Keith

6. KAPITEL

Maxine lehnte sich in ihren ergonomisch geformten Stuhl zurück und zwinkerte mehrmals mit den Augen. Wenn man den ganzen Tag auf den Computerbildschirm starrte, zwinkerte und blinzelte man zu wenig. Das hatte sie irgendwo gelesen. Es war nicht gut für die Sehkraft.

Die Vordertür öffnete sich, und Stormy kam herein, eine große weiße Bäckertüte in einer Hand, die morgendliche Post in der anderen. „Zeit für eine Pause!“, rief sie. „Fett, Kalorien und Cremefüllung, genau was der Arzt verordnet hat.“

Maxine seufzte und schob ihren Schreibtischstuhl zurück. Er rollte vom Schreibtisch bis in die Mitte des ehemaligen Wohnzimmers, das jetzt ihr Arbeitszimmer geworden war – wenn man das Wort im weitesten Sinne verwendete. Es ähnelte eher einer Explosion in einer Fabrik für Papier und Schnellhefter. Mit Computern. Jeder Menge Computern.

Stormy stellte die Tüte auf ihren Schreibtisch, setzte sich dahinter und spähte hinein. „Mmm, ich habe Marmelade und Cremefüllung, und jetzt kann ich mich nicht entscheiden.“

„Wie viele sind da drin?“, fragte Maxine und hob ihre Augenbrauen.

„Halbes Dutzend.“ Stormy sah nicht hoch. Die Donuts hatten sie in ihren Bann geschlagen.

„Dann nimmst du am besten von jedem einen.“

Da sah sie endlich auf, die Augenbrauen ebenfalls hochgezogen. „Glaubst du?“

„Oh, klar. Besser, als das Risiko einer falschen Wahl einzugehen.“

„Ich mag es, wie dein Verstand funktioniert.“ Stormy lächelte anerkennend, während sie in die Tüte langte, um sich einen Donut zu greifen.

Maxine stand von ihrem Schreibtisch auf und schlenderte in die Küche, die ihren Charakter noch nicht eingebüßt hatte. Dort schenkte sie zwei Becher frischen Kaffee ein. „Hast du dir mal überlegt, wie armselig es ist, dass ich nach all den Jahren immer noch im selben Ort, im selben Haus, im selben Trott lebe?“

„Nein.“

Maxine musste lächeln, weil Stormy mit vollem Mund nuschelte. Sie trug die zwei Becher zurück ins Arbeitszimmer und sah gerade noch, wie ihre Freundin einen weiteren Bissen nahm und vor Wonne die Augen schloss.

Sie stellte Stormy einen Becher hin und langte selbst nach einem Donut. Maxine wusste, wenn sie es nicht tat, würden sie bald alle verschwunden sein.

„Möchtest du die Antwort noch weiter ausführen oder bei der einen Silbe bleiben?“

Stormy schluckte, schleckte sich die Lippen ab und nahm einen Schluck Kaffee. Sie hatte immer noch einen Ring aus Puderzucker um den Mund, aber was machte das schon.

„Wer würde nicht in diesem Haus bleiben? Mensch, Mädchen, deine Mutter hat es dir umsonst und völlig problemlos überlassen. Du wärest verrückt, es nicht anzunehmen. Und ich sehe auch keinen Trott. Du leitest nicht nur eine, sondern zwei Firmen, und beide machen Gewinn, wenn ich das noch hinzufügen dürfte.“

„Knapp“, murmelte Maxine. Sie seufzte, tunkte ihren Donut in den Kaffee und nahm einen großen Bissen. Als sie damit fertig war, ließ sie die erste Bombe hochgehen. „Webdesign wird langsam langweilig, Stormy. Um dir die Wahrheit zu sagen, ich werde damit aufhören.“

„Du hörst auf?“

„Ich schließe den Laden.“

Nachdenklich stellte Stormy den Becher auf ihrem Tisch ab und stand auf. „Warum? So verdienst du den Großteil deines Einkommens.“

„Ja, aber das war nie mein Lebensziel. Ich meine, es ist schon okay. Ich bin gut darin, aber es ist nicht mein Traumjob. Das war es nie.“

„Was soll das heißen? Werden neue Leute bei Spion & Co gesucht?“

Maxine warf ihr einen funkelnden Blick zu. „Mach darüber keine Witze.“

„Was dann?“ Stormy fuchtelte mit ihren Händen in der Luft, drehte sich langsam um und suchte mit dem Blick nach oben an der Decke nach einer Erklärung. „Ich dachte, dein Nebenjob hat gereicht, um den Schnüffler in dir zu befriedigen, Max. Etwa nicht?“

„Nein, hat er nicht. Wenn überhaupt hat er meinen Appetit nur angeregt.“ Maxine war vor etwa einem Jahr von einem Kunden um Hilfe mit einem Cyber-Stalker gebeten worden. So war sie mit der Internetkriminalität in Berührung gekommen und hatte schon ein halbes Dutzend weitere Stalker aufgespürt, und zwar mithilfe ihrer super-anonymen, angeblich nicht auffindbaren Usernamen. Sie hatte sogar dabei geholfen, einige Betrügereien aufzudecken, die mit den sogenannten paranormalen Wissenschaften zu tun hatten. Schwindler, die sich im Internet auf alles von Hellseherei bis Geistervernichtung stürzten. Alles legal, bis man an ihre Partner geriet, die leichtgläubigen Menschen einredeten, sie bräuchten übernatürliche Hilfe, manchmal auch durch Drohungen.

All das hatte Maxine außerdem immer wieder die Gelegenheit gegeben, mit ihrem Lieblingscop in Kontakt zu bleiben. Nicht, dass das irgendwas mit ihrer Entscheidung zu tun hatte, sich ganz in diese Richtung zu orientieren.

„Was würdest du also sagen, wenn ich vorhätte, eine weitere kleine Firma zu starten?“, fragte sie jetzt.

Stormy drehte sich zu ihr um und sah ihr misstrauisch ins Gesicht. „Eine dritte?“

„Ich lasse das mit dem Webdesign. Also wäre es nur eine zweite. Und im Grunde würde es auch nur die, die es schon gibt, auf eine neue höhere Ebene heben.“

„Was hast du vor?“

Maxine wischte sich ihre zuckrigen Finger an ihrer Jeans ab und ging an ihren Schreibtisch. Sie öffnete eine Schublade, nahm ein Stück Papier heraus und schob es über die Oberfläche. „Sieh dir das hier an und sag mir dann, was du denkst.“

Stormy trat näher, beugte sich vor, und las laut. „Maxine Stuart, lizenzierter Privat…“ Sie blickte auf. „Lizenzierter Privatdetektiv? Seit wann?“

„Es kam heute in der Post. Den Antrag habe ich vor Monaten abgeschickt.“

„Max …“

„Ich weiß, okay. Es klingt total abgehoben, aber wenn du mal drüber nachdenkst, dann habe ich das sowieso schon die ganze Zeit gemacht. Nur eben im Internet und nicht in Echtzeit.“

„Im Internet kann man dich nicht erschießen.“ Stormy verdrehte die Augen. „Wer weiß sonst noch davon?“

Maxine zuckte mit den Schultern.

„Maxine Stuart, wer weiß sonst noch davon?“

Sie senkte ihren Blick. „Na ja, Lou weiß es.“

„Lou. Lou Malone. Das hab ich mir gedacht. Wahrscheinlich hat er dich noch ermuntert, was?“

„Also er … na ja, er hat mir mit der Anmeldung geholfen. Ich durfte ihn als Referenz angeben.“

„Aha.“

„Hör zu, ich bin echt gut. Und Lou hat schon ein paar Fälle, die er mir zuschieben könnte.“

„Verdammt. Ich weiß nicht, wieso du den Mann nicht endlich anspringst und es hinter dich bringst, Max.“

„Das habe ich vor. Sobald ich ihn in eine Ecke treiben kann.“ Stormy riss die Augen auf, während ihre Freundin sie schelmisch anlächelte. „Aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wenn ich nur in Lous Nähe kommen wollte, hätte ich bei der Polizei angefangen. Das wäre einfacher gewesen.“

„Ja. Klar. Muss der alte Knacker nicht sowieso bald in Rente?“

Ein Räuspern erklang, und als sie beide sich umdrehten, stand der alte Knacker höchstpersönlich in der Tür. Maxine konnte nicht abschätzen, wie lange er dort gestanden hatte, oder wie viel er gehört haben könnte. Das Anspringen, von dem sie gerade gesprochen hatten, würde sich wahrscheinlich leichter gestalten, wenn sie sich heimlich anschleichen konnte. Aus der Hinterhand, so in der Art.

Er war zu dünn, deshalb sah sein Anzug etwas schlottrig aus. „Störe ich gerade?“

Stormy drehte ihm den Rücken zu und starrte Maxine genervt an, was Maxine einfach ignorierte. „Komm rein, Lou. Hast du die Donuts gerochen, oder was?“

Er lächelte nicht, und er neckte sie nicht zurück, wie er es normalerweise tat. „Es ist, äh – etwas delikat.“

Stirnrunzelnd ging sie auf ihn zu. Er wartete nicht. Stattdessen drehte er sich um und trat hinaus auf die Veranda. Als sie sich ihm dort anschloss und die Tür hinter sich zuzog, begann er zu reden. „Ich lade dich auf eine Tasse Kaffee ein. Dort können wir reden. In Ordnung?“

„Klingt ernst.“

„Ja. Ich brauche deine Hilfe. Es ist quasi genau deine Sache, Max, sonst würde ich dich nie darum bitten.“

„Warum nicht?“

„Warum was nicht?“

„Warum würdest du mich nie um etwas bitten?“

Mit einem tiefen Atemzug und schwer seufzend hob er zu einer Antwort an. „Weil du noch ganz neu bei der Sache bist, und ich hatte eigentlich vor, dich mit so was wie Milchbrötchen anfangen zu lassen. Hintergrundinformationen zu Verdächtigen zusammensuchen und so was.“

„So viel Vertrauen hast du also in mich?“

„Du bist noch ein Kind.“

„Ich bin fünfundzwanzig.“

„Wie gesagt …“

„Halt die Klappe, Lou.“ Sie riss die Autotür auf und setzte sich neben ihn. Er nahm sie nicht mit in den Coffee Shop, wie sie gedacht hatte. Stattdessen fuhr er ans Drive-in-Fenster irgendeiner Fast-Food-Kette und bestellte zwei große Kaffee, einen schwarz, einen mit zweimal Milch und drei Stück Zucker. Sie lächelte, als er die Bestellung herunterrasselte, ohne sie zu fragen. Er wusste genau, wie sie ihren Kaffee mochte.

Sich auf ihn zu stürzen würde ein Kinderspiel werden.

Er fuhr auf den nächsten Parkplatz, stellte den Motor aus und drehte sich zu ihr um.

„Mann, Lou, falls du auf dem Rücksitz fummeln willst, solltest du dir ein lauschigeres Plätzchen aussuchen.“

Röte überzog sein Gesicht. „Ja, klar.“

„Im Süden der Stadt gibt es die alte Kieskuhle, wo in der Highschool jeder mal zum Rummachen hinfährt. Kennst du die?“

Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen. „Natürlich kenne ich die.“

„Mmm. Dann warst du schon mal dort?“

„Klar. Um mit der Taschenlampe nach den Kindern zu leuchten, die es besser wissen müssten, und sie nach Hause zu ihren Mamas zu schicken. Also, willst du mit mir über Geschäftliches reden oder rumalbern, Max?“

Maxine wollte albern. Mit ihm. Jetzt. Aber sie hatte ihn offensichtlich nur geärgert. Er ärgerte sich immer, wenn sie mit ihm flirtete, schon beim kleinsten bisschen. „Schon gut. Geschäfte. Schieß los.“ Sie lehnte sich zurück und nippte an ihrem Kaffee.

„Okay. Da ist diese Frau. Sie ist eine Freundin von mir. Eine gute Freundin.“

In ihrem Kopf kratzten Fingernägel auf Schultafeln, und Maxine setzte sich aufrechter hin.

„Sie heißt Lydia Jordan. Die Leiterin von Haven House.“

Während ihr Kopf sich mit Fakten füllte, sah sie ihn skeptisch an. „Das Mädchenhaus in der Innenstadt? Für Ausreißer in Not?“

Er nickte.

„Ich dachte, das wird von zwei ehemaligen Prostituierten geleitet.“

Wieder nickte er.

Sie hob ihre Augenbrauen und sah ihn an. „Deine Freundin ist eine Nutte?“

„War eine Nutte.“

„Und wie zum Teufel kommt es, dass du sie so gut kennst?“, fragte sie, und es war ihr egal, wie zickig sie klang.

Er lächelte sie an. „Verdammt, Max, wenn ich nicht alt genug wäre, um dein Vater zu sein, man könnte denken, du wärest eifersüchtig.“

„Du bist so was von nicht alt genug, um mein Vater zu sein.“ Das war er doch, aber sie würde es bestimmt nicht zugeben.

Seufzend schüttelte Lou den Kopf. „Ich bin Lydia zum ersten Mal begegnet, als ich sie wegen versuchter Prostitution verhaftet habe. Ich war damals noch ein Neuling, und sie kann nicht älter als achtzehn gewesen sein. Über die Jahre habe ich sie bestimmt ein Dutzend Mal mitgenommen, ehe sie ihr Leben in den Griff bekommen hat. Kimbra kannte ich nicht so gut. Aber die beiden haben sich auf der Straße getroffen, sind beste Freundinnen geworden, und haben sich gegenseitig geholfen, von vorne anzufangen.“

„Das ist die Partnerin? Die andere Hälfte des dynamischen Duos?“

Er nickte. „Sie haben sich richtige Jobs besorgt, Abendkurse besucht, und nachdem sie das geschafft hatten, haben sie sich um andere Mädchen gekümmert, denen es so ging wie ihnen. Ich glaube, sie haben beide einige Zeit in Haven House verbracht, ehe sie es übernommen haben. Egal, das ist jetzt nicht mehr wichtig.“

„Natürlich ist das wichtig. Wie nahe stehst du dieser Lydia genau, Lou?“

Diesen Blick sah sie bei ihm nur selten. Er war wütend und zeigte ihr, dass sie eine unsichtbare, unausgesprochene Grenze überschritten hatte und sich verdammt noch mal lieber zurückhalten sollte.

Sie seufzte und senkte den Blick.

„Kimbra Sykes ist tot. Ermordet. Und Lydia hat sich in den Kopf gesetzt, irgendwelche übernatürlichen Kräfte hätten damit zu tun.“

Maxine zeigte sich wenig beeindruckt. „Hat wohl eine Menge Drogen genommen, als sie noch anschaffen ging, was?“

„Nein. Aber sie ist schon immer unheimlich abergläubisch gewesen.“

Am liebsten hätte sie ihn gefragt, warum zum Henker es sie kümmern sollte, ob diese Exhure nun abergläubisch war oder nicht. Sie hasste die Frau. Spontan und automatisch. „Und warum meinst du, ich kann irgendwas tun, um ihr zu helfen?“

Er legte eine Hand auf ihre Schulter. „Max, habe ich dich irgendwie wütend auf mich gemacht?“

„Nein.“ Sie sah ihn nicht einmal dabei an.

„Und wieso schmollst du dann so?“ Er seufzte nur, als sie ihm nicht antwortete. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich dachte nur – verdammt, du weißt doch Bescheid mit diesem Zeug. Weißt du noch, die Frau, die gedacht hat, in ihrem Haus würde es spuken, und die sich einen Geisterjäger aus dem Internet bestellt hat, damit er die Sache für sie erledigt?“

„Und dann stellte sich raus, dass er selber für den Spuk verantwortlich war? Ja, daran erinnere ich mich.“

„Du wusstest es. Du wusstest von Anfang an, dass es ein Schwindel war. Und du hast die Frau davon überzeugen können, weil du so viel Fachwissen hattest. Du hast ihr gesagt, ein echter Geist würde sich nie wie ihrer verhalten – erinnerst du dich? Sie hat dir quasi aus der Hand gefressen!“

Sie zuckte mit den Schultern, aber sein Lob wärmte sie von innen. „Ich bin ziemlich gut, wenn ich mich mit der Sache auskenne.“

„Und du kanntest dich mit der Sache aus. Du und dein skeptischer Verstand, ihr habt euch immer in Sachen vergraben, die irgendwie unstimmig waren. Du hast alles darüber in Erfahrung gebracht, was du konntest, und dann den Schwindel aufgedeckt.“

„Es ist nicht so, als würde ich nicht an paranormale Phänomene glauben. Ich weiß nur, dass neunundneunzig Prozent der Geister, Kobolde, Hellseher und Medien da draußen Betrüger sind. Ich glaube an das, was ich mit eigenen Augen sehen kann, nicht, was die Leute mir erzählen. Und selbst wenn ich es mit eigenen Augen sehe, glaube ich kaum etwas von dem, was die Regierung oder irgendwelche Autoritätspersonen mir auftischen. Wenn mich das zum Skeptiker macht, bin ich ein Skeptiker.“

„Du bist ein Skeptiker.“

Trotzdem verstand sie noch nicht, was er von ihr wollte. „Ich verstehe immer noch nicht, was ich für deine … Freundin machen soll.“

„Du sollst sie davon überzeugen, dass ihre beste Freundin nicht von einem Vampir ermordet worden ist.“

Ganz langsam hob Maxine ihren Kopf. Sie sah ihm in die Augen und suchte nach einem Funken des Lachens, der ihr verriet, dass er nur Witze machte. Aber da war keiner.

„Vampir?“

„Ja. Ist das die verrückteste, abgefahrenste Sache, die du jemals gehört hast, oder was?“

Ihr Nicken wirkte beiläufig, aber in ihrem Kopf war sie schon zurück in dem ausgebrannten Gebäude, vor fünf Jahren, mit den Soldaten, den Lichtern. Verdammt. Sie hatte gewusst, das würde noch einmal zu ihr zurückkommen. Sie wusste Dinge, die sie nicht wissen sollte. Dinge, die niemand wissen sollte.

„Wann kann ich diese Lydia treffen?“

„Dann machst du es?“, fragte er.

Sie sah ihm in die Augen und musste schlucken. „Für dich? Immer, Lou. Du weißt, dass ich dir nichts abschlagen kann. Ich wünschte nur, du würdest mich irgendwann mal um etwas bitten, was ein wenig mehr Spaß macht.“

Er lachte unsicher, tätschelte ihr den Kopf und wendete seinen Blick ab. Dann ließ er den Motor wieder an und fuhr sie zurück nach Hause.