Keith

4. KAPITEL

5 Jahre später

Als Dante erwachte, drang das Geräusch knisternder Flammen in seine Ohren und der Geruch nach Rauch in seine Nase. Die Eindrücke glichen seinem ältesten Albtraum so sehr, dass er einen Augenblick lang glaubte, es war genau das, eine traumhafte Erinnerung, gekommen, um ihn heimzusuchen. Und er rührte sich nicht. Aber dann spürte er die Hitze und das Stechen in seinen Augen. Er spürte die wütenden Flammen und wusste, sie waren echt.

Zu schnell setzte er sich auf und musste dann blinzeln, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Er bemerkte dumpf, dass noch nicht Nacht war. Er war immer noch geschwächt durch die Trägheit seines Tagesschlafes. Seine Glieder fühlten sich schwer an, als er sich in dem breiten Bett auf die Seite drehte und seine Beine auf den Boden setzte. Sie kribbelten rebellisch, als er sein Gewicht verlagerte, aber es gelang ihm dennoch, splitternackt über den weichen Teppich auf die Schlafzimmertür zuzuwanken. Er kam nicht weit. Das musste er auch nicht. Hinter der Tür züngelten und fauchten die Flammen. Die glänzende Lackfarbe begann Blasen zu werfen und zu schwitzen.

In Dantes Nase brannte der Geruch, in seinem Kopf die Fragen. Das war kein Zufall. Er wendete sich zum Fenster, zog die schweren Vorhänge zur Seite, und duckte sich dann, als das helle Sonnenlicht seine nackte Haut verbrannte. Die Sonne hing tief am Himmel, dieser blendende gelbe Tod, aber sie war noch da, verdammt. Wenn er aus dem Haus ging, würde sie ihn rösten.

Und wenn er blieb, widerfuhr ihm das Gleiche.

Die Tür stöhnte bedrohlich auf und schwoll nach innen an, ehe ihr schwangerer Bauch platzte und hungrige Flammen gebar. Rauch wehte ins Zimmer wie ein großer schwarzer Geist. Sein Fleisch zischte. Dante knurrte tief in seiner Kehle, riss die Vorhänge von ihrer Stange und wickelte sie um sich wie einen Umhang, ehe er sich durch die Glasscheibe warf.

Der Erdboden gab keinen Zentimeter nach. Er schlug brutal auf, die Luft wich ihm aus den Lungen, seine Zähne stießen schmerzhaft aufeinander, seine Knochen schienen zu bersten. Er rollte sich ab, stand auf und rannte blind davon, während er spürte, wie die Sonne durch den Stoff hindurch seine Haut erhitzte. Zu seiner Linken bewegte sich etwas, und schon stieß er mit etwas zusammen, das sich wie ein Auto anfühlte. Bremsen quietschten, jemand fluchte und drückte dazu brutal auf die Hupe, aber Dante lief einfach weiter. Er musste durch eine Öffnung in dem schweren Vorhangstoff sehen, um zu wissen, wohin zur Hölle er überhaupt lief. Über die Fahrbahn, ja, so weit richtig. Er rannte geradeaus, verließ die Straße über einen mit Unkraut bewachsenen Parkplatz, und mit jedem Schritt bildeten sich mehr Brandblasen auf seinen Füßen. Immer auf die Küste zu. Das Sonnenlicht begann jetzt, durch den Vorhang zu dringen, und er konnte die Blasen auf seiner Haut spüren. Verdammt, verdammt, verdammt. Er eilte voran, den Kopf geneigt, die bloßen Füße pochend vor Schmerz, den Vorhang wie einen Umhang um sich gezogen.

Ein Geräusch. Ein surrendes Geräusch, und dann grub sich etwas in seinen Arm. Es fühlte sich an, als hätte man ihn mit einem rot glühenden Messer erstochen. Er blieb vor Schmerz gelähmt stehen, griff mit seiner einen funktionierenden Hand unter den Vorhang und fühlte einen Zylinder, ähnlich wie ein Pflock, in seinen Oberarm eingebettet. Aus der Eintrittswunde quoll warmes, dickflüssiges Blut.

„Getroffen!“, brüllte jemand. Eine Männerstimme.

Die eines toten Mannes, dachte Dante boshaft. Er zwang sich dazu, sich wieder zu bewegen. Endlich spürte er das Wasser an seinen Füßen. Er preschte vor, bis es ihm bis zu den Knien stand, dann bis zur Mitte des Oberschenkels. Die kühle, salzige Nässe war ein Labsal für seine Haut. Verdammt, er brutzelte regelrecht. Noch ein paar Meter mehr, und er warf sich mit dem Kopf voran in den Atlantischen Ozean und tauchte unter. Schmerz preschte durch seinen ganzen Körper, aber ihn zu fühlen hatte er keine Zeit. Immer tiefer bewegte er sich in das kühle Nass hinunter, bis er das heiße Sonnenlicht auf seiner Haut nicht mehr spürte.

Dann drehte er sich um. Sein Körper berührte den Sand und die Muscheln und den Dreck am Meeresgrund und wühlte eine wässrige Wolke auf, als er nach oben blickte, an die Oberfläche. Der Himmel über dem Wasser war immer noch blass, aber er wurde immer dunkler. Das Wasser kühlte sich ab und beruhigte seine verbrannte Haut, aber in seinem Arm loderte immer noch der Schmerz, und nach einem Augenblick fiel ihm auf, dass das Wasser eine rosige Färbung bekam. Er sah hinab auf seinen Arm. Hoch auf der Außenseite, zwischen Schulter und Ellenbogen, saß immer noch der Pflock, und um ihn herum quoll stetig Blut hervor und verteilte sich im Wasser.

Der Wahnsinnige hatte mit einer Armbrust auf ihn geschossen.

Dante hob seinen Arm und betrachtete den Pfeil, der aus der Unterseite ragte. Wunderbar.

Mit einer Hand ergriff er dieses Mordinstrument, und er hätte schwören können, dass dieses Ding eine Meile lang war. Als das Holz aus seinem Fleisch glitt, biss er die Zähne zusammen, um den Schmerz besser ertragen zu können. Jesus! Sterbliche würden nie so viel Schmerz empfinden wie Vampire. Niemals.

Er ließ den Pfeil auf den Meeresboden fallen, aber das Blut floss weiter. Und es würde nicht aufhören, bis er ausgeblutet war, wenn es ihm nicht gelangt, die Blutung zu stoppen. Die Wunde konnte nur während seines Tagesschlafes heilen. Falls er noch so lange lebte.

Dante fasste hinab auf den Grund des Meeres, nahm eine Handvoll schlammigen Sand in seine hohle Hand und rieb ihn sich mit letzter Kraft in die offene Stelle. Er wurde fast zerrissen von dem höllischen Schmerz. Nachdem er beide Seiten der Wunde mit Sand verschlossen hatte, rupfte er eine Handvoll Algen aus und wickelte sie sich um den Arm. Mit den Zähnen und einer Hand schaffte er es schließlich, die festen Blätter zu verknoten.

Der Schmerz hatte ihn geschwächt, seine Lungen sehnten sich nach Luft, und auch wenn er nicht an Sauerstoffmangel sterben konnte, war es fast unmöglich, seinen Körper davon abzubringen, Atem zu holen. Als er wieder aufblickte, war der Himmel dunkel, und er flüsterte ein stummes Dankgebet an die Schutzengel der Untoten, wer sie auch sein mochten. Dann stieß er sich mit den Füßen vorsichtig vom Meeresboden ab. Langsam, ganz langsam, ließ er sich an die Oberfläche treiben. Als sein Kopf auftauchte, sog er gierig den Atem ein. Es fühlte sich himmlisch an, wie seine Lungen sich füllten und sein Kopf wieder klar wurde. Er schob sich die nassen Haare aus dem Gesicht und sah sich am Ufer um.

„Früher oder später muss er auftauchen.“

Dante folgte dem Klang der Stimme zu ihrem Besitzer, einem Mann, der am Ufer stand und mit einer starken Taschenlampe über die Wasseroberfläche leuchtete. Er suchte siebzig Meter zu nahe am Ufer. Dachte wie ein Mensch, wendete menschliche Einschränkungen an auf eine Kreatur, die darüber nur lachen konnte.

„Wenn er das tut, bringt er uns beide um“, sagte ein anderer Mann. „Die Sonne ist untergegangen.“

„Aber …“

„Wir haben versagt. Du musst lernen, zu welchem Zeitpunkt man sich sein Versagen eingesteht und einfach verschwindet, Raymond. Sonst überlebst du nicht lange genug, um es noch einmal zu versuchen. Nach Einbruch der Dunkelheit haben sie die Kontrolle. Verstehst du? Die Nacht ist unser Feind.“

Dante blickte durch die Dunkelheit und entdeckte den zweiten Mann am Ufer. Die linke Seite seines Gesichts, zwischen Wange und Auge, war fleckig und vernarbt und verzog das Auge selbst zu einem grotesken Blinzeln. Darüber lag ein rosiger Fleck nackter Kopfhaut, auf dem keine Haare wuchsen.

„Mach das Licht aus“, befahl der entstellte Mann.

Der andere, Raymond, gehorchte. „Wie kann er so lange im Wasser bleiben? Hä? Ich wusste nicht, dass die unter Wasser atmen können wie verdammte Fische oder so was.“

„Können sie auch nicht. Aber es dauert sehr lange, bis einer von denen wegen Sauerstoffmangel das Bewusstsein verliert.“

Fast geräuschlos zog Dante seine Arme durch das Wasser, kam immer näher ans Ufer heran und brannte darauf, ihnen die Kehlen herauszureißen und sie leer zu saugen. Er hatte eine bedenkliche Menge Blut verloren, die er auf deren Kosten wieder auffüllen konnte. Die zwei bettelten ja geradezu um seinen Zorn.

Doch ehe er seinen Plan verwirklichen konnte, eilten sie davon. Er hörte, wie Türen zuschlugen, ein Motor startete, und dann sah er die Lichter eines Autos, das vom Strand wegfuhr. Es war nicht länger notwendig, sich besonders langsam oder leise zu bewegen, und Dante schwamm, bis seine Knie auf Sand stießen. Dann richtete er sich auf und watete aus dem kalten Ozean. Als er am Strand stand, noch bis zu den Knöcheln im Wasser, splitternackt und kalt wie Stein, sah er auf die flammende Fackel zurück, die eines seiner liebsten Häuser gewesen war.

„Ich werde die zwei umbringen müssen, wer zum Teufel sie auch gewesen sind.“

„Dante?“

Sofort erkannte er diese Stimme und wartete, tropfnass, und sein Arm schrie immer noch vor Schmerzen, bis Sarafina aus den Schatten trat. Sie war wunderschön, wie immer. Ihr langer Rock war aus schwarzer Spitze mit einem Muschelsaum. Sie trug eine weiße Bauernbluse, die ihre milchigen Schultern freiließ. Bunte Seidenschals an ihrer Hüfte und in ihren schwarzen, lockigen Haaren folgten ihr wie ein Kometenschweif, wenn sie sich bewegte. Nur ihr Make-up hatte sie zu dick aufgetragen. Das hatte sie schon immer getan. Dicker schwarzer Eyeliner und dunkler Lidschatten verliehen ihr ein bedrohliches Aussehen, und die langen, gebogenen, blutroten Fingernägel taten ihr Übriges. Aber sie war eine Zigeunerin. Sie machte sich die Vorurteile zu eigen, die mit diesem Blut einhergingen. Es war ihre Marotte.

Sie kam näher, packte ihn an den Schultern, dass er vor Schmerz zusammenzuckte, und küsste sein Gesicht und seinen Mund. Er spürte ihre Wärme und roch ein frisches Opfer in ihrem Atem.

„Es geht dir gut?“, bemerkte sie, als sie ihn endlich losließ.

„Ich habe ein Loch im Arm, aber es wird schon gehen. Diese Bastarde haben mein Haus angezündet.“

„Hast du sie gesehen?“, fragte sie.

„Ja, aber sie sind geflüchtet, sonst wären sie schon tot.“

„Hatte einer von ihnen ein vernarbtes Gesicht?“

Dante warf ihr einen scharfen Blick zu und nickte. „Du bist ihnen schon begegnet?“

„Dem einen wenigstens. Er hat mich eines Nachts in Rom verfolgt. Ich hätte ihm die Kehle herausgerissen, aber als er merkte, dass ich ihn gesehen habe, ist er weggerannt wie ein Kaninchen.“

Dante seufzte. „Der Mann ist die reinste Pest.“

„Dieser Mann möchte gern umgebracht werden.“

Dante verdrehte die Augen und zwang sich trotz seines Schmerzes zu einem Lächeln. „Du glaubst, jeder Sterbliche möchte gern umgebracht werden, Sarafina.“

„Dreißig von uns sind im Schlaf ermordet worden, Dante. Und Weitere sind Bränden wie diesem nur knapp entronnen. Jemand weiß von unseren Geheimnissen.“

Ein kalter Schauer überlief ihn – ob es an ihren Worten lag oder an der Temperatur, wusste er nicht mit Sicherheit. „Lass uns irgendwo hingehen, wo ich mich abtrocknen kann“, sagte er. „Wir können uns dort weiter unterhalten.“

„Ja. Du wirst bald einen Haufen Schaulustiger anziehen, wenn du dich so unbekleidet zur Schau stellst.“

Sarafina nahm ihn am Arm und führte ihn zu einer schwarzen Limousine, die hinter einer Kurve geparkt war. Sie sorgte dafür, dass er sich auf die Rückbank setzte und stieg neben ihm ein. Ihre Extravaganz entlockte ihm ein Lächeln.

Der Fahrer äußerte sich nicht zu dem klatschnassen nackten Mann, den seine Arbeitgeberin da anschleppte. Er sah ihr nicht einmal direkt in die Augen, als sie mit ihm sprach. Er war gut ausgebildet, dachte Dante. Sehr gut. Vielleicht zu gut. Sarafina drückte auf einen Knopf, und die Glastrennwand zum Vordersitz senkte sich ein Stück. „Bring uns zurück zum Apartment, Schatz. Und dreh die Heizung hier hinten auf.“

Der Fahrer antwortete nur mit einem Nicken, während das Glas sich schon wieder schloss. Dann setzte der Wagen sich in Bewegung.

Sarafina nahm einen großen gehäkelten Schal und rieb damit Dantes Schultern, Brust und seine Haare. „Ich glaube, das sind diese furchtbaren DPIs“, überlegte sie laut. „Die müssen dahinterstecken.“

Dante warf ihr einen durchdringenden Blick zu und zuckte mit dem Kopf in Richtung des Mannes auf dem Vordersitz.

„Oh, mach dich nicht lächerlich, Liebling. Er kann mich nicht hören, wenn die Trennscheibe oben ist, und selbst wenn er es könnte, würde er kein Wort wiederholen.“

Dante sah noch einmal zu dem Mann auf dem Fahrersitz. Er war sehr blass und sehr dünn. Seine Augen wirkten hohl. Der Hals des Mannes war zwar nicht zu sehen, aber der Rollkragenpullover unter seiner dunkelblauen Jacke sprach schon Bände. Dante sah wieder zu Sarafina. „Du solltest sie nicht als Sklaven missbrauchen, Fina. Das gehört sich nicht.“

Nachlässig zuckte sie mit den Schultern. „Wenigstens bringe ich sie nicht einfach um. Es sei denn, sie verärgern mich. Hör auf, das Thema zu wechseln. Was sollen wir wegen dieser Organisation unternehmen?“

Kopfschüttelnd fragte er sich, ob er den Sterblichen aus seinem Elend erlösen sollte, wenn die Fahrt zu Ende war. Andererseits, was würde das bringen? Sarafina würde sich nur einen anderen suchen, der ihr zu Willen war. Je öfter ein Vampir von einem Sterblichen trank, ohne ihn zu töten, desto abhängiger wurde der Sterbliche, bis er kaum mehr war als ein unterwürfiger Wurm ohne Verstand, wie der Fahrer, der sich nur danach sehnte, noch einmal zu spüren, wie seine Herrin ihre Zähne in seinem Fleisch vergrub.

„Die DPI wurde vor fünf Jahren zerstört“, gab Dante zu bedenken. „Danach hat die Regierung ihre finanzielle Unterstützung zurückgezogen. Es gibt sie nicht mehr.“

„Und wer macht dann noch Jagd auf Vampire?“

Er zuckte die Schultern und wendete den Blick ab.

„Noch interessanter wäre es herauszubekommen, wer ihnen ihre Informationen gibt. Woher wissen die, wo wir uns ausruhen, wo wir jagen, wo wir leben? Sogar die DPI mit all den Recherchen hatte nicht so viele Informationen über unser Privatleben.“ Sie ließ den feuchten schwarzen Schal auf den Sitz zwischen ihnen fallen. „Genau diese Person müssen wir finden, Dante. Wer auch immer er ist, wir müssen ihn umbringen – und zwar langsam, schlage ich vor. Ich möchte gerne eine Weile dabei zusehen, wie er sich windet.“

Als sie auf einen Knopf drückte, öffnete sich die Glasscheibe zwischen den Sitzen erneut. Sie beugte sich vor. „Dein Handgelenk, mein Schatz. Deine Herrin ist hungrig.“

Mit einem matten Lächeln hob der Fahrer seinen Arm und steckte seine Hand durch die Öffnung. Den Ärmel seiner Jacke hatte er bereits zurückgerollt, und auf seinem Unterarm waren mehrere alte Einstichwunden zu erkennen. Sarafina packte seinen Unterarm mit beiden Händen, versenkte ihre Reißzähne in seinem Fleisch und saugte eine lange Zeit an ihm. Dante blickte weg, konnte aber nicht leugnen, dass sich auch in ihm der Hunger regte.

Sie hob ihren Kopf und leckte sich die roten Lippen sauber. „Möchtest du auch etwas, Dante? Mein Schatz ist ziemlich lecker.“

„Du bist grausam, Sarafina. Bring ihn um, damit es ein Ende hat.“

Als hätte er sie verletzt, hob sie die Brauen und richtete ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf den Fahrer. Sie leckte die Blutspuren von seinem Arm und rollte behutsam seinen Ärmel hinab. „Na also, Schatz. Fahr hier bitte an den Straßenrand.“

Er nickte und brachte die Limousine zum Stehen. Dann stieg er aus, kam nach hinten und öffnete ihre Tür.

Sie waren mitten auf dem Highway. Der Verkehr, der an ihnen vorbeirauschte, war ein einziges Gemisch aus Licht und Bewegung. Sarafina stand nicht auf. Sie sprach, ohne ihn auch nur anzusehen. „Ich möchte, dass du etwas für mich tust, Schatz.“

„Alles“, flüsterte der Fahrer. Er war ein großer Mann. Dunkles Haar, von grauen Strähnen durchzogen, dünnes, scharfkantiges Gesicht und eine Hakennase.

„Ich möchte, dass du dich umdrehst und mitten auf die Fahrbahn marschierst.“

Der Fahrer starrte sie an, nicht direkt in ihre Augen, sondern irgendwo darunter.

„Sarafina …“, setzte Dante an.

„Tu es sofort“, befahl sie.

Dante schloss die Augen und fluchte leise. Der Fahrer drehte sich um und trat mitten in den entgegenkommenden Verkehr. Sein Körper wurde ungefähr hundert Meter durch die Luft geschleudert. Da saß allerdings schon Sarafina hinterm Steuer und fuhr davon.

Sie blickte nicht einmal zurück.

„Ich verstehe einfach nicht, wieso du nicht zurück nach L.A. ziehst, Morgan. Du hast alles, was du wolltest. Du kannst jetzt triumphierend zurückkehren, genau, wie du es dir immer gewünscht hast.“

Morgan ging auf den marmornen Fliesen in dem großen Raum hin und her, und ihre Absätze klapperten mit jedem Schritt. Sie trug eine locker sitzende petrolfarbene Bluse und passende Hosen aus gebürsteter Seide, die ihre Haut sanft streichelten, wenn sie sich bewegte. Sie liebte dieses Gefühl. „Ich mag es hier“, sagte sie. „Komm schon, David, selbst du musst zugeben, dass ich in den letzten fünf Jahren mit diesem Haus ein Wunder vollbracht habe.“

„Ich fange an, mir zu wünschen, ich hätte es dir nie verkauft“, murmelte er fast wortlos. Er ließ sich in einen antiken Sessel mit Klauenfüßen sinken und sah sich dabei in dem großen Zimmer um. Sie wusste, dass ihm nichts anderes blieb, als zu bewundern, was er sah. Die mit Stuck verzierte Decke war neu gemacht worden, bis hin zu den kleinen Engeln in den Ecken und in der gewölbten Kuppel über ihnen.

Sie setzte sich ihm gegenüber und gab ihm ein Glas Sodawasser auf Eis. Ihr eigenes Glas sah genauso aus, allerdings enthielt es trotz der frühen Morgenstunde Wodka. Sie brauchte die Kraft. Sie liebte David, aber verdammt noch mal, sie wollte, dass er einfach wieder ging. Ihr war nichts mehr wichtig, außer, zurück zu den Tagebüchern zu kommen. Zu den Fantasien und dem Mann, der sie geschrieben hatte. Gott, eine einzige wache Stunde, schon gar einen Tag zu verbringen, ohne sich in seinen Gedanken zu verlieren, war ihr unerträglich. Sie verließ das Haus überhaupt nicht mehr. Sie wollte es einfach nicht. Und wenn sie schlief – oh, es war am besten, wenn sie schlief. Weil er in ihren Träumen so viel echter war.

„Ich muss zugeben, ich bin verwirrt“, gestand David, nahm sein Wasser und nippte daran. „Ich dachte, alles wäre schon entschieden. Du wolltest dich hier draußen verstecken, deine Wunden lecken, deinen Blockbuster schreiben, dein Vermögen machen und dann nach Hause kommen und alles zurückfordern, was du verloren hast.“

„Ahh, ja. Und die Ehre des Namens De Silva wiederherstellen.“ Sie lächelte nur dünn.

„Hätte ich gewusst, dass du so schreiben kannst, wie du es tust, und so schnell, ich muss zugeben, ich hätte dich nie hierherkommen lassen.“

Morgan wendete ihren Blick ab. „Ich konnte damals nicht so schreiben. Nicht dort. Ich habe meine … Inspiration, in Ermangelung eines besseren Wortes, hier gefunden. In diesem Haus. Ich könnte nirgendwo sonst arbeiten. Ich kann es nicht, David. Ich werde es nicht tun.“

„Das ist abergläubischer Unsinn.“

Nein, dachte Morgan. Das war es nicht. Dante war hier. Sie spürte ihn. Ihren eigenen atemberaubenden Wahnsinnigen. Er – seine Tagebücher wenigstens – hatte ihr das Leben geschenkt, und gleichzeitig auch einen Teil davon geraubt. Der Mann namens Dante hatte ihren Geist gefangen, ihre Seele, auf eine dunkle Art und Weise, die sie erst noch verstehen musste. Er war für sie real. Er war mehr als ein vor langer Zeit verstorbener Wahnsinniger, der seine verrückten Wahnvorstellungen aufgeschrieben hatte. Er war echt. Er lebte … in ihr, auf irgendeine Art. In diesem Haus.

Nichts davon konnte sie David erklären. Stattdessen starrte sie hinauf zu dem Kristalllüster, den sie im großen Zimmer hatte installieren lassen, und fragte sich, wie ähnlich er dem Stück war, das ursprünglich dort gehangen hatte. Als Dante hier gelebt hatte.

Es war nicht einfach gewesen, das Haus zu restaurieren. Und es war auch nicht billig gewesen. Aber dank des Erfolgs, den die ersten beiden Filme ihrer Vampirserie an den Kinokassen einfuhren, konnte sie es sich leisten, genau das zu tun, was sie wollte. Dazu hatte auch gehört, Experten anzuheuern, die ihr dabei halfen, das Haus genau so zu restaurieren, wie es seiner Bauperiode entsprach. Wenn auch viel, viel opulenter.

Ihr dritter Film war seit genau acht Wochen in den Kinos, und er hatte Morgan bereits reicher gemacht, als sie es sich in ihren wildesten Träumen hatte ausmalen können. David ebenfalls. Und jetzt warteten sie darauf, welche Träume noch wahr werden konnten.

Morgan warf einen Blick auf ihre Uhr. „Ist es noch nicht so weit?“

„Wahrscheinlich spät genug. Komm mit.“ David stand auf und bot ihr seine Hand an. Sie nahm sie und ließ sich von ihm aufhelfen. „Lieber Gott, Morgan, du musst etwas zunehmen. Du bist keine Schauspielerin, weißt du.“

Sie lächelte ihn an und überspielte die Schwäche in ihren Beinen und das Schwindelgefühl, das sie oft überkam, wenn sie zu schnell aufstand. „Man kann nie zu reich sein oder zu dünn“, witzelte sie. „Und außerdem, wenn alles gut geht, muss ich in ein paar Wochen in einem Kleid gut aussehen, das sich einer von diesen Designern ausgedacht hat.“

Klar. Als würde sie diesen Ort je wieder verlassen. Nicht einmal dafür.

Sie gingen über die Fliesen zu der Doppeltür, die in ihr Arbeitszimmer führte. Der Kamin funktionierte jetzt mit Gas, und nachdem sie den Raum betreten hatten, feuerte Morgan ihn als Erstes an. Auf dem neu versiegelten Parkettfußboden lagen sündhaft weiche Orientteppiche. Der Schreibtisch war ein Nachbau, der Computer das neueste Modell. Und an den Wänden hingen dicht an dicht Bilder von Dante. Holzkohlezeichnungen, die sie selber angefertigt hatte, statt Aufnahmen aus ihren Filmen. Der Schauspieler, der ihn verkörperte, machte seinen Job ausgezeichnet, natürlich, aber er war nicht Dante. Sie kannte ihren Helden.

Es gab eine Zeichnung von ihm als kleinen Jungen mit großen dunklen Augen, der zu einer wunderschönen Zigeunerin aufsah, die um ein Lagerfeuer tanzte. Auf einer anderen Zeichnung saß er an seinem Schreibtisch und grübelte über seinen Tagebüchern.

„Das ist fast gruselig“, sagte David und schauderte kaum merklich, als er das große Zimmer durchquerte, sich hinsetzte und eine Fernbedienung in die Hand nahm. „Wird er dir nie über?“

Morgan blieb neben einer weiteren Zeichnung stehen und sah in die ausdrucksvollen Augen des Objekts. „Ich kenne jede Falte und jede Kontur seines Gesichts“, flüsterte sie. Dann, als die Stille sich immer weiter ausbreitete, schüttelte sie sich und zwang sich zu einem Lächeln. „Natürlich ist das unmöglich. Das alles sind nur Hirngespinste, die meine Fantasie aus dem Material der Ta… der Drehbücher zusammengebastelt hat. Aber es scheint so echt. Ich sehe ihn in meinen Träumen, so wirklich, als wäre er real.“ Sie lächelte. „Ich kenne sogar den Klang seiner Stimme.“

„Autoren“, murmelte David. Er drückte auf einen Knopf, und die Türen der nachgebildeten antiken Vitrine öffneten sich, bis dahinter ein Großbildfernseher zu sehen war. Er drückte auf einen weiteren Knopf, um ihn anzuschalten, und einen, um den Kanal zu wählen. „Mir würde er über werden“, meinte er, „egal, ob real oder nicht.“

„Ich könnte in ihm ertrinken, und er würde mir doch nicht zu viel werden“, gab Morgan zu. „Manchmal glaube ich, ich tue genau das. Ich ertrinke in ihm.“

Als David nicht antwortete, schaute sie zu ihm hinüber und bemerkte seinen merkwürdigen Blick. Morgan lachte kurz, um seinen sorgenvollen Blick zu verscheuchen. „Wir Kreativen müssen doch von Natur aus exzentrisch sein. Verzieh dein Gesicht nicht so, das gibt Falten.“

Er wendete sich mit einem Seufzen ab und blickte wieder zum Fernseher. Dann schnappte er sich die Fernbedienung und stellte den Ton lauter. „Da ist es!“

Das berühmte Paar auf dem Podium verlas abwechselnd eine Liste, und Morgan schien es, als würde dieser kurze Clip länger dauern als jeder zweistündige Film, den sie je ertragen hatte. Sie kippte ihren Drink hinunter und wartete, bis sie zu dem Teil kamen, der sie interessierte.

„In der Kategorie ‚Bestes Originaldrehbuch‘ sind nominiert …“

Ein Brummen schien ihren Kopf anzufüllen, das ganze Zimmer, ihre Ohren. Sie konnte nicht mehr hören, was sie sagten, aber plötzlich sah sie auf dem Bildschirm neben vier Namen auch ihren eigenen. „Morgan De Silva für Twilight Hunger.“

David sprang auf und drückte sie fest an sich. Er lächelte und lachte und sprang von einem Fuß auf den anderen, während er sie immer noch festhielt. Morgan ergab sich der überwältigenden Dunkelheit, die in ihr aufstieg, und sackte in seinen Armen zusammen.

Sie lag auf der Couch, als sie die Augen wieder öffnete. David saß dicht neben ihr und hielt ihre Hand. „Da bist du ja wieder. Alles in Ordnung. Das Ganze hat dir wahrscheinlich mehr bedeutet, als mir klar gewesen ist.“

„Das ist es nicht …“, fing sie an. Dann erinnerte sie sich an das, was gerade geschehen war.

Lieber Gott, es stimmte. Sie war für die höchste Auszeichnung der Filmindustrie nominiert. Für eine Arbeit, die nicht einmal ihre eigene war. Sie hatte nie erwartet, dass es so weit gehen würde. Und doch hatte sie es gewusst. Es musste einfach so sein. Die Geschichten waren zu gut, um nicht als solche erkannt zu werden. An ihnen war etwas … Überweltliches. Etwas, das fast bis in das Innerste des Publikums eindrang.

„Alles in Ordnung?“

Sie nickte, versuchte aber gar nicht erst, sich aufzusetzen. Das alles war sehr merkwürdig. Sie hatte erwartet, sich über diesen Augenblick … zu freuen. War es nicht mehr, als sie sich je erträumt hatte? Sollte es nicht alles wiedergutmachen, was in ihrem Leben falsch gelaufen war? Warum fühlte sie sich dann immer noch so leer?

„Jetzt musst du mit zurück nach L.A. kommen“, freute sich David. Er fuhr sich mit einer Hand durch sein schütter werdendes honigblondes Haar, das an den Schläfen bereits ergraute. „Wegen der Partys. Der Empfänge. Der Interviews. Du solltest dich sehen lassen.“

Der Gedanke daran, diesen Ort zu verlassen, brachte ihr Herz zum Rasen. Sie schüttelte schnell den Kopf und kämpfte gegen die Panik an. „Ich kann jetzt hier nicht weg.“

„Aber …“

„Das neue Skript ist noch zu zerbrechlich, David. Ich kann nicht aufhören zu arbeiten, ohne meinen Schwung zu verlieren. Und woanders kann ich auch nicht arbeiten. Also muss ich genau hier bleiben.“

Er schloss die Augen langsam, als versuchte er, ihre Worte zu begreifen.

„Wenn die Verleihung ansteht, bin ich bestimmt fertig. Dann werde ich kommen. Versprochen.“

Zweifelnd starrte David sie an. „Aber du brauchst ein Kleid. Und deine Haare, und … Liebes, andere Leute planen monatelang, um sich für diese eine, besondere Nacht fertig zu machen. Lieber Gott, wenn das Gleiche dem Mädchen passiert wäre, das ich vor fünf Jahren kannte, dann hätte sie darauf bestanden, von mir nach Paris geflogen zu werden, um ein Kleid zu kaufen. Und wahrscheinlich hätte sie drei gekauft, ehe sie entscheidet.“

Sie setzte sich sehr, sehr langsam auf, damit ihr nicht wieder schwindelig wurde, und sah ihm in die Augen. „Das Mädchen bin ich jetzt nicht mehr.“

„Nein“, sagte er. „Das bist du nicht. Du hast dich verändert, Morgan. Und nicht zum Besseren. Du bist die reinste Einsiedlerin geworden.“

Ihre Wut durfte er jetzt nicht bemerken. David hatte recht, und wenn sie ihm die Wahrheit sagen würde, dann müsste sie ihm befehlen, nach Hause zu gehen, damit sie endlich wieder allein sein konnte. Damit sie zurück in die samtene Dunkelheit von Dantes Welt kriechen konnte. Sie hasste es, nicht darin verwickelt zu sein, vermisste ihn wie einen Liebhaber, wenn sie einen Tag verbringen musste, ohne in seinem Leben zu wühlen, ohne es durch ihren eigenen Verstand und ihre eigene Seele zu verarbeiten, damit es auf ihrem Bildschirm Platz fand. Ohne seine Erinnerungen, seine geheimsten Gedanken in Dialoge und Regieanweisungen zu verändern, damit sie auf der Leinwand zum Leben erwachen konnten. Es war fast, als versuchte sie irgendwie, ihn von den Toten auferstehen zu lassen, indem sie seinen Erinnerungen Leben einhauchte.

Nicht genug. Gott, es war nie genug.

„Ich habe dich verärgert.“ David sah sie beunruhigt an.

„Nein. Nein, ich bin nur … überwältigt.“ Sie lächelte zu ihm auf. „Also, spendierst du mir ein Frühstück zur Feier des Tages, oder was?“

Er hob die Augenbrauen und seufzte. „Ja, natürlich. Wie schnell kannst du fertig sein?“

Sie zwang sich dazu, glücklich auszusehen. Die Rolle der aufgeregten Ehrenträgerin zu spielen, die sich darauf freute, die Auszeichnung ihres Lebens zu feiern.

In Wahrheit wollte sie es einfach nur hinter sich bringen und nach Hause zurückkehren. In sein Haus. Um allein zu sein mit dem nicht existierenden Mann, der sie Tag und Nacht heimsuchte. Ihr Herz und ihre Seele. Der ihren Verstand in Beschlag nahm.

Dante.

Der Mann, der Band um Band in der Ichform geschrieben hatte, und der, davon war sie überzeugt, an jedes Wort glaubte, das er notiert hatte.

Er hatte geglaubt, ein Vampir zu sein.

Fast wünschte sie sich, es wäre wahr.