Keith

18. KAPITEL

Maxine ging in Morgan De Silvas großer Küche auf und ab und nahm dabei jedes Detail in sich auf, von den winzigen Marmorfliesen an den Wänden bis zur Oberfläche der Kochinsel in der Mitte, einem großen Marmorstein in der gleichen rosagrauen Farbe. Auf der rechteckigen Kochinsel gab es vier flache Gasbrenner und an einer Seite eine Spüle. Die übrige Fläche war leer, und dort standen ein paar Hocker. Lydia saß auf einem, doch Maxine war zu nervös, um sich hinzusetzen. Nicht, solange Lou noch draußen in der Nacht war und hinter Gott weiß wem – oder was – herjagte.

„Hast du gesehen, was ich gesehen habe?“, fragte sie. Eigentlich nur, um die Stille zu füllen. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass es Lydia ebenfalls aufgefallen war.

„Was?“, fragte die ältere Frau.

„Auf dem weißen Mantel, den sie anhatte? Am Kragen?“

Lydia sah sie an und schüttelte dann den Kopf.

„Blut, Lydia. Nur ein wenig, ein Tropfen oder zwei. Aber es war da. Und wie sie den Kragen um ihren Hals festgehalten hat, das habe ich mir auch nicht eingebildet.“

„Ich dachte, ihr wäre nur kalt, oder es war der Schock. Oder beides.“

Maxine schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie hat etwas zu verbergen versucht. Hast du gesehen, wie schnell sie von uns wegwollte?“

„Sie war aufgewühlt, Maxine.“

„Ich wette zehn zu eins, dass sie etwas trägt, was ihren Hals bedeckt, wenn sie zurückkommt.“ Sie ging auf die Tür zu, drehte sich wieder um, öffnete einen Fenstervorhang und starrte hinaus. „Gott, ich wünschte, er würde zurückkommen.“ Entschlossen packte Maxine den Türknauf. „Zum Teufel mit allem, ich gehe hinterher.“ Gerade als sie die Tür aufgerissen hatte, kam Lou außer Atem die Treppe hinauf.

Es fiel ihr schwer, ihm nicht um den Hals zu fallen, dafür sah sie ihn lange an. Sie konnte keine Schäden entdecken. „Hast du ihn erwischt?“

„Er war schon lange weg. Ich habe ihn nicht einmal mehr gesehen.“

„Verdammt.“

Lou ließ sich auf einen Hocker sinken, nur um sofort wieder aufzustehen, als Morgan De Silva in der Küche auftauchte. Maxines Blick wanderte direkt zu ihrem Hals, und als sie den schwarzen Rollkragen entdeckte, warf sie Lydia einen triumphierenden Blick zu, den Lydia aber nicht registrierte. Ebenso wie Lou starrte sie Morgan De Silva an, als würde sie gerade einen Geist anschauen.

Mit einem Stirnrunzeln wandte sich jetzt auch Max der Frau zu. Dann blinzelte sie und starrte. „Mein Gott …“

„Wer sind Sie? Was hat das zu bedeuten?“ Morgan konnte ihre Augen nicht von Maxine lassen.

„Ihr zwei seht fast genau gleich aus!“, bemerkte Lou, als glaubte er, niemand sonst hätte es bemerkt.

Nein, sehen wir nicht, dachte Maxine. Morgan De Silva war blass wie ein Gespenst, so dünn, dass sie schon knochig war, und ihre Haare waren lang, endlos lang, und vollkommen glatt und seidig. Maxine war kein Klappergestell. Ihr Haar war kürzer und lockte sich, wenn sie es wachsen ließ. Und sie hatte Farbe. Wenigstens genug, um sie von einer Leiche zu unterscheiden. Aber von diesen Unterschieden einmal abgesehen … diese Frau könnte ihr Zwilling sein.

Maxine ließ sich auf einen Hocker sinken, und das Wort „Zwilling“ spulte sich immer wieder in ihren Gedanken ab. Lieber Gott, war das möglich?

„Sie sind Morgan De Silva“, sagte Lou. Es war keine Frage, vielmehr eine Feststellung.

„Ja. Aber ich verstehe nicht, was das alles soll. Warum … was …?“

„Ms. De Silva, bitte, das ist für uns genauso ein Schock wie für Sie“, erklärte Lou langsam. Noch immer hatte er sich nicht gesetzt. Morgan De Silva stand ebenfalls, auch wenn sie aussah, als würde es sie nicht mehr lange auf den Beinen halten. Verdammt, Maxine fragte sich, wie diese dürren Beinchen überhaupt irgendetwas tragen konnten, schon gar keinen ganzen Menschen. Selbst einen derart klapprigen wie sie.

Wie aufs Stichwort gaben ihre Knie nach. Lou fasste sie beherzt an den Armen, wie es seine Art war. Nicht bedrohlich, vorsichtig. „Kommen Sie, setzen Sie sich“, sprach er beruhigend auf sie ein.

Seinen Blick, der jetzt auf sie gerichtet war, konnte Maxine nicht deuten. Wollte er, dass sie etwas sagte, oder wollte er nur sehen, ob es ihr gut ging. Vielleicht ein bisschen von beidem. Doch ihr fehlten die Worte. Es kam nur selten vor, dass sie sprachlos war.

Mit einem fast unmerklichen Nicken übernahm Lou die Führung. „Ich bin Lou Malone“, wendete er sich an Morgan De Silva. „Ich bin ein Cop aus White Plains, New York. Das hier ist Maxine Stuart, und da drüben ist Lydia Jordan. Freunde von mir.“

Mit einem klaren Blick fixierte sie Maxine. „Bist du auch ein Cop?“

„Privatdetektiv“, sagte Maxine.

Morgan überlegte. „Bist du adoptiert?“

„Ja. Und du?“

Sie nickte. „Geburtstag?“

„Vierter Mai neunzehnhundert…“

„…siebenundsiebzig.“ Morgan hob langsam den Kopf.

Lydia stand auf. Max bemerkte es mit dem Teil ihres Gehirns, der noch in der Lage war, etwas anderes wahrzunehmen als die Frau, die vor ihr saß.

„Lydia?“, fragte Lou.

„Das ist Privatsache, Lou. Sie sollten allein sein.“

Lou nickte und legte Maxine eine Hand auf die Schulter. „Wir gehen am Wasser spazieren. Schrei, wenn du uns brauchst.“

Sie nickte, ohne wirklich aufzunehmen, was er gesagt hatte. Als die Tür sich geschlossen hatte, war sie allein mit dieser seltsam blassen zerbrechlichen Frau, die ihr Zwilling sein könnte. Die vielleicht ihr Zwilling war. „Ich habe echt Schwierigkeiten, das in meinen Kopf zu bekommen. Ich meine, ich wusste immer, ich bin adoptiert. Aber niemand hat sich je die Mühe gemacht, mir zu verraten, dass irgendwo auch noch eine Zwillingsschwester rumläuft.“

Völlig verwirrt starrte Morgan sie an. „Du meinst, dieser Überraschungsbesuch ist nicht der Höhepunkt einer lang angelegten Suche?“

Verdammt, sie klang ein wenig feindselig. „Nein, der ist überhaupt kein Höhepunkt von irgendwas. Bis ich dein Gesicht gesehen habe, hatte ich keine Ahnung.“

„Du hast mein Gesicht noch nie gesehen?“

„Ich war noch nie in Maine.“

„Ich meinte in der Zeitung. Oder im Fernsehen.“

Ihr ging ein Licht auf. „Oh, richtig. Du musst ja irgendwie berühmt sein, mit der Nominierung und so.“

„Irgendwie schon“, sagte sie. Sie schien sich um eine Art überlegene Haltung zu bemühen, den Kopf erhoben, die Wirbelsäule gerade, den Blick geschärft. Aber Maxine konnte sehen, wie viel Mühe es ihr bereitete, und das ruinierte den ganzen Effekt. „Wenn du nichts von mir wusstest, was willst du dann hier?“

„Ist das jetzt nicht egal?“ Maxine stand auf und kam nur ein wenig näher. Sie hob eine Hand und berührte Morgans Gesicht mit den Fingerspitzen. „Wir sind Schwestern. Ich kann es nicht einmal glauben, das ist …“

Morgan senkte ihren Blick. „Wir haben uns neun Monate lang eine Gebärmutter geteilt. Das ist keine so große Sache.“

War ihr das wirklich so gleichgültig? „Mehr bedeutet dir das nicht?“

„Unsere Mutter hielt es offensichtlich nicht für sehr wichtig. Warum verdammt noch mal sollte sie uns aufgegeben haben – und schon gar nicht getrennt –, wenn es ihr etwas bedeutet hätte? Alles biologischer Zufall.“

„Du bist eine ganz schön kaltherzige Zicke, was?“

Morgan blickte in Maxines Augen. „Warum sagst du mir nicht einfach, was du willst, damit wir zum Ende kommen können.“

„Was ich von dir will?“

Die blasse Frau hob ihre Augenbrauen und wartete.

Endlich fing sie an, die Reaktion ihrer Schwester zu begreifen. „Ich verstehe. Du hast Geld. Erfolg. Du meinst, deshalb bin ich hier, ich will einen Anteil.“

„Ich bin gerade für eine der wichtigsten Auszeichnungen der Industrie nominiert worden. Ich war oft in der Presse. Und du willst mir erzählen, das hat nichts mit deinem plötzlichen Interesse an mir zu tun?“

„Ich habe dir doch schon gesagt, ich wusste nicht, dass es dich gibt, bis ich dein Gesicht gesehen habe.“ Maxine sagte die Worte mit so viel Bestimmtheit, wie sie konnte, ohne sie zu schreien. „Der Grund, aus dem ich hier bin, hat nichts mit deinem Geld oder deiner blöden Nominierung zu tun. Gott, wer hat dich überhaupt erzogen?“

„Ein Paar kokainabhängiger Hollywoodstars, nicht, dass dich das etwas angeht.“ Sie schloss die Augen, und ihr Kopf kippte nach vorn. Dieses Mal versuchte sie nicht, dagegen anzukämpfen. Sie ließ ihre langen Haare einfach über ihre Augen fallen. „Noch einmal, warum bist du hier?“

„Ich bin hier, weil meine beste Freundin mit einer Kugel in ihrem Hirn im Krankenhaus liegt, in einem Koma, aus dem sie wahrscheinlich nicht wieder aufwacht. Und ich will den Hurensohn finden, der ihr das angetan hat.“

Morgan blinzelte. Es schien Max fast so, als hätte sie die Mauer um die Seele der Frau endlich durchbrochen. „Das tut mir leid. Aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit mir zu tun haben soll.“

„Es hat mit Vampiren zu tun, Morgan.“

Jetzt zuckte sie zusammen. Maxine sah es deutlich. Doch sie versuchte, es zu überspielen, aber zu spät. „Das ist lächerlich. Vampire gibt es nicht.“

„Oh, ich rede nicht von den ausgedachten. Ich rede von den echten. Weißt du. Wie in deinem Film.“

„Ich hatte einen sehr anstrengenden Tag“, sagte Morgan leise, „und ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muss dich bitten, jetzt zu gehen.“

Tatsächlich wirkte Morgan noch angeschlagener als vor einigen Minuten. „Ich gehe gleich, nachdem ich dir eine sehr kurze Geschichte erzählt habe. In Ordnung?“

Morgan sah Maxine nur kurz an und nickte dann. „Solange sie wirklich kurz ist.“

„Sie hat nicht einmal ein Ende. Noch nicht jedenfalls. In meiner Heimatstadt gab es ein Gebäude. Es hieß, die Regierung würde dort Forschungen beauftragen. Es stand dort, solange ich denken kann, aber vor fünf Jahren ist es dann abgebrannt. Ich habe mich an den Feuerwehrleuten vorbeigeschlichen, weil ich hoffte, endlich herauszufinden, was die da wirklich all die Jahre lang getan haben.“

Morgan unterbrach sie mit einem kurzen Aufschrei. „Warum hast du gedacht, dass irgendetwas anderes vor sich geht als Forschungen?“

„Bewaffnete Wachen. Überwachungskameras. Fahrzeuge mit Regierungsnummernschildern, die immer wieder ein und aus fahren. Elektrischer Zaun. Wachhunde. Alles, was du dir denken kannst. Ich habe zwei Dinge gefunden, nachdem ich drinnen war: einen Ausweis und eine CD mit Informationen über Vampire. Über Jahre gesammelte Informationen. Einer der Vampire hieß Dante, und die Informationen, die über ihn auf der CD zu finden sind, haben sehr viel Ähnlichkeit mit dem Dante in deinen Filmen.“

Mit einem Mal konnte Morgan ihre Augen nicht mehr von Maxine abwenden. Sie sah nicht mehr so aus, als würde sie die Geschichte nur ertragen, um ihren Erzähler loszuwerden. Sie war wie gebannt. „Und der Ausweis?“

„Gehörte einem Frank W. Stiles, ein Agent der Division of Paranormal Investigations, von denen ich annehme, dass sie zur CIA gehören.“

„Frank W. Stiles“, flüsterte Morgan seinen Namen.

„Ich habe diese Dinge gefunden, weil ein furchtbar verbrannter Mann sie fallen gelassen hat, während er sich aus den Trümmern befreite. Und kurz danach war dann alles von Militär umstellt. Ich konnte entkommen, aber ich ahnte ja nicht, dass der Mann mich gesehen hatte. Und am nächsten Tag ließ er mich wissen, er bringt meine besten Freunde und meine Mutter um, wenn ich auch nur ein Wort darüber verrate, ihn gesehen zu haben. Meine Adoptivmutter, meine ich.“

„Ist das die gleiche beste Freundin, auf die jetzt geschossen wurde?“

„Ja.“

„Und du glaubst, das hängt zusammen? Du hast selbst gesagt, der Vorfall ist fünf Jahre her.“

„Da ist noch mehr. Erst vor Kurzem wurde in unserer Stadt eine Frau ermordet. Eine Frau, die Lydia Jordan sehr nahestand. Es sah wie das Werk eines Vampirs aus, und da wurde mir klar, dass ich die Informationen nicht länger für mich behalten konnte. Nicht, wenn Leute sterben. Also habe ich Lou gesagt, was ich weiß, und ihm die CD gezeigt. Und kurz danach liegt meine Freundin in Lous Apartment. Man hatte ihr mit Lous Waffe in den Kopf geschossen. Ich weiß, Lou hat es nicht getan, aber es war ziemlich deutlich, dass jemand ihn belasten wollte. Ich weiß, es war Frank Stiles. Ich weiß es einfach.“

„Wann ist das passiert?“

Maxine fragte sich, warum das wichtig sein sollte. „Letzte Nacht zwischen neun und zehn Uhr abends. Warum?“

„Und wie lange habt ihr gebraucht, um herzufahren? Ihr seid doch gefahren, oder nicht?“

„Ja, wir sind gefahren. Ungefähr sechs Stunden.“

Es schien, als hätte Morgan es nicht mehr so eilig, ihre neu gefundene Schwester wieder loszuwerden. Sie nickte langsam. „Und hinter wem seid ihr her? Dem Vampir, der Lydias Freundin umgebracht hat, oder dem entstellten Mann, der deine Freundin erschossen hat?“

Maxine überlegte. „Von entstellt habe ich nichts gesagt.“

Irritiert schüttelte Morgan im selben Moment den Kopf. „Du hast gesagt, er hatte schlimme Verbrennungen, das ist doch das Gleiche.“

„Nein, ist es nicht. Nicht wirklich.“

„Ich dachte einfach …“

„Du hast ihn gesehen. Verdammt, natürlich hast du. Er hat wahrscheinlich die gleichen Schlüsse gezogen, nachdem er den Film gesehen hat.“

„Du legst mir Worte in den Mund. Ich habe nie gesagt …“

„Ich will bloß die Wahrheit“, beschwor Maxine sie.

„Ich kenne die Wahrheit nicht.“ Morgan war wieder aufgestanden, doch ihre Knie schienen erneut nachzugeben, und sie hielt sich an der Anrichte fest, um stehen zu bleiben.

„Du siehst wirklich nicht gut aus, Morgan. Bist du krank gewesen?“

„Es ist eine … Erbkrankheit. Ein Antigen im Blut. Belladonna. Obwohl, wenn wir Zwillinge sind, würde ich davon ausgehen, dass du es auch hast.“

„Einfach nur A-positiv.“

„Kann das überhaupt sein?“

„Ich weiß es nicht“, gab Maxine zu. „Ich nehme an, wir müssten einen Arzt fragen, oder … so.“ Sie senkte den Kopf und hob ihn dann wieder. „Wer hat dich heute Nacht angegriffen? War das Dante?“

Morgan schüttelte langsam den Kopf und entfernte sich von Maxine, ihr Gang unsicher, ihre Füße fast schleppend. „Es war der entstellte Mann – Stiles. So wie du glaubt auch er, Dante ist echt und dass ich ihn zu ihm führen kann. Aber ihr irrt euch beide. Es gibt keinen Dante. Und selbst wenn –“

Ihre Beine gaben endgültig nach, doch bevor sie fallen konnte, hielt Maxine sie fest. Langsam ließ sie die Schwester dann zu Boden gleiten.

„Du wusstest es, nicht wahr, Lou?“

Er sah Lydia an, während sie auf den Klippen spazieren gingen. Früher war ihr Haar golden wie Honig gewesen, aber jetzt waren in seinen Wellen einige graue Strähnen aufgetaucht. Ihr Gesicht war kantiger, härter, hatte die runden Wangen der Jugend verloren. Und doch war sie immer noch schön.

Das Gras wurde lichter, gerade dort, wo sie gingen, und wich steilen felsigen Klippen, die bis in den Ozean hinabreichten. Er mochte das Meer hier oben. Es roch gut. Salzig und frisch, und die Meeresbrise war auch nicht so kalt, wie er es erwartet hatte. Sie schien mit den Wellen an Land zu rollen.

„Ich hatte einen Verdacht“, gab er schließlich zu. „Wegen Maxine wenigstens. Deshalb habe ich euch einander vorgestellt. Ich hatte wirklich nicht erwartet, dass sie sich so in diese Vampirtheorie verbeißt. Das sollte nur ein Vorwand sein, um euch zwei zusammenzubringen, damit ihr sehen könnt, was für mich so offensichtlich war.“

„Und Morgan?“, fragte sie.

„Ich hatte keine Ahnung, Lydia, das schwöre ich.“

Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. „Du hättest es mir sagen sollen. Das mit Maxine, meine ich.“

„Ich dachte, das ist etwas, was ihr zwei zusammen ausmachen solltet.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern. „Es tut mir leid, wenn ich falschlag, Kleines. Du weißt, ich will nur dein Bestes.“

„Das weiß ich.“

„Wirst du es ihnen sagen?“

Sie seufzte. „Ich weiß nicht. Ich muss nachdenken.“

Sie waren gerade umgekehrt, als Maxine nach Lou rief. Lydia packte Lous Arm. „Kann er zurückgekommen sein?“

„Komm“, beschwichtigte Lou sie, nahm ihren Arm und rannte gemeinsam mit ihr über den breiten Rasen zurück zum Haus. „Wir haben das Haus nicht aus den Augen gelassen“, murmelte er. „Er könnte durch eine andere Tür gekommen sein, nehme ich an, aber …“

Sie erreichten das Haus und stürzten hinein. Dort fanden sie Morgan ohnmächtig auf dem Boden und Maxine neben ihr kniend, die ihren Kopf festhielt und zu Tode erschreckt aussah.

„Jesus, was ist passiert?“

„Sie ist einfach zusammengebrochen!“

Lydia rannte zu ihr, kniete sich neben Maxine und berührte Morgans Gesicht. „Sie ist so kalt.“

„Ich glaube, sie ist krank. Lou, kannst du sie in ihr Bett tragen? Ich versuche, die Telefonnummer von einem Arzt zu finden oder so.“

Lou nickte und bückte sich, um Morgan hochzuheben. Sie wog kaum mehr als ein Lufthauch. Dann trug er sie die Treppe hinauf und machte sich auf die Suche nach dem richtigen Schlafzimmer.

Maxine saß neben dem Bett und starrte Morgan an. Es war zwei Uhr morgens. Lou schlief schon lange in einem der Gästezimmer, Lydia in einem anderen. In diesem Haus gab es ein halbes Dutzend Gästezimmer, alle vollständig eingerichtet, die aber anscheinend nur wenig benutzt wurden. Eine dünne Lage Staub in allen Schlafzimmern verriet Maxine, dass ihre merkwürdige Zwillingsschwester nicht viel Besuch bekam.

Sie hatte selbst nicht schlafen können. Also war sie hierhergekommen, und jetzt saß sie da und betrachtete diese Frau, die wie eine Tote schlief. In ihr riesiges Himmelbett mit weißen Spitzenbezügen über Bergen von Decken und dicken Kissen hätten gut und gerne vier Menschen gepasst und es wäre noch Platz übrig.

Das Haus war wunderschön. Riesig und wunderschön. Allein das angrenzende Badezimmer war größer als Maxines gesamtes Wohnzimmer. Verdammt, sogar der begehbare Kleiderschrank war größer. Und diese Kleider!

Vor lauter Kälte musste sie sich die Arme reiben. Als sie in das Zimmer gekommen war, hatten die Terrassentüren mit den cremeweißen, durchsichtigen Vorhängen offen gestanden und die kühle Herbstbrise hereingelassen. Maxine hatte sie geschlossen. Aber es war immer noch zu kalt im Zimmer.

Aber natürlich versuchte sie sich mit all diesen Gedanken nur von dem eigentlichen Grund ihres Hierseins abzulenken. Oh, sie erzählte sich selbst tausend Lügen. Sie wollte sich nur daran gewöhnen, ein Gesicht zu sehen, das dem ihren so ähnlich war. Sie wollte in der Nähe sein, falls Morgan aufwachte, um ihr zu erklären, warum sie immer noch da waren, Eindringlinge in ihrem Haus. Sie machte sich Sorgen, dass der Zustand der offensichtlich kranken Frau sich bis zum Morgen verschlechterte.

Nichts davon war der wahre Grund.

Sie wollte unter den Rollkragen sehen.

Maxine leckte sich nervös die Lippen und beugte sich vor. Morgan lag auf dem Rücken, still wie ein Stein, ihr Gesicht erschreckend weiß in der Dunkelheit, ihr Haar über die Kissen um sie herum ausgebreitet. Die schlafende Schönheit. Maxine streckte die Hand aus und hielt kurz vor Morgans Hals inne. Dann näherte sie sich langsam, bis ihre Fingerspitzen den schwarzen Stoff berührten.

Vorsichtig, sagte sie sich selbst, berühr ihre Haut nicht, sonst wacht sie auf. Vorsichtig …

Sie nahm den Rand des Kragens fest zwischen ihren Daumen und ihren Zeigefinger und zog ihn sehr vorsichtig nach außen und nach unten. Sie beugte sich näher über Morgan und versuchte, etwas zu erkennen.

Sie waren da. Genau, wie sie es vermutet hatte. Zwei kleine Wunden, von dunkler rotbrauner Farbe.

„Dante, neeeiiin“, stöhnte Morgan im Schlaf auf.

Maxine schreckte so plötzlich zurück, dass sie den Kragen gegen den Hals der Frau schnappen ließ.

„Bleib weg!“, krächzte Morgan. Ihr Kopf begann sich auf den Kissen hin und her zu werfen. „Nein, Dante, komm nicht her.“ Tränen quollen unter ihren geschlossenen Lidern hervor.

Maxine spürte einen stechenden Schmerz in ihren Eingeweiden. Das war ihre Schwester. Und sie war von einem Vampir angegriffen worden. Es war ihr unerklärlich, warum Morgan darauf bestand, es zu leugnen, aber die Beweise waren eindeutig, von den Wunden an ihrem Hals bis zu den Worten in ihren Albträumen, mit denen sie das Monster anflehte, nicht zurückzukommen.

„Nein, nein!“

Fürsorglich beugte Maxine sich wieder vor und nahm Morgan dieses Mal bei den Schultern. „Ruhig. Es ist in Ordnung. Du bist in Sicherheit.“

Die junge Frau hörte auf, sich zu wehren. Sie wurde ruhig, auch wenn ihr Atem etwas schneller ging als zuvor.

„Es ist alles gut“, flüsterte Maxine.

Morgan schlug die Augen auf. Es schien einen Augenblick zu dauern, ehe sie sich erinnerte, wen sie vor sich hatte. Der kurze Schreckensmoment war gefolgt von langsamer Klarheit. „Du bist noch hier?“, stellte sie leise fest.

„Du bist unten ohnmächtig geworden. Lou hat dich raufgetragen.“

Ihre Augen fielen schon wieder zu. „Es geht mir gut. Du kannst gehen.“

„Dein Freund David hat etwas anderes gesagt.“

Sie riss ihre Augen wieder weit auf. „D-David? Du hast mit ihm gesprochen? Aber wie?“

„Ich habe versucht, eine Telefonnummer von deinem Arzt oder Familienangehörigen zu finden, und hatte nicht viel Glück, aber dann hat das Telefon geklingelt. Es war ein Mann namens David Sumner, der sehr besorgt um dich schien. Ich habe ihm erklärt, was passiert ist …“

„Dazu gab es keinen Grund“, flüsterte Morgan.

„Er ist morgen früh hier. Er hat mich gebeten, zu bleiben, bis er hier ist. Und das habe ich getan.“

„Ich muss nicht bewacht werden.“

„Ich weiß von Dante“, sagte Maxine jetzt knapp.

Ihre Blicke trafen sich. „Ich auch. Er ist ein ausgedachter Charakter in einigen Filmen, die ich geschrieben habe.“

„Ich meine den echten Dante. Den, der die Wunden an deinem Hals hinterlassen hat.“

Sofort legte Morgan ihre Hand an den Hals, aber als sie den Rollkragen spürte, runzelte sie die Stirn. „Da sind keine …“

„Spar es dir, Schwester. Ich habe nachgesehen.“

„Du verstehst das nicht“, sagte Morgan mit einem Seufzen, das aus vollster Seele kam.

„Warum erklärst du es mir nicht einfach?“

Langsam setzte Morgan sich auf. Ganz automatisch beugte sich Maxine vor, um die Kissen hinter ihr aufzuschütteln, und als ihre Blicke sich begegneten, fühlte sie sich zum ersten Mal mit ihrer neuen Schwester verbunden. „Du musst nicht mehr allein mit allem fertigwerden“, sagte sie zu Morgan, „du hast jetzt eine Familie. Mir bedeutet das etwas, auch wenn du das anders siehst. Du bist meine Schwester. Ich lasse nicht zu, dass irgendwer dir wehtut.“

Morgan lehnte sich in die Kissen zurück, die Maxine für sie gerichtet hatte, und senkte ihren Blick. „Mir bedeutet es auch etwas.“ Sie sagte es sehr zögerlich. „Ich war nur … es war ein Schock. Ich wollte nicht so … kalt sein.“

„Du hattest einen schwierigen Abend.“

„Aber es war nicht Dante. Er würde mir nicht wehtun.“

„Nein.“ Sie versuchte, nicht zu zeigen, wie sehr es sie freute, dass Morgan endlich zugegeben – oder so gut wie zugegeben – hatte, dass es Dante wirklich gab.

„Nein. Es ist dieser entstellte Mann. Er ist der Feind. Er ist es, der mich angegriffen hat. Er hatte …“ Sie musste eine Pause machen, um gegen ein Schluchzen anzukämpfen. „Er hatte eine Armbrust.“

„Das muss schrecklich gewesen sein.“

„War es. Lieber Gott, ich hatte solche Angst. Und ich weiß immer noch nicht, ob er …“ Sie unterbrach sich und biss sich auf die Lippe.

„Du weißt nicht, ob er was? Ob er zurückkommt? Darüber musst du dir keine Sorgen machen, Morgan. Du hast hier einen Cop, einen Privatdetektiv und eine Sozialarbeiterin für ausgerissene Teenager im Haus. Wir drei zusammen schaffen so ziemlich alles, was anfällt. Er kommt dir nicht noch einmal zu nahe.“

Morgan sah Maxine lange an, fast, als wolle sie ihr widersprechen, aber dann nickte sie einfach. „Du willst wirklich nichts von mir, oder?“

„Nein. Wirklich nicht.“ Maxine legte eine Hand auf Morgans dünne, kalte Hände.

Morgan erwiderte den Druck.

„Ruh dich jetzt aus. Morgen fühlst du dich schon besser.“

Mit einem Nicken schloss Morgan die Augen und sank in tiefen Schlaf.