzt mit kleineren Rollen begnügte, die mit dem Leben aber zufrieden schien.

Jedenfalls hatte Morgan das geglaubt. Sie musste dann rasch lernen, dass sie in einer Seifenblase gelebt hatte. Im Blut ihrer Eltern war bei der Autopsie genug Kokain festgestellt worden, um den Gerichtsmediziner die Frage stellen zu lassen, wie sie überhaupt hatten fahren können.

Sie waren Junkies, und ihr ganzer Lebensstil war eine Lüge gewesen.

Das Haus und alles was darin war, musste verkauft werden, um einen Teil ihrer Schulden decken zu können. Morgan hatte ihr Studium abgebrochen, die Gebühren waren bereits Monate im Verzug. Und anscheinend waren ihre Freunde genau so falsch, wie David es immer prophezeit hatte, denn als die Wahrheit erst einmal herausgekommen war, hatten sie Morgan zurückgelassen wie ihre Garderobe vom letzten Jahr, und diejenigen, die Morgan immer unterwürfig erschienen waren, amüsierten sich heimlich über ihre problematische Situation. Während ihrer letzten Tage auf dem Campus hatte sie an jedem schwarzen Brett Ausschnitte aus der Klatschpresse gefunden, die lauthals das geheime, von Drogen überschattete Leben des berühmten Paars, das scheinbar alles besaß, verkündeten. Der Albtraum hinter dem Märchen und das arme kleine reiche Mädchen, das übrig blieb, um die Scherben zusammenzufegen, wurden dabei nicht ausgelassen.

Sie war gedemütigt aus L.A. geflohen, ohne Ziel und ohne dass ihr etwas blieb außer dem, was sie noch hatte einpacken können. In Davids Auffahrt war sie nur mit ihrem Maserati – Gott sei Dank auf ihren Namen registriert – eingebogen und dem Zeug, was sie in einen winzigen Kofferraum hatte quetschen können. Er war ihre letzte Hoffnung, obwohl sie fast befürchtet hatte, auch er würde sich angewidert von ihr abwenden, wie alle anderen auch.

Aber das tat er nicht. Er half ihr dabei, das Auto zu verkaufen, es gegen einen bescheidenen Gebrauchtwagen einzutauschen und das restliche Geld einzustecken. Als sie dann ein Versteck brauchte, wo sie sich ihre Wunden lecken konnte, durfte sie sein Haus in Maine benutzen, mietfrei, solange sie es brauchte.

Doch es sollte nicht für lange sein, hatte sie sich vorgenommen. Sie wollte ja schon immer eine berühmte Drehbuchautorin werden. Nun würde alles ein wenig früher als geplant beginnen. David war Filmproduzent. Er würde ihr dabei helfen, die richtigen Leute kennenzulernen, und ihr Drehbuch vielleicht sogar selbst produzieren. Er hatte versprochen, ihr eine Chance zu geben und alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen.

Alles was sie brauchte … war eine Geschichte.

„Morgan?“ Davids Stimme riss sie grob von dem Pfad, den ihre Gedanken gewandert waren. „Hast du mich gehört? Ich habe gefragt, wie du mit dem Drehbuch vorankommst?“

Blinzelnd starrte sie den leeren Bildschirm an. Der Cursor bewegte sich sozusagen im leeren Raum. „Toll. Großartig. Es geht super voran.“ So super, dass sie sich entschieden hatte, lieber dieses uralte Wrack von einem Haus zu inspizieren, statt weiter auf den leeren Bildschirm zu starren. Die einzige Taste auf ihrer Tastatur, die ständig in Bewegung war, war „Löschen“. Sie hatte nur Müll hervorgebracht, seit sie angekommen war. Müll.

„Weißt du, es ist ganz normal, wenn du Schwierigkeiten mit dem Anfang hast“, beruhigte David sie. „Zwing dich zu nichts. Du hast eine Menge durchgemacht. Dein Verstand braucht Zeit, das alles zu verarbeiten.“

Morgan zuckte mit den Schultern. „Daran liegt es nicht“, erwiderte sie.

„Nein?“

„Natürlich nicht. Es ist sechs Monate her. Ich bin vollkommen darüber hinweg.“

„Vollkommen darüber hinweg, deine Eltern zu verlieren, dein Vermögen, dein Heim, deine Ausbildung und das, was du für deine Identität gehalten hast?“ Er schnalzte mit der Zunge. „Das glaube ich kaum.“

„Na ja, bin ich aber. Und um dir die Wahrheit zu sagen, herauszufinden, adoptiert zu sein, hat eine Menge Dinge erklärt. Ich meine, du weißt ja, meine Eltern haben sich nie viel … um mich gekümmert.“

„Das lag am Kokain, Schatz. Nicht an der Adoption. Nicht an dir.“

Sie räusperte sich, als ihre Kehle trocken wurde, und gab sich in Gedanken einen Tritt. „Und was den Rest angeht … ich hole mir alles zurück, David. Alles, was ich verloren habe. Und noch mehr.“

Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme. „Daran zweifle ich kein bisschen.“

„Ich auch nicht.“ Ihr Blick ruhte auf dem leeren Bildschirm. Die Zweifel, die sie zu leugnen versuchte, erstickten sie fast. Verdammt, warum konnte das Schreiben eines Blockbuster-Drehbuchs nicht so einfach sein, wie sie immer gedacht hatte? Bei so vielen Filmen war sie völlig sicher gewesen, ihr könne im Schlaf etwas Besseres gelingen.

„Also, wann kann ich mit dem Drehbuch rechnen?“, hakte David nach.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wünschte bei Gott, sie wüsste es. „Ein Meisterwerk braucht Zeit, … und es ist … so unberechenbar.“

„Ich brauche noch ein Projekt für den Herbst. Ich halte eine Spalte für dich frei, Morgan. Drei Monate. Ich brauche das Material in drei Monaten. Schaffst du das? Es über den Sommer zu schreiben und mir bis September zu schicken?“

Sie hob ihr Kinn, schluckte verkrampft, und sagte. „Ja. Ich werde es bis September fertig haben. Kein Problem.“

Großes Problem.

„Toll“, freute sich David. „Du kannst das schaffen, Morgan. Du wirst richtig gut sein.“

„Natürlich werde ich das.“

„Brauchst du sonst noch etwas?“

„Nein, nein, es geht mir gut.“

„Dein Erspartes reicht noch aus?“

Die Wahrheit konnte Morgan ihm einfach nicht gestehen. Sie hatte auf Davids Anraten hin ihre Konten geleert, ehe die Anwälte und Gläubiger an ihr Geld gelangen konnten, und sie hatte noch das Bargeld von ihrem Auto. Aber auch wenn sie keine Miete bezahlen musste, gab es andere Ausgaben. Das Telefon, die Elektrizität, und essen musste sie auch. Die Wahrheit war, dass das Geld auf ihrem Girokonto ihr durch die Finger floss.

„Es geht mir gut“, sagte sie deshalb.

„Gut. Gut. Lass mich wissen, wenn du irgendetwas brauchst.“

„Mach ich, David.“

Einen Augenblick lang schwieg er. „Wie steht es mit deiner Gesundheit?“

Sie atmete scharf ein und seufzte. „Du weißt, ich kann es nicht leiden, wenn man mich für kränklich hält.“

„Habe ich gesagt, du wärest kränklich?“

„Nein.“

„Und?“

„Die kalte klare Luft hier oben wirkt wahre Wunder“, log sie erneut. Was konnte sie ihm sonst sagen? Die Wahrheit? Dass es kalt, trostlos und feucht war und sie es hasste, wenn ein später Apriltag, an dem es 15 Grad warm wurde, schon eine Hitzewelle darstellte? Während sie normalerweise bei 26 Grad neben dem Pool an ihrer Sommerbräune arbeitete, wäre sie zu Hause gewesen?

Aber es brachte ja nichts, sich etwas Unerreichbares zu wünschen.

„Ich sollte Schluss machen, David“, flüsterte sie, während ein Klumpen in ihrer Kehle sie am Sprechen hindern wollte. „Wenn ich bis Herbst fertig sein soll, muss ich mich wirklich an die Arbeit machen.“

„Okay, Schatz. Ruf einfach an, wenn du etwas brauchst.“

„Mach ich, David. Danke.“

Morgan legte den alten Hörer auf seine Gabel und biss auf ihre Unterlippe. Sie drehte den klapprigen Holzstuhl in Richtung des Computerbildschirms, versicherte sich noch einmal, dass wirklich niemand darin saß, und setzte sich endlich hin. Sie legte ihre Hände über die Tastatur und befahl sich selbst, etwas zu schreiben, jetzt, heute, sonst musste sie aufgeben und sich einen Job suchen. Das Problem war nur, sie konnte nichts.

Schreiben war das Einzige, was sie je wollte, und sie war früher gut gewesen. Oder … wenigstens hatte sie das gedacht. In der Schule waren ihre Aufsätze immer gelobt worden. Die Theatergruppe hatte sogar eines ihrer Stücke aufgeführt. Alle hatten es gemocht. Die Kritiker auf dem Campus, die Lokalpresse …

Aber damals war sie noch Morgan De Silva gewesen, die brillante Tochter eines berühmten Regisseurs und einer beliebten Schauspielerin, das Mädchen mit dem verzauberten Leben, dem der Erfolg sicher war. Jetzt war sie Morgan De Silva, in Ungnade gefallen, weg vom Fenster, mittellos, obdachlos, aus der Stadt vertrieben in eine Zukunft, die düsterer war, als sie es sich noch vor einem Jahr hatte ausmalen können.

Jetzt … jetzt wusste sie nicht mehr, ob sie wirklich Talent besaß oder ob es die ganze Zeit ihr Name gewesen war, der das Lob eingebracht hatte. Sie wusste überhaupt nichts mehr, nicht, wer sie war oder was sie machte oder warum die Worte aufgehört hatten zu fließen. Es schien, als wäre die Quelle in ihrem Inneren Teil der Illusion, die ihr ganzes Leben gewesen war. Als wäre sie ausgetrocknet, in dem Moment, als die Illusion in Scherben zersprang.

Sie senkte ihre Hände, ohne auch nur ein Wort auf den Bildschirm gebracht zu haben. Draußen heulte der Wind; die Lichter flackerten, gingen aus und kamen gleich darauf zurück. Das alte Haus ächzte im Wind. Wahrscheinlich würde sie selbst auch stöhnen, wenn sie so alt wäre wie das Haus. Und dann fragte sie sich, wie alt genau das sein mochte.

Diese Tagebücher … Es hatten keine Daten darin gestanden, aber sie waren offensichtlich vor langer, langer Zeit geschrieben worden. Wenigstens vor einem Jahrhundert – vielleicht eher vor zweien.

Vorhin hatte sie über den Verfasser der Tagebücher nachgedacht. Dante. Hatte er hier gelebt, dieser Mann, der ein Zigeunerjunge gewesen war, verzaubert von seiner ausgestoßenen Tante? War er vielleicht in genau diesem Zimmer gewesen, vor dem Feuer auf und ab gegangen, und hatte seine Schreibfeder auf einem polierten antiken Schreibtisch nicht angerührt? Hatte er seine Muse so ungeduldig umworben wie sie selbst, und war er ebenso frustriert, als die Wörter nicht kommen wollten?

Wie von einer unsichtbaren Hand gezogen stand sie auf und verließ das Arbeitszimmer. Sie ging durch die gespenstische Eingangshalle und die breite Treppe hinauf. Danach durchquerte sie einen Flur und ignorierte die Türen auf beiden Seiten. Sie hatte die meisten Räume hier oben noch nicht einmal betreten. Es waren einfach zu viele.

Aber ihr Ziel lag in keinem von ihnen. Ihr Ziel lag dahinter, die Hintertreppe hinauf, die auf den Dachboden führte, wo Spinnweben Hof hielten und der Staub regierte. Sie kniete sich hin, wie sie es schon zuvor getan hatte, und fischte ein Streichholzbriefchen aus ihrer Jeanstasche. Damit zündete sie die Kerzen in dem prunkvollen Tafelleuchter an, der unten wie für sie bereitgestellt dastand. Als ihr weiches gelbes Licht sich ausbreitete, öffnete sie liebevoll den Deckel der handgearbeiteten Truhe und nahm den ersten Band heraus, strich darüber und öffnete ihn vorsichtig, um die mürben Seiten nicht zu beschädigen. Sie blätterte zu der Stelle, an der sie aufgehört hatte, und begann zu lesen. Und wieder verlor sie sich selbst in den Worten.