Keith

3. KAPITEL

Maxine Stuart sah sich zum ungefähr zwölften Mal JFK auf ihrer kleinen TV/VHS-Kombination im Schlafzimmer an. In ihrem Schoß lag eine Ausgabe von Der Fänger im Roggen, und auf ihrem Nachttisch stand eine abgestandene Dose Cola, als sie die Sirenen hörte. Das Geräusch fuhr ihr in den Magen wie eine eiskalte Klinge. Sie stand langsam auf, und auch wenn sie nicht genau wusste, warum, trat sie ans Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Sie konnte die flackernden Blaulichter der Notfallfahrzeuge sehen, die auf dem Highway in der Ferne vorbeifuhren. In Richtung Süden. Sie sah in dieselbe Richtung und kniff die Augen zusammen, um das schwache rote Glühen am fernen Himmel besser erkennen zu können.

Ein vertrauter Jeep bog in ihre Auffahrt ein, und ungefähr eine Sekunde später hörte sie, wie die Vordertür ihres kleinen Hauses sich öffnete und wie ihre Mutter mit ihren Freunden sprach, als sie die beiden hereinließ. Maxine schaltete den Fernseher aus, drehte sich um und öffnete ihre Schlafzimmertür, während die Besucher durchs Haus eilten.

Ihre zwei besten Freunde kamen um die Ecke in den Flur und blieben stehen, als sie Maxine erblickten. Irgendetwas war los. Jason ließ sich nicht so einfach aus der Ruhe bringen, und er sah wirklich beunruhigt aus. Stormy – eigentlich hieß sie Tempest, aber den Namen hasste sie – war richtig blass. Maxines Mutter folgte ihnen auf dem Fuße.

„Also, was ist los, wo brennt’s?“, fragte Maxine.

„Die Spukzentrale“, erklärte Jason. „Sieht schlimm aus.“

„Furchtbar“, fügte Stormy hinzu. Ihre runden juwelenblauen Augen waren feucht. „Ich glaube, da ist keiner lebend rausgekommen.“

Spukzentrale war Maxines Spitzname für den großen namenlosen Regierungskomplex vor der Stadtgrenze. Das Hauptgebäude war riesig, und obwohl es weit ab von der Straße lag, war es durch einen hohen Elektrozaun geschützt, außerdem von mehreren Überwachungskameras umgeben und in einen Mantel des Schweigens gehüllt. Ein Forschungslabor – so lautete die offizielle Erklärung, und die leichtgläubigen Bewohner des Ortes waren davon überzeugt. Angeblich wurden dort medizinische Forschungen angestellt – sie suchten nach Heilmitteln gegen Krebs und AIDS, so etwas eben. Gute Arbeit. Fast heilig. Zu heilig, um sich einzumischen und herumzupfuschen. Wer wollte eine derart heilige Mission schon infrage stellen?

Maxine hatte ihre eigenen Theorien, wie bei den meisten Dingen, und gerade jetzt betete sie zu Gott, sie möge mit der, die sie immer für die wahrscheinlichste gehalten hatte – dass dort ein Militärlabor war, das sich mit bakteriologischer Kriegsführung und biologischen Waffen beschäftigte –, völlig danebenliegen.

Albtraumhafte Bilder aus Stephen Kings The Stand – Das letzte Gefecht wirbelten ihr durch den Kopf, und sie musste sich zwingen, etwas zu unternehmen. Sie drehte sich um und holte aus ihrem Zimmer ihre Jacke von einer Stuhllehne. Dann eilte sie den Flur hinab. „Gehen wir.“

„Gehen? Wohin?“ Ihre Mutter eilte hinter den dreien her, die schnell zur Tür gingen. Als niemand antwortete, drängelte Ellen sich an den jungen Leuten vorbei und stellte sich ihnen direkt in den Weg. „Max, wehe, du gehst zu denen rüber. Du wirst bloß im Weg sein und dich womöglich noch verletzen.“

„Ach komm, Mom. Ich bin zwanzig Jahre alt. Ich ärgere die Feuerwehrleute schon nicht. Ich will nur wissen, was los ist.“

„Dann lies es einfach in der Morgenzeitung nach, wie alle anderen auch.“

„Lieber Gott, wie kannst du bloß so nichts ahnend sein?“

Ellen Stuart seufzte. Sie sah besorgt aus, aber auch resigniert. Es war noch nie jemandem gelungen, Maxine von etwas abzubringen, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, und als ihre Mutter hätte sie sich langsam daran gewöhnen müssen, schließlich hatte sie es schon oft aus erster Hand erlebt, seit sie damals das drei Monate alte Waisenkind zu sich nach Hause geholt hatte. „Sei vorsichtig.“

„Immer doch.“ Maxine nahm ihren Minirucksack vom Haken an der Tür. Die Vorderseite hatte sie mit einem Akte-X-Bügelbild dekoriert, auf dem die Worte Vertraue niemandem prangten. Sie warf sich den Rucksack über die Schulter, und die drei Freunde verließen gemeinsam das Haus.

Sie zwängten sich alle in Jasons milchkaffeefarbenen Jeep Cherokee. Er scherzte gerne, dass er die Farbe passend zu seiner Haut ausgesucht hatte. Und wirklich passte sie ziemlich genau. Maxine nahm auf dem Rücksitz Platz. Stormy, eine winzige Psychologiestudentin mit kurzen strubbeligen und gebleichten Haaren, stieg vorne neben Jason ein und schloss die Tür, während er bereits dabei war, in die Straße einzubiegen, die aus der Stadt hinausführte.

Maxine saß auf der Kante ihres Sitzes und steckte den Kopf zwischen den vorderen Nackenstützen hindurch. „Man kann das Feuer von hier aus sehen. Guckt euch das bloß mal an.“

Das taten sie. Stormy schüttelte sich und senkte ihren Blick; Jason starrte einen Augenblick wie hypnotisiert, fing sich dann wieder und stellte das Radio an. „Ich wusste, du würdest hinfahren wollen“, sagte er. „Es ist bei meinem Bruder über Funk reingekommen. Wenn er nicht bei der freiwilligen Feuerwehr wäre, wüsste ich wahrscheinlich bis jetzt nichts davon.“

„Immer noch nichts in den Nachrichten, Jay?“, fragte Stormy. Sie war nervös; das war sie immer, wenn sie mit dem Ring in ihrer Augenbraue spielte.

Er drehte weiter an der Sendereinstellung, gab dann aber auf und schüttelte langsam den Kopf. „Ich hatte mit Sonderberichten und so einem Mist gerechnet, aber kein Wort davon, nirgends.“

„Die berichten nur über das, was man ihnen sagt“, gab Maxine zu bedenken. „Auch wenn meine Mutter so naiv ist, an das System zu glauben, in diesem Land ist doch ‚Pressefreiheit‘ ein Widerspruch in sich.“

„Ich mag deine Mom“, wagte Jason anzumerken.

Maxine blinzelte ihn an, als spräche er eine andere Sprache. „Ich mag sie auch. Was zum Henker hat das mit der Sache zu tun?“

„Ich finde nur, du solltest sie nicht naiv nennen. Das hat sie nicht verdient.“

Maxine schloss die Augen, schüttelte den Kopf und blickte Stormy Hilfe suchend an.

„Er hat recht“, sagte Stormy. „Deine Mom ist cool. Du hast so ein Glück.“

„Natürlich ist sie cool! Ich hätte mir doch wohl ein Zimmer im Wohnheim oder eine eigene Wohnung gesucht oder wäre gleich in einer anderen Stadt aufs College gegangen, wenn sie nicht cool wäre, statt zu Hause zu bleiben und auf eine Gemeindeschule zu gehen. Aber das hat doch nichts mit meiner Mutter zu tun und wie cool sie ist oder eben nicht! Ich rede hier über die Regierung! Vertuschungen. Geheime Operationen.“

Stormy zuckte mit den Schultern und senkte ihren Blick. Themen wie dieses waren ihr immer unangenehm. Aber Maxine hatte keine Hemmungen, darüber zu reden. Ihr war es eher unangenehm, fast ihr ganzes Leben lang sozusagen im Schatten dieses riesigen, umzäunten, gut bewachten Komplexes gelebt zu haben, ohne je zu wissen, was darin vor sich ging.

Sie wusste nur eine Sache ganz genau. Es war nicht Krebsforschung. Sie hätte ihre Eckzähne dafür gegeben, einen Blick hinter die hohen elektrischen Zäune werfen zu dürfen. Nur einen Blick. Jetzt würde vielleicht niemand jemals die Wahrheit erfahren.

Jason fuhr weiter und lenkte den Jeep auf die rechte Fahrspur, ehe sie die Stelle erreichten, an der die Unfallwagen auf beiden Seiten der Straße aufgereiht standen. Auf dem Asphalt lagen Leuchtfackeln. Orange-weiße Sägeböcke mit roten Reflektoren bildeten dahinter eine Grenze, die Unbefugte fernhalten sollte. Sie stiegen aus dem Jeep. In der Ferne loderten Flammen am Nachthimmel, und Maxine konnte bereits mit jedem Atemzug den Rauch in ihrem Mund schmecken.

„Hier lang.“ Die junge Frau ging auf dem rechten Randstreifen an den geparkten Fahrzeugen vorbei, und ihre Freunde folgten ihr. Der brennende Gebäudekomplex lag auf der linken Seite, am Ende einer langen kurvenreichen Auffahrt. Sie führte die anderen vorwärts, bis sie, ohne behelligt zu werden, dem Eingang direkt gegenüber standen. Auf der anderen Seite, schon ein Stück die Auffahrt hinauf, standen die Feuerwehrleute mit dem Rücken zu ihnen. Sie waren sowieso ganz auf ihre Arbeit konzentriert. Maxine hockte sich neben einen Krankenwagen und zog die anderen mit sich hinunter.

Die Feuerwehrwagen waren anscheinend direkt durch das Tor am Ende der Auffahrt gefahren. Das Wachhäuschen in der Nähe war leer, das Tor selbst lag flach auf dem Boden. Der Zaun links und rechts davon war abgeknickt und zerbrochen. Die Überwachungskameras, die auf Pfählen gestanden hatten, waren in Stücke zerschmettert. Freiwillige Feuerwehrleute in gelben Jacken mit leuchtend silbernen Reflektorstreifen bedienten riesige Löschschläuche, die an die Tankwagen auf der Auffahrt angeschlossen waren. Jedes Mal, wenn sie die Flammen ein Stück zurückgetrieben hatten, rollten die Wagen ein Stück weiter, damit die Männer näher an die Feuersbrunst herankamen.

„Ich weiß nicht, wie die das aushalten. Lieber Gott, ich kann die Hitze bis hierher spüren“, sagte Stormy und legte ihre Handfläche an eine Wange.

„Es wundert mich, dass die Schläuche nicht schmelzen“, flüsterte Jason. „Wenn die noch näher herangehen …“

„Wenn die noch näher herangehen, können wir mit rein.“

Die anderen beiden starrten Maxine an, als wären ihr Hörner gewachsen.

„Was?“, entfuhr es beiden gleichzeitig.

„Du musst den Verstand verloren haben, Max“, meinte Jason entsetzt, während Stormy einfach nur den Kopf schüttelte. „Wir können da nicht rein.“

„Niemand beobachtet den Eingang. Die sind alle damit beschäftigt, das Feuer zu bekämpfen. Wir können rein, ohne uns auch nur anzustrengen.“

„Okay, ich werde das noch mal neu formulieren. Wir können schon rein. Wir sollten nur nicht.“

Jetzt war es an Maxine, entgeistert zu starren. „Was seid ihr, verrückt? Seit ich alt genug bin, diese lahme Krebsforschungsgeschichte zu durchschauen, will ich unbedingt hinter das Tor da.“

„Also seit du ungefähr sechs warst“, murmelte Stormy.

Maxine warf ihr einen vielsagenden Blick zu, beeilte sich dann aber, weiterzureden. „Versteht ihr denn nicht? Das ist unsere Chance. Keine Wachen, nichts. Wir können endlich die Wahrheit herausfinden.“

„Und was genau, glaubst du, kann man da drinnen noch sehen, Max?“ Jason deutete auf das Gebäude. „Alles ist total von Flammen eingeschlossen.“

„Das weiß ich erst, wenn ich es versucht habe.“

Er seufzte, neigte seinen rasierten Kopf und fuhr mit der Hand darüber. Lange Zeit sprach keiner mehr ein Wort, während sie hockten und warteten und beobachteten. Zwanzig Minuten vergingen, ehe die Feuerwehr wieder ein Stück näher rückte. Maxine sprang auf, sah sich nach beiden Seiten um und rannte über die Straße. Ihre Freunde zögerten, dann folgten sie. Sie überquerten den Bürgersteig und rannten durch die Öffnung, direkt über dem Draht des umgefahrenen Tors, am verlassenen Wachhaus vorbei und zwischen die Bäume, die die Auffahrt säumten. Das waren eine Menge. Um den Ort noch besser vor zufällig vorbeikommenden Passanten zu schützen, dachte Maxine. Pinien. Natürlich waren es Pinien. Die verdeckten das ganze Jahr über, was im Inneren vor sich ging.

Sie duckten sich alle hinter einen der Bäume, während Maxine geradeaus starrte. Allmählich bekamen die Feuerwehrleute das Feuer unter Kontrolle. Sie waren wirklich gut, dachte sie, und fragte sich, ob Jays älterer Bruder, Mike, dabei war. Sie gaben niemals auf, obwohl mittlerweile klar war, dass vom Gebäude nicht viel übrig bleiben würde.

Noch mehr Sirenengeheul war zu vernehmen, und Maxine blickte die Straße hinab. Sie sah, wie Cops aus ihren Wagen stiegen und die Schaulustigen zurückdrängten, die sich mittlerweile auf der Straße vor dem Tor gesammelt hatten. „Wir haben es gerade rechtzeitig geschafft“, flüsterte sie.

„Wenn die uns hier finden, machen sie uns Feuer unterm Hintern“, meinte Jason.

„Wenn wir noch näher an die Flammen herangehen, machen wir das selbst“, fügte Stormy hinzu.

Die Feuerwehrleute vor ihnen kämpften weiter. Sie durchweichten das Gebäude, schlugen die Flammen zurück und wagten sich immer näher heran. Ihre Wagen fuhren noch ein kleines Stück vorwärts, und Maxine drängte ihre unwilligen Kameraden, dasselbe zu tun. „Seht ihr den Flaggenmast da drüben?“, fragte sie und zeigte in die Richtung. Jason und Stormy sahen erst den Mast an, dann wieder zu ihrer Freundin.

„Wenn sie es erst mal bis dahin geschafft haben, können wir uns an der Seite des Gebäudes vorbeischleichen und zur Rückseite vorarbeiten.“

„Und dann kann eine brennende Mauer auf uns einstürzen und uns gleichzeitig zerquetschen und rösten.“ Stormys Blick war starr auf das brennende Gebäude gerichtet, und der Schein der Flammen spiegelte sich in ihren Augen.

Maxine schluckte alle Bedenken, die sie dabei hatte, ihre zwei besten Freunde mit in die Sache hineinzuziehen, hinunter und löschte sie aus, wie die Feuerwehrleute die Flammen löschten. Es war für das Wohl der Allgemeinheit, sagte sie sich. Und außerdem würde ihnen nichts passieren. Sie selbst würde dafür sorgen, dass ihnen nichts passierte. Maxine Stuart kümmerte sich um ihre Freunde.

Eine Bewegung lenkte sie ab. „Da gehen sie!“

Als der Feuerwehrwagen ein Stück vorwärtsrollte, preschte Maxine vor, schlug einen Haken nach links und entfernte sich so schnell sie konnte vom Feuerschein, der sich wie eine Aura um den Brandherd legte. Dort drüben standen keine Bäume mehr, und so blieb sie hinter dem allerletzten in der Reihe stehen. Sie versuchte, sich nicht furchtbar erleichtert zu fühlen, als sie merkte, dass Jason und Stormy immer noch bei ihr waren. Aber sie fühlte es trotzdem. Die beiden waren wirklich unglaublich loyal.

Die Entfernung von der vorderen bis zur hinteren Seite des Geröllhaufens, der das Hauptgebäude gewesen war, betrug mindestens ein halbes Footballfeld, und nirgendwo gab es auch nur einen Busch, hinter dem man sich verstecken konnte. Aber es war dunkel. Es wurde mit jeder dicken Rauchwolke, die vom Feuer herübertrieb, dunkler.

„Wir können das schaffen“, ermunterte Maxine sich selbst und ihre Freunde.

„Die bringen uns dafür in den Knast, Max“, erwiderte Jason.

„Bereit?“

Keiner von ihnen antwortete. Maxine fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und vertraute ihnen einfach. „Los!“ Und sie rannte voran.

Sie war sich nicht sicher, ob sie ihr folgten, bis sie das, was vor Kurzem noch das gegenüberliegende Ende des Gebäudes gewesen war, erreicht hatten und die beiden in der Dunkelheit gegen sie rannten. Hände legten sich auf Schultern, als sie sich aneinander festhielten, um nicht die Balance zu verlieren. Dann standen sie einen Augenblick da, kamen wieder zu Atem und blinzelten in die Dunkelheit. Zwischen ihnen und den qualmenden Resten der Rückseite des Gebäudes lagen fünfzig Fuß. Es sah kaum noch wie ein Gebäude aus. Es war nicht hoch und auch nicht eckig. Es war ein Geröllhaufen. Hier und da loderten noch Flammen empor, auch wenn der größte Teil des echten Feuers sich hungrig auf die Front zubewegt hatte, nachdem hier nicht mehr viel zu holen war. Unter den verkohlten Resten der skelettartigen Untermauerung bildeten sich Haufen aus glühenden roten Gebilden. Alles war voller Asche und Rauch. Waren da drinnen Leute? fragte sie sich. Leichen?

„Das ist nahe genug“, flüsterte Stormy.

Max sah sich um. „Siehst du den Busch da drüben? Der liegt außerhalb des Rauches.“ Sie deutete darauf. „Ihr zwei wartet hier. Ich verspreche, ich brauche nicht lange.“

„Nicht, Max“, warnte Jason. Er klang ziemlich sauer. „Lass es einfach.“

„Fünf Minuten“, beschwor sie ihn. „Nur fünf verdammte Minuten. Eine einmalige Chance, Jay.“ Sie wartete nicht auf sein Gegenargument. Stattdessen rannte sie los.

Dieses Mal folgte ihr niemand.

Es war heiß. Verdammt heiß, und der Rauch brannte ihr in den Augen und in der Nase. Sie versuchte die ganze Zeit, sich nicht durch zu lautes Husten zu verraten. Sie rannte, bis sie die Rückseite des Gebäudes erreicht hatte, und bewegte sich dann immer näher und näher darauf zu, so nahe, wie sie es aushalten konnte. Wahrscheinlich wurden ihre Haare etwas angesengt, und sie musste aufpassen, wohin sie trat, damit sich die Glut nicht direkt durch die Sohlen ihrer Schuhe schmolz.

Sie sah sich um und versuchte, durch den Vorhang aus Rauch und die wabernden Hitzewellen etwas zu erkennen. Auf einem Bereich des Bodens lagen mehrere Dinge. Große, zerbrochene Boxen – Computer. In Stücke geschlagen. Einige angebrannt und verkohlt, andere einfach nur zerschlagen. Hatte sie jemand aus dem Fenster geworfen, vielleicht um sie zu retten? Oder vielleicht um sie zu zerstören? Sie gab einem davon einen Tritt. Was hätte sie nicht alles für ein Laufwerk aus einer dieser Maschinen getan. Gott allein wusste, was darauf zu finden war. Sie bückte sich und streckte eine Hand nach dem Haufen vor ihr aus, aber die Teile waren so heiß, dass sie ihre Fingerspitzen verbrannten. Maxine zuckte zurück und atmete scharf ein.

„Mist.“ Sie legte die verbrannten Finger an ihre Lippen, pustete darauf, und schüttelte sie dann beim Weitergehen durch die Luft. Ihr Fuß stieß gegen etwas, das davonrollte, und sie sah nach unten, runzelte die Stirn und sah es sich näher an. Als sie merkte, dass sie sich über die verkohlten Überreste eines Unterarms und einer Hand beugte, schreckte sie so schnell zurück, dass sie fast nach hintenüberkippte. „Jesus!“

Ihr Atem ging jetzt schneller. Ihre Lungen sogen mit jedem Atemzug mehr Rauch ein, aber daran konnte man nichts ändern. Sie machte mit ihrer Suche weiter, entdeckte weitere Hinweise auf menschliche Überreste in den Ruinen. Mehr und immer mehr. Leichen. Leichenteile. Als wäre sie in den Abfalleimer der Hölle geraten. Meine Güte, warum hatte es niemand geschafft, lebendig zu entkommen? Was zum Teufel war hier geschehen?

Es war dumm. Es war dumm gewesen, hierherzukommen. Gerade als sie umdrehen wollte, nahm Maxine eine Bewegung wahr. Eine Bewegung, durch den Rauch kaum zu erkennen. Sie wurde ganz ruhig, kniff die Augen zusammen und starrte in diese Richtung.

Langsam nahm eine Gestalt Form an. Ein Mann, seine Kleidung verbrannt, seine Haut so verrußt, dass sie nicht sagen konnte, ob er schwarz oder weiß war. Er ging vornübergebeugt und ungelenk, und immer wieder bückte er sich und richtete sich wieder auf. Es sah aus, als würde er Dinge aufheben. Er schleppte sich aus den Trümmern und hob auf dem Weg immer wieder Dinge auf. Sie wollte ihm gerade Hilfe anbieten, als sie hörte, wie in der Ferne ihr Name gerufen wurde.

Auch der Mann hörte Stormys Rufe. Er versteifte sich und zuckte mit dem Kopf in ihre Richtung. Irgendwo in seiner Nähe loderte eine Flammenzunge empor und beleuchtete sein Gesicht für nur einen Augenblick. Sein Haar war an einer Seite seines Kopfes komplett verbrannt, und die Kopfhaut und eine Hälfte seines Gesichts waren verkohlt. Vollkommen schwarz, nur hier und da war ein Stück Rosa zu sehen. Sie versuchte, sich seine Züge einzuprägen, das runde Gesicht, die Form seines Kinns. Er steckte, was auch immer er gehalten hatte, in seine Taschen und rannte in einem taumelnden Schritt vor der Stimme fort und direkt auf Maxine zu.

Sie duckte sich tief, hielt den Atem an, und zwang sich zur Ruhe. Sie wusste nicht mit Sicherheit, ob der Mann gefährlich war, aber wenn er etwas Gutes vorhatte, würde er nicht wegrennen. Vielleicht war er nur ein Schnüffler, wie sie selbst. Aber eher nicht. Er war in dem brennenden Gebäude gewesen. Das war offensichtlich.

Er humpelte an ihr vorbei und sah nicht einmal zu ihr hinab, während sie dort kauerte und versuchte, nicht vor Angst zu zittern. Er kam ihr so nah, dass sie sein verbranntes Fleisch riechen konnte, und ihr Magen zog sich reflexartig zusammen.

Zwei Gegenstände fielen ihm aus der Jacke, direkt vor ihre Füße auf den heißen Boden voller Trümmerteile. Er bemerkte es nicht einmal, er ging einfach weiter, zog ein Bein hinter sich her, stützte sich auf das andere, bis er im Rauch verschwunden war.

Maxine schluckte verkrampft und griff nach den Dingen, die der Mann fallen gelassen hatte. Eines war eine CD-ROM. Das andere eine Art Ausweis. Sie hätte schwören können, dass jeder Nervenstrang in ihrem Körper vibrierte, als sie die beiden immer noch warmen Beweisstücke vorsichtig in ihre Tasche steckte, sich umdrehte und dahin zurückrannte, woher sie gekommen war. Sie weigerte sich, sich umzusehen, auch wenn sie hätte schwören können, dass der Blick des entstellten Mannes sich in ihren Rücken bohrte. Sie rannte einfach so schnell sie konnte zurück zu ihren Freunden und ließ sich in der Nähe des Busches, hinter dem sie erwartet wurde, auf die Knie fallen.

„Gott, lieber Gott, du bist wieder da!“ Erleichtert beugte sich Stormy über Maxine und streichelte ihren Rücken. „Alles in Ordnung? Was ist da hinten passiert?“

„Hast du irgendwas gefunden? Was hast du gesehen?“, fragte Jason.

Maxine hob ihren Kopf und sah die beiden an. „Da hinten … da sind … Leichen.“

„Oh, Gott“, flüsterte Stormy und schloss ihre Augen.

Maxine packte Jason am Arm, und er half ihr beim Aufstehen. „Lass uns hier einfach verdammt schnell verschwinden, okay?“, schlug er vor.

Sie nickte. Gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg, mit Maxine in der Mitte, von ihren beiden Freunden fast schützend flankiert. Sie gelangten fast ganz bis ans Tor, als das Geräusch von brummenden Motoren die Nacht erfüllte, und Fahrzeuge die Straße hinaufrasten und in die Auffahrt einbogen. Sie duckten sich hinter die nahen Pinien und beobachteten, wie Lastwagen und Trucks in Tarnfarben, auf denen Scheinwerfer aufgebaut waren, an ihnen vorbeibrausten. Wenigstens eines der Fahrzeuge hatte auch ein Maschinengewehr auf einem Stativ auf der Ladefläche. Bewaffnete Soldaten strömten aus den Lastwagen und verteilten sich auf dem Gelände.

Zehn Fuß vor Maxine stand mit dem Rücken zu ihnen ein Cop, der sich den Aufruhr mit schräg gelegtem Kopf ansah. Ihr Cop, stellte Maxine erleichtert fest.

Jason bemerkte ihn zur gleichen Zeit. „Cop“, flüsterte er und packte Maxine am Arm.

„Schon okay. Das ist Lou Malone.“

Jason runzelte die Stirn.

„Er unterrichtet meinen Selbstverteidigungskurs für Frauen.“

„Du kennst ihn, Jay“, mischte Stormy sich ein. „Er hat immer bei unseren Schulfesten mitgeholfen. Der, in den Max immer so verknallt war.“

„Oh, klar. Der.“ Er sah Maxine an, als wolle er fragen, ob sie es immer noch war, aber sie verdrehte nur die Augen und wendete sich ab.

Jemand sprach durch eine Flüstertüte und erschreckte sie damit so sehr, dass sie ihren Blick von Lous Hinterkopf losriss. „Dies ist ein Regierungsgebäude und somit Sache des Militärs. Alle ansässigen Feuerwehreinheiten haben sofort ihre Aktivitäten einzustellen. Niemand verlässt diesen Ort ohne Freigabe. Stellen Sie sich ordentlich in der Nähe des Eingangs auf, und man wird Sie vom Gelände führen. Das ist alles.“

„Was zum Henker ist hier los, Max?“, flüsterte Stormy und krallte sich in Maxines Arm. „Die haben Waffen.“

„Die werden sie schon nicht benutzen.“ Jason versuchte, selbstsicher zu klingen, was ihm aber komplett misslang. „Ich meine, das sind Soldaten. Die müssen Waffen tragen, oder nicht?“

Sie beobachteten durch ihren Sichtschutz mit Pinienduft hindurch die Lage. Sahen, wie die Soldaten die Feuerwehrleute von ihren Schläuchen zerrten. Einige der Feuerwehrleute gehorchten und bildeten eine krumme Linie am Tor. Diejenigen, die nicht schnell genug waren, wurden durchsucht, wo sie gerade standen, und dann bis ans Tor und nach draußen begleitet. Weitere Soldaten durchsuchten die Feuerwehrwagen und auch die Fahrzeuge an der Straße.

„Ich fasse es ja wohl nicht“, sagte Officer Malone zu sich selbst. „Was zum Teufel soll das alles?“

Maxine fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und trat aus ihrem Versteck. Sie ging zu Lou hinüber und räusperte sich. Er fuhr herum und starrte sie dann erstaunt an. Sie liebte ihn. Das tat sie seit der zehnten Klasse. Und es war egal, dass sein Gesicht hart war und schon voller Falten, oder dass er achtzehn Jahre älter war als sie oder dass er sie für kaum mehr als ein nerviges kleines Kind mit zu viel Fantasie hielt.

„Wenn das nicht Maxine Stuart ist, mein Lieblingsrotschopf“, begrüßte er sie und schüttelte langsam den Kopf. „Warum verdammt noch mal wundert es mich nicht, dich hier zu sehen?“

„Hey, Lou. Ich wollte mir nur das Feuer angucken.“

„Klar.“ Er sah zu ihren Freunden. „Solltet ihr nicht langsam gelernt haben, euch nicht von Maxine in solche Sachen hineinziehen zu lassen?“

Sie zuckten die Schultern und blieben stumm.

„Lou, mir gefällt das nicht“, sagte Maxine. „Die ganzen Soldaten. Die durchsuchen hier jeden.“

„Ja, das sehe ich auch.“

„Bloß eine Ausrede, um die Frauen zu begrapschen“, gab Stormy zu bedenken. „Wenn die glauben, sie können mit ihren Händen meinen ganzen Körper antatschen, haben die sich aber geschnitten.“

Maxine beobachtete Lou, der nach Stormy Ausschau hielt, und wusste, ihre Freundin hatte die richtige Taktik gewählt. „Ich hab auch keine Lust, mir von denen an den Hintern gehen zu lassen, Stormy.“ Im selben Moment schleuderte ein Soldat einen Feuerwehrmann, der sich anscheinend verweigert hatte, gegen das Wachhaus. Lou sah es und zuckte zusammen.

„Ich habe Angst, Lou. Ich will einfach nur hier weg.“ Maxine sah ihn flehend an.

Lou Malone schürzte nachdenklich die Lippen, und dann, endlich, nickte er. „Es ist ja nicht so, als wäret ihr Kinder eine Bedrohung für die nationale Sicherheit. Diese Typen sind etwas übereifrig, glaube ich. Da hinten, seht ihr, ist eine Lücke im Zaun, hinter den Pinien. Seht ihr den höchsten Baum? Genau dahinter. Macht schon, dass ihr hier rauskommt. Ich habe euch nie gesehen.“

„Danke, Lou.“

Besorgt betrachtete er Maxine, und ohne nachzudenken stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Ihr geht sofort nach Hause, Mad Max. Ihr mischt euch nicht mehr bei den Erwachsenen ein, verstanden?“

„Versprochen.“ Dann rannten die drei in die Richtung, die er ihnen gezeigt hatte.

Maxine wartete, bis Jason und Stormy nach Hause gegangen waren. Sie hatte ihnen nichts von dem Mann erzählt, der Beweismittel aus dem Geröll gesammelt hatte, und nichts von ihren ergatterten Trophäen. Sie wollte ihnen nichts erzählen, was sie in Gefahr bringen konnte oder sie zu Mitwissern bei etwas machte, was sich hinterher als Verbrechen herausstellte. Später in derselben Nacht, sehr spät, wischte sie behutsam den Ruß von dem halb geschmolzenen Plastik des Ausweises ab.

Sie fand die Fotografie eines Mannes und die Worte „Frank W. Stiles. Sicherheitslevel: Alpha. DPI.“

Sie wusste, was „Sicherheitslevel: Alpha“ bedeutete. Das hatte sie schon gelernt, als sie versuchte, die Wahrheit über Ufos und die Vertuschungsaktionen der Regierung herauszufinden. Alpha war das Wort, das sie benutzten, um die oberste Sicherheitsstufe bei einigen Agenturen unter der Schirmherrschaft der CIA freizugeben. Aber in all den Jahren ihrer Nachforschungen war sie kein einziges Mal auf einen Hinweis auf eine Agentur oder Operation namens DPI gestoßen.

Jesus, was zum Teufel hatte sie da gefunden?

Sie bebte fast vor Aufregung, als sie den Ruß von der CD-ROM wusch und sie in ihren Computer einlegte. Sie betete, dass die Hitze sie nicht beschädigt hatte.

Hatte sie nicht.

Sie klickte auf den Dateinamen, und ihr Laufwerk begann sich in Bewegung zu setzen. Der Bildschirm wurde schwarz. Vor ihr tauchten rote Buchstaben auf.

STRENG GEHEIME DOKUMENTE

der

DIVISION OF PARANORMAL INVESTIGATIONS

AKTEN D145.9-H376.51

Weiter?

Das letzte Wort blinkte sie fragend an, fast, als wolle es sie herausfordern.

Sie richtete sich auf und klickte auf das Wort. Vor ihr erschien ein Inhaltsverzeichnis. Namen. Einfach nur Namen.

Damien, alias Namtar, Damien, alias Gilgamesh

Daniels, Matthew

Daniella

Dante

Devon, Josephina

Die Liste begann bei D, hörte bei H auf und war offensichtlich alphabetisch geordnet. Einige waren Vor- und Nachnamen, manchmal gab es auch nur einen Namen. Es waren fast hundert Einträge, soweit sie es ohne nachzuzählen sagen konnte. Sie klickte zurück an den Anfang der Liste und begann, hinunterzuscrollen. Dann stieß sie auf einen Namen, der sie sofort innehalten ließ.

Dracul, Vlad (Decknamen siehe Biografie innen.)

„Was zum Teufel?“ Neugierig geworden, klickte sie auf den Namen, und eine Grafik erschien auf dem Schirm. Eine Zeichnung, kein Foto, eines vollkommen modern aussehenden Mannes mit langem schwarzem Haar und ungewöhnlich vollen Lippen.

Der bekannteste seiner Art, geboren in den Karpaten und, nach gegenwärtigem Wissensstand, verwandelt Anfang zwanzig. Gezeugt von einem unbekannten feindlichen Soldaten, wahrscheinlich türkischer Herkunft. Letzte Sichtung Mai 1992, Paris.

„Letzte Sichtung?“ Sie blinzelte auf ihren Bildschirm und versuchte zu verstehen, was sie dort las. „Zweiundneunzig?“

Unter dem Bild mit den stechenden Augen und der blassen Haut gab es weitere Auswahlmöglichkeiten: bekannte Todesopfer, bekannte Anhänger, bekannte Aufenthaltsorte, Biografie.

„Was in Gottes Namen ist das für ein Zeug?“

Sie klickte zurück, wählte einen anderen Namen aus der Liste aus, und fand wieder das Bild der Person, dieses Mal ein echtes Foto mit dem Vermerk „Aufnahme vor Verwandlung“, und eine Kurzbiografie.

Josephina Devon. Geboren in Brooklyn, NY, 1962. Verwandelt im Sommer ihres 30. Lebensjahres, Juni 1992. Erzeuger: R-532 alias Rhiannon. Der Vampir

„Vampir?“

wurde im Dezember desselben Jahres von Forschern der DPI gefangen genommen. Festgehalten im Hauptquartier der DPI in White Plains, NY, USA. In Gefangenschaft verstorben 1995.

Wieder die gleichen Auswahlmöglichkeiten für weitere Informationen, dieses Mal mit einem auffälligen Zusatz: „Durchgeführte Tests & Resultate“.

Das war nicht echt.

Das konnte nicht echt ein.

Als sie auf „Biografie“ klickte, fand sie ein über hundert Seiten langes Dokument mit Details, deren Unglaublichkeit sie schwindelig werden ließ. Als sie die Akte öffnete, die zu den durchgeführten Tests führte, glaubte sie, ihr müsse schlecht werden. Diese Person, diese Frau, war ein Versuchskaninchen gewesen. Für Experimente gefangen gehalten, in genau diesem Gebäude. In ihrer eigenen Stadt.

Aber nein. Das war nicht wirklich geschehen, weil das ja alles nicht real war.

Es gab keine Vampire. Und noch viel weniger eine verdeckte Regierungsagentur, die an ihnen Experimente durchführte.

Und dennoch: Der Beweis lag vor ihr.

Es gab sie.

Was zum Teufel sollte sie jetzt bloß machen?

Am nächsten Tag hatte sie sich immer noch nicht entschieden, als es an der Tür klingelte, sie öffnete und niemanden vorfand. Es lag nur ein großer brauner Briefumschlag auf der Treppe. Ihre Mutter war bereits zur Arbeit gegangen. Meistens verließ sie das Haus, ehe Maxine überhaupt aufgestanden war. Die merkwürdige Lieferung machte die junge Frau neugierig, besonders nach letzter Nacht. Sie sah sich nach beiden Seiten auf der Straße um. Nirgendwo ein Fremder, der sich in die Schatten drückte. Keine verdächtigen Fahrzeuge mit gefärbten Scheiben. Die Nachbarschaft erwachte gerade erst. Menschen öffneten ihre Türen und holten die Morgenzeitung herein.

Maxine nahm den Briefumschlag, betrachtete ihn, drehte ihn um. Nichts. Kein Wort, kein Aufkleber, nicht einmal eine Briefmarke.

Stirnrunzelnd ging sie wieder ins Haus. Die Tür zog sie hinter sich zu und schloss ab. Den Umschlag in der Hand, ging sie zum Küchentisch, riss ihn im Gehen auf und schüttete den Inhalt neben ihre Schale mit Cornflakes. Fotos. Was zum Teufel? Polaroids. Drei Stück. Das war Jason, tief schlummernd in seinem Bett! Sie steckte das Bild hinter die anderen. Das nächste zeigte Stormy, vom Hals aufwärts, in ihrer eigenen Dusche. Maxine fluchte und sah sich das dritte an. Es war eine Aufnahme ihrer Mutter, die gerade in der Garage aus dem Auto stieg, die zu dem Krankenhaus gehörte, in dem sie als Krankenschwester arbeitete.

Das Telefon klingelte, und sie fuhr fast aus der Haut vor Schreck. Maxine ließ die Fotos auf den Tisch fallen und ging ans Telefon.

„Gefallen dir die Fotos, Maxine?“

Die Stimme war ein Flüstern, und eine seltsame Kälte lief ihr den Rücken hinunter. „Wer zum Teufel ist da?“ Maxine langte nach dem Anrufbeantworter auf dem Tisch und presste den Aufzeichnen-Knopf mit ihrem Zeigefinger.

„Die Aufnahmen stammen alle aus den letzten zwölf Stunden.“

„Warum?“ Ihre Hand schloss sich so fest um den Telefonhörer, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Lieber wäre ihr der Hals dieses Hundesohns gewesen. Wie konnte er es wagen? Gott, er war in Jasons Schlafzimmer gewesen. In Stormys Badezimmer. Und in der Tiefgarage, allein mit ihrer Mutter.

„Um dir zu zeigen, wie leicht es mir fällt, alles über dich herauszufinden, und wie schnell und einfach ich an die Leute herankomme, die dir etwas bedeuten. Um auf sie zu schießen. Dieses Mal mit der Kamera, aber …“

„Wenn Sie meiner Familie oder meinen Freunden irgendetwas antun, sind Sie tot. Ist das klar?“

„Das ist eine ziemlich gewagte Drohung von einem Mädchen, das gerade die Highschool hinter sich gelassen hat.“ Er lachte, ein tiefes leises Geräusch, das bald zu einem rasselnden Husten wurde.

Maxine hielt sich den Hörer vom Ohr. Sie starrte mit großen Augen darauf, als es ihr endlich klar wurde. Das war er. Der verkohlte Typ, den sie beim Brand gesehen hatte. Er musste sie also doch bemerkt haben. Er hörte auf zu husten, und sie legte den Hörer zurück an ihr Ohr. „Warum rufen Sie mich an? Was wollen Sie eigentlich von mir?“

„Ich will, dass du alles vergisst, was du gestern Nacht gesehen hast. Tu so, als wärest du nie dort gewesen. Erzähl niemandem davon.“

„In Ordnung. Ist mir ein Vergnügen. Wenn Sie mir erklären, was gestern Nacht dort geschehen ist.“

„Ich will nicht mit dir verhandeln, Maxine. Du tust, was ich dir sage. Vergiss, dass du mich je gesehen hast.“

„Aber …“

„Jetzt hör mir mal zu, du neugierige kleine Schlampe!“ Die Wut in seiner Stimme ließ sie zusammenzucken. „Wenn du auch nur erwähnst, dass du mich bei dem Brand gesehen hast, dann findest du als Nächstes eine Leiche vor deiner Tür. Oder einen Teil davon. Ich werde die Fotos einfach mischen und es dem Zufall überlassen, wen ich ziehe. Hast du das jetzt kapiert?“

„Ja!“ Maxine hielt inne und atmete durch. Die Empörung war einer schrecklichen Angst gewichen. Er würde ihrer Mutter wehtun, ihren Freunden. „Ja, ich … hör zu, ich weiß überhaupt nichts. Ich bin keine Bedrohung. Und ich bin die Einzige, die Sie gesehen hat. Ich habe den anderen nichts erzählt. Ich habe niemandem etwas erzählt. Sie wissen überhaupt nichts.“ Sie zitterte. Sie musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen, weil ihre Beine sich so anfühlten, als würden sie nicht mehr lange mitmachen.

„Das ist gut. Sorg dafür, dass es so bleibt. Ich beobachte dich, Maxine. Und glaube mir, ich weiß, wie man das macht. Ich werde alles hören, was du sagst, und alles sehen, was du tust. Stell mich nicht auf die Probe.“

„Werde ich nicht.“

Er legte auf.

Maxine wäre am liebsten in sich zusammengesunken. Sie fühlte sich ausgeliefert und verletzbar. Dann trennte sie die Verbindung. Mit zitternden Fingern drückte sie erst die Sterntaste, dann sechs und neun. Vielleicht war das schon zu gewagt. Vielleicht machte er keine Witze und würde wissen, wenn sie es versuchte.

„Die letzte Nummer, die diese Verbindung angerufen hat, war“, sagte die Computerstimme. Dann folgte eine Pause, in der die Schaltkreise arbeiteten. „Es tut uns leid. Diese Nummer ist nicht verfügbar.“ Die Information endete mit einem Klicken.

Maxine schluckte und legte auf.

Was um alles in der Welt sollte sie jetzt bloß machen? Beobachtete er sie wirklich? Konnte er sie sogar in diesem Augenblick sehen? Gab es in ihrem eigenen Haus Wanzen oder versteckte Kameras? Sie dachte fieberhaft nach und fragte sich, was Oliver Stone an ihrer Stelle wohl tun würde.

Maxine zwang sich, ihren Verstand zu benutzen. Nachzudenken.

Okay. Der Typ war letzte Nacht bei einem Brand gewesen. Verwundet, verbrannt. Litt anscheinend auch an Rauchvergiftung, seinem Husten nach zu urteilen. Er musste sie beim Verlassen des Geländes gesehen haben, vielleicht war er ihr sogar nach Hause gefolgt und dann Jason und Stormy nachgefahren. Er hatte herausgefunden, wo sie wohnten, hatte sich eine Kamera besorgt, sich zurückgeschlichen und die Aufnahmen gemacht. Dann war er zu Maxine zurückgekehrt und hatte ihr Haus beobachtet. Als der Morgen graute, war er ihrer Mutter bis zur Arbeit gefolgt, um dort ein Foto von ihr zu machen. Anschließend hatte er den Briefumschlag abgeliefert und sie angerufen. Nicht von einem Münztelefon, das hätte sich zurückverfolgen lassen. Vielleicht von einem Handy. Sie beugte sich über den Anrufbeantworter, spulte zurück und drückte auf Play. Im Hintergrund der Aufnahme hörte sie Verkehrsgeräusche und das verräterische Knistern.

Sie hielt die Maschine an und nahm die Mikrokassette heraus. Er war mit dem Auto unterwegs. Genauso hörte es sich an. Er würde sie zwar beobachten, das schon. Wenn er zur CIA gehörte, dann wusste er, wie man Wanzen und Kameras anbrachte. Aber hatte er dazu schon Zeit gehabt? Wahrscheinlich glaubte er, er konnte sie genug einschüchtern, um sie im Zaum zu halten, bis er alles geregelt hatte.

Na gut.

Sie ging in ihr Zimmer, speicherte den gesamten Inhalt der CD-ROM auf ihre Festplatte, nur für alle Fälle, und steckte dann die CD und den Ausweis gemeinsam mit der Kassette in ihre Tasche und verließ das Haus. Es würde nicht ungewöhnlich aussehen, wenn sie sich auf den Weg zum Campus machte. Heute war ein ganz normaler Vorlesungstag.

Dieser mysteriösen Sache würde sie nicht weiter nachgehen, wenn sie dadurch ihre Mutter oder ihre Freunde in Gefahr brachte. Es war klar, dass der Mann seine Drohungen wahr machen und noch weiter gehen würde. Gott allein wusste, zu welchen Grausamkeiten die Regierung in der Lage war und damit auch durchkam. Besonders, wenn stimmte, was sie auf der CD-ROM gefunden hatte.

Aber sie würde nicht vergessen. Und sie würde ausreichend Kopien von ihren Beweisen an verschiedenen Orten aufbewahren. Denn eines Tages würde sie älter sein und in einer Position, in der sie bestimmte, wo es langging. Eines Tages, wenn sie sich etabliert hatte, wenn sie einen Doktortitel ihr Eigen nannte und eine Anwaltslizenz und eigenen Einfluss. Dann konnte sie Antworten verlangen.

Aber noch nicht jetzt. Noch war sie nur Mad Max Stuart, die zwanzigjährige Studentin mit zu viel Fantasie.

Fantasie, ja sicher, dachte sie. Endlich gab es einen Beweis dafür, dass die Regierung in ihrer Heimatstadt nichts Gutes vorhatte. Wenn dieser Bastard am Telefon glaubte, seine Drohungen schüchterten sie ein, hatte er sich geschnitten. Seine Drohungen waren wie die Bestätigung, die ihr immer verwehrt geblieben war. Sie war nicht verrückt. Sie hatte recht.

Sie hatte die ganze Zeit recht gehabt.

Und sie konnte sehr geduldig sein.