Keith

21. KAPITEL

„Aber es ist noch nicht einmal dunkel draußen.“

„Ich weiß“, sagte David sanft. „Aber, Morgan, du bist vollkommen ausgelaugt.“ Sein Tonfall, seine Augen, alles so besorgt. Voll von Liebe und Sorge. Und doch verbarg er etwas vor ihr. Das wusste sie einfach. Und es war nicht nur die Tatsache, dass er versuchen wollte, sie unter Drogen zu setzen, damit sie die Nacht durchschlief.

Sie sollte verdammt sein, ehe sie ihn das tun ließ.

„Komm schon, Liebes. Trink den Tee, und dann geh rauf in dein Bett. Du brauchst die Ruhe.“

Morgan beäugte die Teetasse. Zweifellos versetzt mit den Beruhigungsmitteln, die Dr. Hilman ihm heute zugesteckt hatte. Wenn er nur wüsste, dass ihr Leben davon abhing, Dante wiederzusehen, davon, ihn zu überzeugen, zu tun, was er tun musste, um sie unsterblich werden zu lassen …

Sie setzte den Tee an ihre Lippen und tat so, als würde sie trinken. Senkte den Becher wieder und tupfte sich dann mit einer Serviette, die sie vom Couchtisch nahm, die vergiftete Flüssigkeit von den Lippen. „Ich tue, was du sagst, David, wenn du mir verrätst, was du und diese blonde Frau zu besprechen hattet, als ich euch heute Morgen zusammen gesehen habe.“

Mit durchdringendem Blick sah er sie an. „Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich habe ihr nur mitgeteilt, wo sie ihre Freunde findet. Ihr angeboten, sie in die Stadt mitzunehmen.“

„Es sah nach mehr aus.“

Nachlässig hob er die Schultern, aber er sah ihr nicht in die forschenden Augen. „Es war nicht leicht, ihr zu erklären, warum du deine eigene Schwester aus dem Haus wirfst, Morgan. Wenn das Gespräch dir eindringlich schien, dann nur, weil ich einen Weg finden musste, dein Verhalten zu rechtfertigen.“

Es war als Spitze gemeint und traf ins Herz. Es tat weh, von der einzigen Person, die ihr nie geschadet hatte, auf einmal gemaßregelt zu werden.

Er streckte seine Hand nach ihrer aus und hielt sie sanft fest. „Ich will dir nicht wehtun, Liebes. Es ist dir nur gar nicht ähnlich, so unfreundlich zu sein.“

„Und dir sieht es nicht ähnlich, dich gegen mich zu stellen“, flüsterte sie.

„Oh, Morgan, nein. Nicht gegen dich. Nie, niemals gegen dich.“

„Und was hast du dann mit dieser Frau ausgeheckt? Ihr habt geschwiegen wie Gräber, als ich den Raum betreten habe. Ihr habt etwas besprochen, was ich nicht hören sollte.“

Er fuhr mit der Hand durch ihr Haar. „Nur, weil ich nicht will, dass du dich aufregst, so krank wie du gerade bist. Ich wollte nicht, dass sie dich nach Erklärungen ausfragt, und ich wollte nicht, dass du versuchen musst, ihr welche zu liefern. Das ist alles.“

In ihren Augen brannten Tränen, die sie jedoch tapfer fortblinzelte. Es war ihr egal, sagte sie sich selbst, wenn ihr bester Freund, dem sie am meisten von allen vertraute, sie betrog. Sie brauchte ihn nicht. Sie brauchte nur Dante.

„Trink deinen Tee, Schatz. Komm schon.“

Er hob die Tasse und hielt sie ihr hin.

Sie nahm die zerbrechliche Porzellantasse aus seiner Hand und nickte langsam. „Ich glaube, ich befolge deinen Rat und gehe rauf in mein Zimmer. Ich nehme den Tee mit und trinke ihn im Bett.“

„Das ist eine gute Idee.“

Hilfsbereit trat er auf sie zu, um ihr aufzuhelfen und sie zur Treppe zu führen. „Ich scheine in letzter Zeit einen furchtbar leichten Schlaf zu haben“, erwähnte sie beiläufig, während er neben ihr ging und eine Hand um ihren Ellenbogen gelegt hatte. „Muss daran liegen, dass ich so lange alleine gelebt habe. Wahrscheinlich habe ich mich an die Stille gewöhnt.“

„Ich werde leise wie eine Maus sein, Liebes. Du brauchst deinen Schlaf.“ Er blieb stehen und öffnete ihre Schlafzimmertür für sie. Sie entbot ihm ein dünnes, gehorsames Lächeln, küsste ihn auf die Wange und trat ein.

„Gute Nacht, Morgan“, sagte David und schloss die Schlafzimmertür.

Sie durchquerte ihr Schlafzimmer bis zu den Terrassentüren, öffnete sie und trat hinaus. Dann drehte sie die kleine Tasse um und goss ihren Inhalt aus. Die steife Meeresbrise verstreute den Tee bereits zu tausend Tropfen, ehe er auf den Boden kommen konnte.

Mit einem Seufzen ging Morgan zurück, blickte auf ihr ordentlich gemachtes Bett, auf den weißen Satinmorgenmantel, der von einem der Bettpfosten hing, und die leere Tasse in ihrer Hand. Sie musste es überzeugend aussehen lassen. David war kein Idiot.

Sie stellte die Tasse auf ihren Nachttisch. Dann zog sie die Decke zurück und brachte sie in Unordnung, um sie danach wieder herzurichten, legte Kissen darunter, die sie immer wieder umschichtete und aufschüttelte, ehe sie die Decke darum feststeckte. Dann trat sie zurück an die Schlafzimmertür, um aus demselben Blickwinkel daraufzublicken, wie David, wenn er nach ihr sah. Sie wusste, er würde nach ihr sehen.

Gut. Es sah gut aus. Genau, als würde sie im Bett liegen, in den Decken vergraben, mit dem Rücken zur Tür.

Sie zog ihre Jeans aus, dann ihren Pullover und ließ sie gut sichtbar auf dem Boden liegen. Sogar ihre Tennisschuhe und die weißen Socken. Dann zog sie den Morgenmantel an. Und endlich, als letztes Detail, schloss sie die Terrassentüren wieder und ließ die Jalousien hinter den durchsichtigen Gardinen hinab. Sie schloss auch alle anderen Jalousien in ihrem Schlafzimmer und ließ den Raum in Dunkelheit versinken. Jetzt würde es noch schwieriger werden, auszumachen, dass sie nicht wirklich im Bett lag, jedenfalls ohne das Licht anzumachen, und sie glaubte nicht, dass David sie wecken würde, um das zu tun.

Endlich ging sie auf Zehenspitzen zu ihrem Kleiderschrank, nahm sich einen warmen, großen Schal aus weichem schwarzem Filz von einem Bügel, und legte ihn sich um die Schultern. Sie schlüpfte mit den Füßen in winzige Slipper, wie Ballerinas, nur waren sie aus Samt. Dann ging sie leise zur Schlafzimmertür.

Dort musste sie stehen bleiben, weil ihre Atmung außer Kontrolle geraten war. Zu schnell und zu laut, um nicht bemerkt zu werden. Durch die wenigen Handgriffe der letzten fünf Minuten war sie vollkommen außer Atem. Es wurde schlimmer. Mit jeder Stunde wurde es schlimmer.

Sie wartete, bis ihr Atem sich beruhigte und ihr Pulsschlag langsamer geworden war. Dann endlich öffnete sie die Schlafzimmertür, nur einen Spalt, und spähte hinaus auf den Flur. Er war leer. Sie schlich so leise wie möglich hinaus und schloss die Tür langsam hinter sich. Dann, Schritt für vorsichtig gesetzten Schritt, bewegte sie sich auf die Treppe und begann, hinabzusteigen. Eine Hand umklammerte das Geländer, falls sie stolperte. So viele Stufen. Gott. Wo zum Teufel war er? Wo war David?

Sie horchte, konnte ihn aber nicht hören. Spähte, erblickte ihn aber nirgends.

Endlich kam sie am Fuß der Treppe an, und genau in diesem Moment hörte sie über sich Schritte. Ihr Kopf fuhr hoch, und sie sah David, der den langen Flur entlang auf die Treppe zuging. Sie beeilte sich, die letzten Stufen zu nehmen, duckte sich um die Treppe herum und ging schnell aus dem Wohnzimmer auf ihr Arbeitszimmer zu.

Rasch nahm sie den Schlüssel aus der Tasche ihres Mantels und ließ sich ein, dann schloss sie die Türen gleich wieder ab. Sie musste innehalten und lehnte sich an die Tür, um durchzuatmen.

Es dauerte eine Weile, bis ihr Herzschlag sich beruhigte. Bis ihr Atem langsamer und fast wieder normal ging. Als es so weit war, öffnete sie ihren Safe und nahm drei von Dantes Tagebüchern und die CD heraus, auf der sich die einzige Kopie ihres neuen Drehbuchs befand. Das, an dem sie seit Monaten arbeitete.

Sie schloss die Augen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie tat das Richtige. Sie hatte die Geschichte von der Liebe einer Frau und einem Betrug, der ihn und einen guten Freund fast das Leben gekostet hatte, in Dantes eigenen Worten gelesen. Sie musste ihm beweisen, dass sie nicht das Gleiche tun würde. Diese Geste … sie würde es ihm zeigen.

Morgan verschloss den Safe wieder und lauschte dann an den Türen. Als sie nichts hörte, schlüpfte sie hinaus, schloss sie leise hinter sich ab und ging ins Esszimmer und dann in die Küche. An der Hintertür wartete die Alarmanlage auf sie. Das rote Licht blinkte. David hatte das verdammte Ding aktiviert!

Fieberhaft versuchte sie, sich an den Code zu erinnern, aber in ihrem Kopf wirbelten zu viele andere Dinge herum. David kam gerade durch das Haus. Kam hierher! Verdammt, wann hatte sie ihm die Alarmcodes verraten? Mist, wie schwer konnte es schon sein, sie zu erraten, auch wenn sie es ihm nie gesagt hatte? Es war schließlich ihr Geburtstag.

Richtig. Ihr Geburtstag.

Sie gab schnell die Zahlen ein. Das grüne Licht leuchtete auf. David kam gerade durchs Esszimmer, auf die Küche zu. Seine Schritte klangen näher und näher. Sie riss die Küchentür auf, stürzte hindurch, die Bücher mit einem Arm gegen die Brust gedrückt. Dann zog sie die Tür schnell, aber so leise wie möglich hinter sich zu. Sie rannte auf die große Weide zu und zählte dabei in Gedanken. Der Alarm würde sich in dreißig Sekunden selbstständig wieder aktivieren. Morgan hoffte bei Gott, dass David das grüne Licht nicht auffiel, ehe es wieder auf Rot umschaltete. Sie erreichte den Baum, duckte sich dahinter und zählte weiter. Als sie dreißig erreicht hatte, wartete sie und starrte auf die Tür. Sicher würde sie jeden Augenblick aufspringen und David herauskommen, um zu sehen, was los war. Aber nichts dergleichen geschah.

Er hatte es nicht einmal bemerkt.

Mit einem erleichterten Seufzen wendete sie sich vom Haus ab und ging hinab auf die Küste zu, an die Stelle, wo sie Dante zum letzten Mal gesehen hatte. Dort setzte sie sich hin, zitterte und zog ihren Schal fester um sich. Wartete. Wartete auf ihn. Was, wenn er nicht kam?

Die Szene der vorigen Nacht spielte sich immer wieder in ihren Gedanken ab. Wie er vor Schmerz zusammengezuckt war, das Blut, das neben dem Pflock aus seinem Arm quoll, und dann sein Fall. Wie eine Strohpuppe.

Wie konnte er das überlebt haben?

Aber er war nicht menschlich. Er lebte nicht wirklich. Sie biss sich auf die Lippe und blickte über den Klippenrand. Und dort erblickte sie, was sie vorher, in der Dunkelheit, nicht gesehen hatte. Einen Vorsprung. Er musste auf dem Vorsprung gelandet sein.

Sie sah sich stirnrunzelnd um, wählte eine Stelle und kletterte über den Rand auf den breiten Felsvorsprung hinab, der wie ein natürlicher Balkon aufs Meer hinausragte. Es war nicht leicht, die Tagebücher festzuhalten und auf die CD zu achten, die sie zwischen die Seiten geklemmt hatte, während sie sich an den Abstieg machte. Gott sei Dank hatte sie nicht noch mehr mitgenommen.

Endlich kam sie auf dem Vorsprung an. Hier, dachte sie. Hier muss er gelandet sein. Sie fuhr mit den Händen über den Felsen, als könne sie ihn noch dort spüren, doch da war nichts. Waren die kleinen Flecken, die sie dort sah, Blut? Es konnte genauso gut Salzwasser sein, oder Regen, oder Tau.

„Wo bist du hin, Dante?“ Sie blickte nach rechts und nach links und fand dennoch nichts. Unter sich nur Meer und Felsen. Er konnte nicht ins Meer gegangen sein, oder doch?

Beim Blick nach oben wurde Morgan mulmig zumute. Ob es mir wohl gelingt, wieder hochzuklettern? dachte sie besorgt. Doch dann blieb sie stehen und starrte das Gestrüpp aus Ranken an und die Öffnung, die vor ihr lag. „Eine Höhle“, flüsterte sie.

Mit einem Arm teilte sie die Ranken auseinander und kroch vorwärts, in die vollkommene Dunkelheit und die ewige Kälte des tiefen Felsens hinein. Sie zog ihren Schal enger um sich und bemühte sich, den Weg vor sich zu erkennen. Sie streckte ihren freien Arm aus und bewegte ihn vor sich nach beiden Seiten, während sie in kurzen abgehackten Schritten vorwärts ging. Sie erwartete Spinnweben. Da waren keine. Nur glatter, kalter Stein unter ihren dünn besohlten Schuhen. Sie erwartete ständig, an ein Ende zu stoßen. Vielleicht einen Abgrund. Sie setzte die Füße noch vorsichtiger. Aber der Boden fiel nicht ab.

Ihr Verstand schlug Alarm. Sie musste umkehren. Doch alles andere, ihr Instinkt, ihr Herz und diese unsinnige Sehnsucht nach Dante ließen eine Umkehr unmöglich werden. Es war wie ein Zwang, vorwärts zu gehen. Es gab nichts, wovor sie Angst haben musste, sagte sie sich selbst immer wieder, während die Dunkelheit sie verschluckte. Was war schon das Schlimmste, das ihr passieren konnte? Sterben? Das musste sie sowieso.

Mittlerweile streckte sie ihre Hand nicht mehr von sich, sondern fuhr stattdessen damit an der Wand entlang. Als Morgan bemerkte, dass der Weg eine Kurve machte, blieb sie erschreckt stehen. Okay, okay. Sie nahm sich Zeit, sich zu orientieren und ihren Weg zu ertasten. Die Wände waren nicht verschwunden, der Gang war nur breiter geworden. Sie tastete die Wand ab und folgte ihr, bis sie an einen Bereich kam, der sich anders anfühlte als der Rest. Stahl statt Stein. Ihre Finger tasteten sich an den Rand vor, und sie merkte, sie hatte eine Tür gefunden. Sie fand den Griff, einen eisernen Ring, und zog, dann drückte sie, zog wieder und drückte und zog, bis das Ding sich bewegte, wenn auch nur ein wenig. Lieber Gott, das würde nicht leicht werden. Besonders, weil sie sich heute so schwach fühlte. Dennoch, sie legte ihre wertvollen Bücher beiseite, sammelte jedes kleinste bisschen Kraft, das noch in ihr steckte, und bearbeitete weiter die schwere Tür, bis es ihr endlich gelang, sie weit genug zu öffnen.

Sie musste eine Pause machen und sich gegen den unebenen Fels zurücklehnen. Sie war vollkommen außer Atem und rang nach Luft. Und während sie ihren Herzschlag beschwor, sich zu beruhigen, nahm sie etwas wahr. Etwas … was sich in ihrem Bewusstsein regte. Eine Wahrnehmung außerhalb ihrer normalen Sinne sagte ihr, dass sie ihm nah war. Dante. Er war hier, irgendwo. Sie hob ihren Kopf, suchte mit der Kraft ihrer Gedanken, tastete die Luft förmlich nach ihm ab, fand ihn, jetzt stärker, als eine Art Vibration genau in der Mitte ihrer Stirn.

„Dante …“, flüsterte sie, und ihr Herz zog sich in ihrer Brust zusammen. Wieder spürte sie dieses hohle Verlangen in ihrem Bauch. Sie drückte sich von der Wand ab, bückte sich, um den Boden abzutasten, fand ihre Bücher, presste sie an sich und drückte sich dann durch den Spalt in der jetzt etwas offen stehenden Tür in den Raum dahinter. „Dante, bist du hier?“

Keine Antwort. Pechschwarze Dunkelheit, und doch hallte ihre Stimme nicht so wider, wie sie sollte. Sie bewegte sich, benutzte wieder ihre Hand, um die Form und Größe des Raumes abzuschätzen. Flache Wände, nicht gerundet. Und er roch anders. Ihr Schenkel stieß gegen etwas, das schaukelte, und ihre Hand schnellte vor, um es aufzufangen.

Ein kleiner Tisch.

Und darauf … eine Laterne. Dann sollten …

Ja, sie tastete sich über den Tisch und fand Streichhölzer. Sie musste in dem Raum unter ihrem Arbeitszimmer sein, schoss es ihr durch den Kopf, und wieder klopfte ihr Herz im Galopp. War er dorthin geflohen?

Sie legte ihre Bücher auf den Tisch und versuchte dann im Dunkeln, das Streichholz anzuzünden und seine Flamme gegen den Docht der Laterne zu halten. Als das Licht aus dem Glas leuchtete, hob sie die Lampe an und drehte sich um.

Der Sarg war noch da. Geschlossen. Leer?

Sie schluckte, sah hinab und wurde dann ganz ruhig. Etwas Dunkelrotes war auf dem Boden vergossen worden. Viel davon, eine Lache bei der Tür, und dann eine Spur, die sich wie ein Teppich ausbreitete, und noch eine Lache neben dem Sarg. Oh Gott, er hatte so viel Blut verloren!

Sie hielt die Lampe in einer zitternden Hand und trat näher, vermied die trocknenden Pfützen, und einen Augenblick lang schaffte sie es, ihren Blick von der stumpfen, staubigen Kiste und dem Blut auf dem Boden zu reißen, um sich nach einem Haken umzusehen, oder … Aus einem der Balken über ihrem Kopf ragte ein uralter Nagel. Man hatte ihn in einem Winkel hochgeschlagen, als wäre er genau zu diesem Zweck angebracht worden. Sie schob den Drahtgriff der Laterne über den Nagel und ließ sie dort hängen. Dann leckte sie sich nervös die Lippen und drehte sich wieder zu dem Sarg um.

War es draußen bereits dunkel? Als sie die Höhle gefunden hatte, war es hell gewesen. Aber das war schon eine Weile her. Vielleicht eine Stunde, in der sie sich langsam in der Höhle vorwärtsgearbeitet hatte. Das müssen etwa sechzig Meter gewesen sein, so lang wie der Rasen hinter dem Haus, und der ganze Weg war wahrscheinlich von Dantes Blut bemalt gewesen. Sie hatte eine ganze Weile gebraucht, bis sie in der völligen Dunkelheit hierhergelangt war, dann hatte sie Zeit damit verbracht, die Tür aufzubekommen. Die eigentlich verschlossen gewesen sein sollte. Wenn Dante gesund wäre, hätte er die verdammte Tür abgeschlossen.

Ihre Hände legten sich um das Holz des Sargdeckels. Sie schloss langsam ihre Augen, atmete tief durch, um sich Mut zu machen, betete, sie würde innen keine leblose Hülle vorfinden, und dann hob sie den Deckel an.

Seine Scharniere quietschten und ächzten vor Rost.

Dante lag darin, vollkommen regungslos, vollkommen weiß. Sein Gesicht, so leblos und doch so real. Blass. „Dante …“ Sie berührte sein Gesicht und zog die Fingerspitzen hastig wieder zurück, als sie spürte, wie kalt seine Haut war. War er tot? War er durch den Pfeil des Jägers in seinem Arm verblutet?

Tränen vernebelten ihren Blick, und sie riss sich von seinem anbetungswürdigen Gesicht los und besah den Rest seines Körpers. Er trug schwarze Seide, die er für Hemden zu bevorzugen schien, und sie bemerkte, dass der linke Ärmel abgerissen war. Sein Arm war nackt bis auf ein Band aus schwarzer Seide, das hoch um den Bizeps gebunden war, fast an der Schulter.

Hatte er die Blutung mit seinem improvisierten Verband stillen können? Würde sie auf dem verblichenen Polster des Sarges Blutflecken finden, wenn sie es näher untersuchte?

Ihr Blick wanderte zurück zu seinem Gesicht. „Oh, Dante, bitte, es muss dir gut gehen. Du musst in Ordnung sein. Ich brauche dich.“ Sie flüsterte die Worte, während sie sein Gesicht in beide Hände nahm und ihren Mund auf seine kalten, starren Lippen presste. Ihre eigenen Tränen würzten den Kuss. Doch er reagierte überhaupt nicht.

Die Worte, die sie in einem seiner Tagebücher gelesen und in ihrem ersten Film verwendet hatte, kamen ihr in den Sinn. Es gab nur wenige Wege, auf die ein Vampir sterben konnte, aber Verbluten war einer davon. Seine Wunde – sie musste während des Tagesschlafs verheilt sein. Es sei denn, er war vorher gestorben.

Sie wendete sich seinem Arm zu und zerrte an der verknoteten Seide, bis sie sich löste, dann wickelte sie den Verband von seinem Arm. Keine Wunde. Getrocknetes Blut, ja, aber kein klaffendes Loch in seinem Fleisch. Sie war verheilt. Die Bücher hatten die Wahrheit darüber gesagt.

Dann mussten sie auch recht haben, wenn sie sagten, dass das verlorene Blut nur auf eine Art ersetzt werden konnte. Er musste es von jemand anderem nehmen.

„Von mir“, flüsterte sie. „Ja, von mir.“ Sie beugte sich wieder dicht an sein Gesicht und strich ihm über sein Haar. „Ich weiß, du wirst mir helfen, Dante. Ich weiß, du wirst das Richtige tun – und mich zu dem machen, was du bist – ehe du mich vergehen und sterben lässt. Ich weiß es einfach. Ich vertraue dir.“ Sie küsste seine Stirn. Dann richtete sie sich auf und tastete mit den Händen seine Jeans ab, suchte in den Taschen, weil sie wusste, er hatte ein Messer bei sich. Er hatte es schon vor ihren Augen benutzt.

Sie fand das Messer, schob ihre Hand in die vordere Tasche seiner Jeans, um es herauszuziehen, und als ihre Hand ihm so vertraut nah war, bemerkte sie seine Erektion. Das überraschte sie. Dass es sich bei Vampiren nicht um den natürlichen Schlafzustand handelte, wusste sie instinktiv. Nein. Sie war es. Sie war ihm nah, berührte ihn, küsste ihn und auf irgendeine unerklärliche Weise spürte er das sogar in seinem schlafenden Zustand. Und er wollte sie.

Morgan streichelte die Härte zwischen seinen Beinen, während sie die Klinge an sich nahm. Sie öffnete ihre Handfläche und fand dort etwas, was wie ein kleines Schnappmesser mit einem Onyxgriff aussah. Aber als sie die Klinge öffnete, sah sie nicht wie ein Messer aus. Sie war lang und schmal, geformt wie ein Schraubenzieher, nur das Kreuz am oberen Ende war rasiermesserscharf.

Sie starrte auf das Werkzeug, und es durchfuhr sie ein leichter Schauer. Wenn sie sich an der falschen Stelle eine Wunde zufügte, und er nicht erwachte, wie sie es hoffte, dann riskierte sie, zu Tode zu bluten. Sie musste aufpassen. Nicht ins Handgelenk. Nicht in den Hals.

Sie atmete tief durch, schloss die Augen und legte ihre Hand fest um die seltsame kleine Klinge. Dann stieß sie die Spitze mit einer entschlossenen Bewegung in die Handfläche der anderen Hand. Schmerz durchzuckte sie, und sie schrie auf. Das Werkzeug schepperte auf den Boden, während Morgan die Zähne zusammenbiss, ihre Augen und dann langsam ihre Hand öffnete. In ihrer Handfläche sammelte sich Blut. Dante. Seine Nasenlöcher bebten, und seine Hände begannen, sich zuckend zu bewegen.

„Es ist in Ordnung, mein Schatz. Jetzt wird alles gut.“ Sie schloss ihre Hand zur Faust, damit kein Blut vergossen wurde, und legte sie an seinen Mund. Ein Tropfen, dann zwei, entkamen ihrer Faust und berührten seine Lippen.

Seine Zunge fuhr heraus, um sie aufzufangen. Und dann schlossen sich seine Hände wie Schraubstöcke, eine an ihrem Unterarm, die andere drückte ihre Handfläche an seinen offenen, suchenden Mund. Im selben Moment hatte er sich an ihr festgesaugt und trank an dem kleinen Loch, das sie gemacht hatte, in tiefen Schlucken.

Empfindungen, die sie schon einmal verspürt hatte, durchfuhren ihre Sinne. Jeder Teil von ihr wurde lebendig, und eine neue Art Lust brannte in ihren Adern. Sie spürte seine Zähne, seine Zunge, die über ihre Handfläche leckte und jeden Tropfen Blut aufnahm.

Und dann öffneten sich plötzlich seine Augen. Weit offen, ohne jedoch etwas zu sehen. Sie glühten mit einem wilden Hunger, diesem räuberischen Glanz, den sie schon zuvor bemerkt hatte, als er ihre Hand von seinem Mund nahm, sie von sich drückte. Er setzte sich plötzlich auf, sprang aus dem Sarg, landete auf den Füßen und hielt dabei die ganze Zeit ihre Hand am Gelenk fest. Sein Atem ging schnell, und jedes Mal, wenn er ausatmete, knurrte er aus den Tiefen seiner Kehle. Er riss ihren Körper an sich und presste seine Hüften gegen sie, sein Mund wanderte über ihren Hals, saugte die Haut zwischen seine Zähne, biss zu, trank Blut, wanderte weiter. Der Schmerz war süße Folter, und sie bog sich ihm entgegen. Mit einer Hand gelang es ihr, den Gürtel ihres weißen Satinmorgenmantels zu lösen, und er schob ihn von ihren Schultern und bedeckte sie mit fordernden Küssen.

„Nimm dir, was du von mir brauchst, Dante.“

Ein weiteres leises, tiefes Knurren, und dann schob er sie vorwärts, bis sie gegen die Zementwand prallte. Er packte ihre Schenkel mit seinen Händen, hob sie um seine Hüften und hatte sich gerade von seinen Jeans befreit, als er schon in sie eindrang. Er war kalt, hart wie der Stein in ihrem Rücken, und er füllte sie aus, rammte sich tiefer in sie hinein und versenkte immer wieder seine Zähne in ihrem Fleisch. Die Stöße aus Schmerz und Verlangen durchfuhren sie abwechselnd, bis sie eines nicht mehr vom anderen unterscheiden konnte, und sie schrie auf, als endlich der Höhepunkt kam. Ihr ganzer Körper bebte mit der unerträglichen Kraft ihres Orgasmus, doch er hörte nicht auf, in sie zu stoßen und ihr das Leben aus den Adern zu saugen.

Sie klammerte sich an ihn, sie flüsterte, dass sie ihn liebte, und dass sie für ihn sterben würde, und fürchtete dann kraftlos, genau das vielleicht erleiden zu müssen.

Lou und Maxine saßen im Auto, einige Meter die Straße hinunter von Morgans Anwesen entfernt. Es war eine gute Stelle. Sie hatten freie Sicht auf den hinteren Rasen bis hinab zu den Klippen und auch auf die Vorderseite und eine Seite des Hauses. Maxine glaubte nicht, dass jemand kommen konnte, ohne von ihr und Lou gesehen zu werden. Sie hatte einen Dr. Pepper Light und er einen Becher Kaffee. Der Himmel über dem Wasser war violett und wurde dunkler, je weiter man nach oben blickte. Das Wasser spiegelte diesen Verlauf.

„Wie spät ist es?“, fragte sie.

„Viertel nach Sonnenuntergang.“

„Sehr witzig.“ Sie blickte auf die Eingangstür des Hauses, sah, wie sie sich öffnete und dieser Sumner den Türrahmen ausfüllte. Er sprach eine Sekunde mit Lydia, trat dann zur Seite und ließ sie eintreten. „Sie ist drinnen.“

„Dachtest du, es gibt Schwierigkeiten?“

Maxine zuckte mit den Schultern. „Sumner hat gesagt, wir sollen wegbleiben und Morgan ihren Freiraum lassen. Ich hatte nicht erwartet, dass er Lydia mit offenen Armen empfängt.“

„Sie ist eine attraktive Frau.“

„Ja, aber sie steht nicht auf Männer.“

„Pech für uns“, murmelte Lou.

Sie boxte ihn, vielleicht ein wenig fester als nur im Spaß.

„Ich meinte für Sumner, Max. Also ehrlich.“ Er rieb sich die Schulter. Sie zweifelte nicht daran, dass es wirklich wehtat.

„Zehn zu eins ist sie in fünf Minuten wieder draußen“, sagte sie und wechselte geschickt das Thema.

„Die Wette gilt.“

Sie verzog das Gesicht und sah ihn an. „Also, was läuft da überhaupt zwischen euch?“

„Wem? Lydia und mir?“

Sie nickte. „Haben du und sie jemals …?“

„Sie steht doch nicht auf Männer.“

„Mindestens einmal doch“, bohrte Maxine weiter.

„Woher weißt du das?“

„Sie hat mir gesagt, sie hat ein Kind mit irgendeinem Typen.“ Lou sah verdammt überrascht aus. „Was, wusstest du das nicht?“

„Klar wusste ich es. Nur nicht, dass sie es dir erzählt hat.“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Was hat sie dir noch erzählt?“

„Nichts.“ Ein Blick in seine Augen signalisierte ihr, dass da noch etwas war. „Lieber Gott, Lou, sag mir, dass es nicht von dir ist.“

„Was?“ Er blinzelte zweimal und schüttelte dann energisch mit dem Kopf. „Nein. Ich hatte mit diesen Babys nichts zu tun.“

Was sagte Lou da gerade? Maxine legte ihren Kopf schräg. „Babys? Da war mehr als eines?“

Lou schien in Erklärungsnot zu kommen. „Das geht uns nichts an, Max. Wenn du etwas über Lydias Vergangenheit wissen willst, frag sie selbst.“

„Schon gut. Du musst ja nicht gleich so abblocken. Ich wollte nur wissen, ob ihr zwei in der Kiste gewesen seid oder nicht.“

Er sah sie mit kaum verhohlener Ungeduld an. „Nicht.“

„Nicht, dass mich das etwas angeht.“

„Stimmt auffallend.“

„Ist ja nicht so, als würden wir regelmäßig in die Kiste steigen.“

„Oder überhaupt.“

„Na, die Nacht ist noch jung, Lou. Sag niemals nie.“

Lou legte seinen Kopf in den Nacken, schlug ihn mehrmals gegen die Kopfstütze und starrte an die Decke des Wagens. Maxine drehte ihr Gesicht ein Stück weg, damit er ihr Grinsen nicht sehen konnte. Meine Güte, sie liebte es, diesen Mann zu ärgern. Sie wusste, er reagierte darauf mit einer gewissen Erregung. Es würde ihm nicht so viel ausmachen, wenn nicht.

Und heute Nacht würde sie ihn bis zum Äußersten reizen. Die Gelegenheit war zu gut, um sie verstreichen zu lassen. So mit ihm bei einer Observierung zusammengepfercht zu sein. Allein, die ganze Nacht, im Auto. Nur sie beide. Was würde er tun, fragte sie sich, wenn sie einfach die Hand ausstreckte und sie in seinen Schoß legte? Wahrscheinlich aus dem Wagen springen und die Beine in die Hand nehmen. Sie blickte hinab auf ihre Hand, die zwischen ihnen auf dem Sitz lag. Saubere, kurze, unlackierte Nägel. Einen Augenblick lang wünschte sie sich, sie wären lang und scharf und lackiert wie die ihrer Schwester. Das gefiel Männern doch wohl? Sie bewegte die Hand vorsichtig ein Stück weiter auf sein Bein zu.

„Wer zum Teufel ist das?“ Lou starrte in die Finsternis.

Am liebsten hätte sie laut geflucht, verkniff es sich aber und folgte seinem Blick. Dann fuhr ihr ein warnender Schauer kribbelnd die Wirbelsäule hinauf, als sie die dunkle Gestalt sah, die sich auf das Haus zu bewegte. Er ging an einer der Laternen am Gehweg vorbei, die sein Gesicht einen Moment lang beleuchtete.

„Es ist Scarface!“, rief Maxine, kniff die Augen zusammen und versuchte, ihn genau zu erkennen.

„Ist das derselbe Mann, den du in der Brandnacht gesehen hast?“

„Ich weiß es nicht. Das ist fünf Jahre her, wie du dich vielleicht erinnerst“, fuhr sie ihn an. „Er klingelt. Komm, wir machen uns besser auf den Weg.“

Sie riss ihre Tür auf und sprang hinaus. Lou stieg ebenfalls aus und eilte zu Maxine. „Bleib hinter mir, Max.“

Sie widersprach ihm nicht, aber sie sollte verflucht sein, ehe sie ihn als menschliches Schutzschild missbrauchte. Sie erreichten den Gehweg gerade, als die Tür geöffnet wurde.

Sumners Stimme ertönte. „Wer zum Teufel sind Sie?“

„Der Mann, der Morgan angegriffen hat, in der Nacht, als wir hier angekommen sind“, beantworte Maxine die Frage.

Beide Männer wirbelten zu ihr und Lou herum. Lou hatte seine Waffe in der Hand. Er zielte nicht damit, er ging nur sicher, dass die Männer sie sahen. „Ich glaube, es wird Zeit für eine Unterhaltung, Mister … Stiles, richtig?“

Er nickte und streckte seine Hände in etwa Hüfthöhe mit den Handflächen nach außen vor. „Frank Stiles“, erklärte er jetzt. „Und eben deshalb bin ich hier. Ich will reden.“ Er sah Sumner an. „Mit Ihnen allen. Ich glaube, Sie haben keine Ahnung, mit was Sie es zu tun haben.“

Sumner blickte zu Lou. „Was meinen Sie?“

Lou ging auf den Mann zu. „Hände nach oben, Freundchen.“ Der Mann hob seine Hände ein Stück höher. Lou gab Maxine seine Waffe, tastete Stiles schnell ab und nahm die Waffe dann wieder in die Hand. „Sumner, wollen Sie hören, was dieser Kerl zu sagen hat?“

„Sollten wir wahrscheinlich, meinen Sie nicht?“

Zögerlich stimmte Lou ihm zu. „Wenn Sie irgendwas im Schilde führen, ich zögere nicht. Sie verstehen schon.“

„Ich bin nicht hier, um jemanden zu verletzen“, sagte Stiles leise. „Ich will nur helfen.“

Sumner trat zur Seite. Stiles ging ins Haus, Lou und Maxine direkt hinter ihm. „Helfen?“, fragte Maxine. „Haben Sie das mit meiner Schwester gemacht, als wir angekommen sind? Ihr geholfen?“

„Ich musste wissen, ob sie gebissen wurde.“

Maxine senkte ihren Blick, als sie alle durch das Haus in ein kleineres Zimmer marschierten. Sie konnte sich denken, dass Morgan sie weder sehen noch hören sollte, falls sie die Treppe herunterkam. „Wo ist Lydia?“, fragte Maxine, als sie alle sich gesetzt hatten.

„Oben, sie sieht nach Morgan.“ Sumner wendete sich an Stiles. „Wenn Sie eine Erklärung für den Angriff auf das Mädchen haben, Sir, dann sollten Sie die jetzt loswerden.“

„Ich muss am Anfang anfangen. Wenn Sie mir nur fünf Minuten geben, werden Sie verstehen …“

„Ach ja?“, fragte Maxine. „Ich soll wohl auch gleich verstehen, warum Sie meiner besten Freundin eine Kugel in den Kopf gejagt haben, wo wir schon dabei sind?“

Stiles erwiderte ihren Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich war dort. Das stimmt. Ich war in dieser Wohnung. Aber ich habe Ihrer Freundin keinen Schaden zugefügt. Er hat das getan.“

„Er, wer?“

„Dante. Der Killer, dem ich auf der Spur bin.“

„Vampire erschießen niemanden, Stiles.“

„Sie tun es, wenn sie jemanden hereinlegen wollen. So wie mich.“

„Dante wollte also die Schuld auf Sie lenken? Komisch, die Cops scheinen zu denken, Lou hat es getan. Er war es, der am Ende hereingelegt wurde.“

„Lou ist ein Cop. Es war gleich klar, dass sie nicht an seine Schuld glauben würden. Ich war die nächste offensichtliche Wahl.“ Maxine verdrehte die Augen. „Hören Sie mir zu. Bitte.“

Seufzend streckte Maxine die Hände in die Luft und ging ein Stück weg. „In Ordnung. In Ordnung, die Bühne gehört Ihnen.“ Sie ließ sich in einen Sessel fallen. Sumner und Lou saßen bereits, Stiles allerdings blieb stehen.

„Zwanzig Jahre lang war ich ein Agent der Division of Paranormal Investigations, einer streng geheimen Unterorganisation der CIA. Unser Hauptquartier lag in White Plains. Unsere Aufgabe war die Erforschung und Eliminierung von Vampiren.“

Maxine nickte. Das wusste sie bereits alles. Sumner schien wie erschlagen, als er Lou einen Blick zuwarf und sich dann gleich wieder zu Stiles wendete. „Mein Gott, Sie meinen, es ist alles wahr?“

„Was ich Ihnen sage, ist wahr. Die Vampire haben revoltiert, das Hauptquartier angegriffen, es niedergebrannt und die meisten Agenten umgebracht. Das war vor fünf Jahren. Es war eine Katastrophe. Man hat uns die Mittel gestrichen und die Abteilung komplett dichtgemacht. Alle überlebenden Agenten haben sich in alle Winde verstreut und sind undercover gegangen, so wie ich.“

„Warum?“, wollte Maxine wissen.

„Damit wir nicht aufgelöst werden. Wir wissen eine Menge Dinge, die die Regierung lieber nicht an die Öffentlichkeit tragen möchte.“ Er betrachtete Maxine. „Deshalb habe ich Sie in jener Nacht bedroht. Ich konnte nicht riskieren, dass irgendwer von meinem Überleben erfährt.“

„Und als ich es jemandem erzählt habe, obwohl inzwischen fünf Jahre vergangen waren, wussten Sie zufällig sofort Bescheid.“

Er nickte. „Ich habe immer noch ein paar Verbindungen zur CIA. Einer von denen hat mir von Officer Malones Anruf berichtet.“

„Also sind Sie zu Lou gegangen, haben meine beste Freundin dorthin gelockt und sie erschossen, um mir eine Lektion zu erteilen?“

„Nein! Ich bin zu seiner Wohnung gefahren, um herauszufinden, was er weiß. Der Vampir lag dort auf der Lauer. Das Mädchen war bereits bewusstlos. Ehe ich etwas tun konnte, hat er auf sie geschossen. Dann hat er mir nur sein böses Lächeln zugeworfen und ist verschwunden.“ Er schüttelte langsam den Kopf und sprach weiter. „Ich wusste, Morgan würde sein nächstes Opfer sein, und deshalb bin ich die ganze Nacht gefahren, um hierherzukommen. Um sie zu warnen.“

„Und warum hat Dante das alles getan?“, fragte sie.

„Er weiß, was ich getan habe“, erklärte Stiles. „Ich war auf der Suche nach den überlebenden Mitgliedern der DPI, um sie wieder zusammenzubringen und unsere Gruppe als unabhängige Einheit wiederzubeleben. Eine Eliteeinheit aus perfekt ausgebildeten Vampirjägern.“ Er seufzte und senkte seinen Kopf. „Dante will mich aus dem Weg schaffen. Er denkt, wenn er es aussehen lässt, als hätte ich Ihre Freundin umgebracht, finden Sie und Lou einen Weg, mich hinter Gitter zu bringen.“

Maxine lehnte sich in ihrem Sessel zurück und versuchte alles, was er gesagt hatte, zu verarbeiten. „Das erklärt noch nicht, wieso Dante überhaupt in Lous Wohnung war.“

Er schüttelte den Kopf. „Verstehen Sie denn nicht? Sie und Lou haben versucht, herauszufinden, wer diese Frau umgebracht hat – Lydia Jordans Freundin. Es muss Dante gewesen sein. Er muss befürchtet haben, Sie kämen ihm zu nahe, und wollte herausfinden, was Sie gegen ihn in der Hand hatten.“

„Etwas weit hergeholt, das Ganze“, meinte Maxine, seufzte und grübelte weiter.

„Was ich nicht verstehe, ist, warum Sie all diese Vampire umbringen wollen?“ Alle sahen Lou etwas erstaunt an, aber er zuckte nur mit den Schultern und redete weiter. „Hey, wenn sie Ähnlichkeit mit dem haben, was Morgan in ihren Filmen erzählt, dann sind sie so schlecht nicht.“

„Morgan steht unter dem Einfluss eines mächtigen Vampirs, Officer Malone“, versuchte Stiles die beiden zu überzeugen. „Vertrauen Sie mir, ich weiß, wozu die in der Lage sind. Er hat sie vollkommen in seinem Bann. Sie tut alles, was er sagt, wendet sich sogar gegen Menschen, die sie lieben, um ihn zu beschützen.“

„Ich verstehe das nicht“, fragte Maxine, „wie ist so was möglich?“

„Ihre Schwester hat ein besonderes Antigen im Blut. Es wird Belladonna genannt“, sagte Stiles, „und es bringt sie langsam um.“

„Woher wissen Sie davon?“, schaltete sich nun Sumner ein und sprang auf.

„Immer, wenn dieses Antigen im Blut eines Sterblichen festgestellt wurde, ist diese Information an die DPI weitergeleitet worden. Es gibt nicht viele, die es haben. Aber diese Menschen ziehen Vampire an wie Honig Bienen. Die Vampire trinken von ihnen, saugen ihnen das Leben aus. Deshalb sterben sie alle jung. Es liegt nicht an dem Antigen selbst. Es sind die Vampire, die es anzieht. Und wenn wir diesen hier nicht umbringen, wird er immer wieder kommen, immer wieder von Ihrer lieben Morgan trinken, bis sie stirbt. Aber wenn wir ihn aufhalten, kann sie leben.“

Sumner wendete sich ab, doch Maxine hatte seine Tränen bemerkt. „Der Arzt sagt, die Blutkrankheit bringt sie um.“

„Aber er weiß nicht wie oder warum. Jeder mit ihrer Blutgruppe stirbt jung. Ich sage Ihnen, was die Ärzte nicht wissen, Sumner. Sie sterben, weil sie zu Opfern werden. Belladonnablut ist die Lieblingssorte der Vampire.“

Hatte Maxine das richtig gehört? „Sie wollen mir sagen, dass Morgan gesund werden kann? Sie kann leben?“

Er nickte. „Sie kann leben. Aber wir müssen sie vor dem Vampir beschützen.“

Maxine und Lou wechselten unmerklich einen Blick. Sie wollte unbedingt wissen, ob er diesem Mann glaubte. Gott, wie sehr wünschte sie sich, er spräche die Wahrheit.

Aber Lou schüttelte kaum merklich den Kopf. Ehe er allerdings sprechen konnte, kam Lydia in den Raum gerannt, außer Atem und die Augen weit aufgerissen. „Sie ist weg!“, rief sie, „Morgan ist weg!“