Keith

25. KAPITEL

„Stiles. Gott sei Dank sind Sie noch da. Hören Sie. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wir … wir haben noch einen.“

„Was?“

„Noch einen. Von denen.“ Maxine schluckte, und ihre Augen fanden den immer schwächeren Blick ihrer Schwester, während sie ins Telefon sprach. „Ich glaube, er hat sie geschickt. Sie hat versucht, an Morgan heranzukommen. Lou war hier, sie haben gekämpft, und dann ist sie einfach aus dem Fenster – er wollte sie nicht stoßen, es ist einfach passiert. Fast hätte sie Lou mitgenommen.“

„Ist sie verletzt?“

„Ja. Ziemlich schlimm, wie es aussieht. Ich weiß auch nicht, sie war jedenfalls bewusstlos. Wir haben sie gefesselt, aber ich weiß nicht, wie lange wir sie festhalten können. Wenn sie aufwacht …“

„Wo ist sie jetzt?“

„Lou hat sie zum Haus gebracht. Er hat sich gedacht, er kann sie schlecht hier festhalten, wo jemand sie sehen könnte. Er wird sie da einschließen oder so etwas. Hat mir gesagt, ich soll Ihnen sagen, er wartet bei den Klippen auf Sie.“

„Ich bin in zwanzig Minuten da.“ Stiles legte auf.

Maxine nickte langsam, steckte ihr Handy zurück in die Tasche und setzte sich neben ihre Schwester. Sie streichelte ihr Haar. Morgans Augen wurden immer schmaler. „Es dauert nicht mehr lange, Babe. Halt durch, okay?“

Ein Nicken, so schwach, dass ihr Kopf sich kaum bewegte. Dann öffnete sich die Tür, und Dr. Hilman trat ein. „Maxine, Sie wollten mich sprechen?“

„Ja.“ Maxine stand auf und sah ihn mit festem Blick an, hob ihr Kinn und drückte ihre Schultern durch. „Ich will Morgan nach Hause bringen.“

„Unmöglich.“ Er sagte es rasch, ohne überhaupt nachzudenken.

„Lassen Sie uns von Anfang an Klartext reden. Wir wissen beide, dass es geht. Vielleicht ist es nicht ratsam, aber es geht.“

„Sie überlebt die Fahrt vielleicht nicht, Maxine.“

„Ach, Doc, glauben Sie denn, sie überlebt die Nacht?“

Den Kopf gesenkt, musste er Maxine recht geben. „Ehrlich gesagt … nein.“

„Was macht das dann für einen Unterschied? Sie will zu Hause sterben. In ihrem eigenen Bett, in dem Haus, das sie liebt. Sie können hier nichts mehr für sie tun, außer ihr Leben vielleicht ein paar Stunden zu verlängern. Nur diese eine Sache könnten Sie noch für sie tun. Ihren letzten Wunsch erfüllen. Ich übernehme die volle Verantwortung.“

Er neigte den Kopf und presste die Lippen aufeinander.

„Wenn Sie Nein sagen, nehme ich sie trotzdem mit“, fügte Maxine hinzu.

Mit einem Seufzen ging der Arzt an ihr vorbei, beugte sich über Morgan und berührte ihr Gesicht. „Ist es das, was Sie wollen, Morgan? Sie wollen nach Hause, auch wenn Sie hier vielleicht noch ein wenig mehr Zeit hätten?“

Es gelang ihr, zu nicken, und sogar, ihre Lippen zu dem Anflug eines Lächelns zu verziehen.

Der Arzt richtete sich auf und atmete tief durch. „In Ordnung. Ich hole die Papiere.“

„Die Zeit drängt ein wenig.“

„Ich beeile mich.“

Das tat er – erstaunlicherweise. Zehn Minuten später unterschrieb Maxine die Einwilligung und schob dann ihre in Decken gewickelte Schwester hinaus zu einem wartenden Taxi. Kurz danach bogen sie in die Auffahrt ein, und Morgan seufzte hörbar erleichtert, als sie ihr altes Haus wiedersah. Lieber Gott, es bedeutete ihr wirklich alles.

Maxine betrachtete Morgans Gesicht einen Augenblick lang. Sie hatte sich in den letzten Tagen verändert. Ihr Gesicht war eingefallen, unter ihren Augen waren tiefe violette Tränensäcke erschienen, und ihre Wangen waren ausgehöhlt. Ihre Lippen waren schmal und aufgesprungen. Sie sah wie eine alte Frau aus.

Maxine bezahlte den Fahrer, stieg aus dem Taxi, ging um den Wagen herum, um die Tür ihrer Schwester zu öffnen, und nahm sie behutsam in den Arm. Im selben Moment kam schon David aus dem Haus, und als Maxine zur Seite trat, hob er Morgan hoch und trug sie leichthändig ins Haus, die Treppe hinauf, und schon Augenblicke später steckte sie in ihrem eigenen Bett. Maxine machte einen Zwischenstopp im Arbeitszimmer, um eine der kleineren Holzkohlezeichnungen von Dante von der Wand zu nehmen. Sie nahm das Bild mit nach oben. Als sie ins Schlafzimmer kam, legte sie es in die Hände ihrer Schwester und bemerkte, wie eine Andeutung des früheren Lebenslichts in den Augen der sterbenden Frau aufleuchtete.

„Halt durch, Morgan. Wenn du spürst, dass du entgleitest, sieh dir Dantes Gesicht an und sag dir, dass er bald kommt. Ich bringe ihn selbst zu dir. Versprochen.“

Ein leichtes Nicken. Ein erleichtertes Seufzen. Ein einziges, geflüstertes Wort. „Schnell.“

Maxine blickte zuerst zu Lydia, die schon im Schlafzimmer von Morgan gewesen war, dann zu David. „Bleibt bei ihr.“

„Natürlich werden wir das. Pass auf dich auf, Max.“ Ihre Mutter umarmte Maxine kurz.

Die Tochter erwiderte die Umarmung. „Sag es ihr. Es ist vielleicht deine letzte Chance“, flüsterte sie ihr ins Ohr.

Sarafina lag auf dem kühlen, feuchten Boden über den Klippen auf der Seite. Ihre Hände waren hinter ihrem Rücken gefesselt, ihre Knöchel mit Isolierband zusammengebunden. Sie lag ruhig da, bewegungslos, mit geschlossenen Augen und wirren Haaren. Sie hatte sich Dreck über ihr Kleid und ihre Arme gerieben und auch ein wenig in ihr Gesicht in der Hoffnung, in der Dunkelheit überzeugender zu wirken.

Lou konnte nicht anders, als die Frau ein wenig zu bewundern. Mutig. Andererseits hatte sie auch allen Grund dazu. Sie war stärker als zehn ausgewachsene Männer. Dennoch war es ein Risiko. Sie musste sich wirklich viel aus Dante machen.

„Mir ist immer noch nicht klar, in welcher Beziehung Sie zu Dante stehen“, sagte Lou leise. Er stand neben ihrer regungslosen Gestalt auf den Klippen, beobachtete die Umgebung und horchte nach Stiles. „Sie haben gesagt, Sie sind seine Mutter, Schwester und Tante. Wie zum Henker soll das funktionieren?“

Sie öffnete ihre Augen und sah zu ihm auf, ohne ihren Kopf zu bewegen. „Schwester, weil alle Vampire Geschwister sind. Wir kommen von einer gemeinsamen Quelle, wir teilen das gleiche Blut. Das gleiche Antigen, das uns einzigartig macht. Mutter, weil ich diejenige war, die ihn von einem dem Tode nahen Sterblichen zu einer mächtigen, unsterblichen Kreatur gemacht habe. Ich habe ihm das Leben geschenkt.“

Lou nickte langsam. „Und Tante?“

„Auf dem üblichen Weg. Urgroßtante, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich war die Schwester seiner Urgroßmutter.“

Wieder nickte er. „Dann haben Sie ihn verwandelt, weil –“

„Sch! Sie kommen.“ Sie schloss die Augen wieder. „Er weiß, dass die Handschellen allein mich nicht halten können, Sterblicher. Er wird versuchen, mich zu betäuben, wie er es bei Dante getan hat. Das dürfen wir nicht zulassen.“

Lou strengte Augen und Ohren an, aber er konnte nicht das Geringste sehen oder hören. Andererseits funktionierten ihre Sinne wohl auf einer Art höheren Ebene. Auf jeden Fall stand ihre Genauigkeit außer Frage. Nachdem sie mit ihm aus dem zweiten Stock des Krankenhauses gesprungen war, nahm er sowieso an, dass es kaum etwas gab, was sie nicht konnte.

Endlich erreichte das Geräusch von Schritten im Gras auch seine menschlichen Ohren, und er konzentrierte sich auf die Richtung, aus der sie kamen. Stiles’ Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf. Er war wachsam, sah sich genau um, bewegte sich langsam. Er näherte sich der gefallenen Sarafina, wie, so nahm Lou an, er sich einem schlafenden Tiger nähern würde.

„Sie ist bewusstlos“, versicherte Lou ihm. „Der Sturz hat sie ziemlich stark verletzt.“

„Das hat die Rothaarige am Telefon schon gesagt“, meinte Stiles. Er zog eine Spritze aus der Tasche, hielt sie vor sein Gesicht und prüfte den Inhalt, dann trat er einen weiteren zögernden Schritt vor. Und noch einen. Langsam streckte er die Hand nach ihr aus, zuckte dann aber wieder zurück.

„Oh, Himmel noch mal, machen Sie schon“, forderte Lou ihn ungeduldig auf.

Stiles trat endlich näher, ließ sich auf ein Knie hinab, und legte die Spritze an Sarafinas Arm. Ruckartig hob sie ihren Kopf, schlug damit gegen seine Brust, warf ihn so von sich ab, und die Spritze flog auf den Boden. Lou warf sich darauf, und sie rangen für einen Augenblick miteinander. Unbemerkt von Stiles stach Lou währenddessen die Spritze in den Boden und leerte ihren Inhalt aus.

„Nimm das, verdammt“, knurrte Lou.

Sarafina sackte zusammen, ließ ihren Kopf auf den Boden fallen, schloss die Augen. Lou stand auf, befreite sich aus ihrem Griff und bürstete sich den Dreck von der Kleidung. Er gab Stiles die leere Spritze, der erst sie, dann ihn betrachtete. „Danke“, sagte er.

„Die Schlampe hat versucht, mich umzubringen. Zweimal in einer Nacht. Sie hatten recht, was die angeht, Stiles.“

Stiles nickte. „Sie wird es nicht noch einmal versuchen.“ Er ließ die Spritze fallen, bückte sich und hob Sarafina hoch. „Denken Sie dran“, ermahnte Stiles ihn, als er sich umdrehte, um zum Haus zurückzugehen, „sagen Sie es niemandem. Die Sache ist vorbei. Sie und alle anderen, die damit zu tun hatten, müssen einfach vergessen, was passiert ist. Verstanden?“

„Ich werde es nicht vergessen“, sagte Lou, „aber ich kann es für mich behalten.“ Er rang sich ein Lächeln ab. „Verdammt, wer würde mir das schon glauben?“

„Genau.“

Gemeinsam gingen sie um das Haus herum bis zu der Stelle, an der Stiles’ Wagen wartete. Er zuckte zusammen, als der Bastard Sarafina einfach in den Kofferraum warf. Sie landete unsanft, und dann knallte er noch den Deckel zu. „Sie werden mich nie wiedersehen“, versprach Stiles zum Abschied.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, Stiles, aber ich hoffe, Sie haben recht.“ Lou winkte ihm nach, während Stiles sich hinter sein Lenkrad setzte und davonfuhr.

Sobald seine Rücklichter hinter der Kurve verschwunden waren, fuhr Maxine Lous Wagen vor, öffnete die Beifahrertür von innen und Lou sprang hinein.

„Es dauert so lange“, sagte Lydia, die eine Stunde später unruhig im Schlafzimmer auf und ab ging. „Warum sind sie noch nicht zurück? Die Sonne geht bald auf.“

David legte eine Hand auf ihre Schulter. „Versuch, Vertrauen zu haben, Lydia. Es wird alles gut. Es muss einfach.“

Das Lächeln der beiden verriet Morgan, dass etwas zwischen ihnen war. Etwas, das sie ihr vorenthielten.

„Max hat recht“, flüsterte David ihr zu, „du solltest es ihr sagen.“

Lydia sah ihn lange an, ehe sie sich zu Morgan umdrehte. Sie schniefte, als sie sich auf die Bettkante setzte und Morgans Hand in ihre nahm. Lydias Hand fühlte sich stark und warm an. Liebevoll betrachtete sie Morgan. „Morgan, ich bin die Frau, die dich und Max zur Welt gebracht hat. Ich … ich bin deine Mutter.“

„Mutter …“ Morgan flüsterte das Wort. Ganz überrascht war sie von diesen Neuigkeiten nicht. Sie hatte sich schon gefragt, warum Lydia sich so verbunden mit Maxine fühlte, warum sie sich so viel aus ihr zu machen schien, obwohl sie sich gerade erst begegnet waren. Sie hatte gesehen, wie die Frau neben ihr im Krankenhaus geweint hatte, und weil sie von der Adoption wusste, hatte die Schlussfolgerung nahegelegen.

„Ich habe euch beide zur Adoption freigegeben, weil ich dachte, es würde euch dann besser ergehen. Ich wollte, dass ihr ein gutes Leben habt. Aber man hat mir gesagt, ihr kommt beide in die gleiche Familie. Erst ein Jahrzehnt später habe ich herausgefunden, dass man euch getrennt hat.“

Morgan seufzte und nickte mit ihren Augen. Sie war zu schwach, um ihren Kopf zu bewegen. Dann blickte sie hinüber zu David. „Vater?“, fragte sie, trotz der Anstrengung, die es sie kostete.

„Nein“, antwortete David, „auch wenn wir eine Zeit lang dachten, ich könnte es sein.“ Er kam ebenfalls näher und setzte sich auf das Bett. „Ich war einer von Lydias … Kunden. Jung, reich. Aber ich habe sie immer gemocht. Als sie mir gesagt hat, dass sie schwanger ist, war ich einverstanden, mich testen zu lassen. Doch als feststand, dass ihr nicht meine Kinder seid, bin ich … verschwunden. Das war ein Fehler, Morgan. Ich hatte keine Ruhe mehr. Ich habe Lydia ein Jahr später ausfindig gemacht, und sie hat mir erzählt, ihr seid adoptiert worden, auch wenn sie keine Details kannte, nur, dass ihr es gut habt. Also habe ich einen Privatdetektiv beauftragt, euch zu finden. Maxine ging es gut in einer liebevollen, gesunden Familie. Aber dir …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich mochte deine Adoptiveltern nicht. Und ich wusste nicht, wie ich wiedergutmachen konnte, was schon geschehen war. Also bin ich an die Westküste gezogen und der beste Freund deines Adoptivvaters geworden. Es war die einzige Möglichkeit, dir nahe zu sein, um auf dich aufzupassen. Und dazu sah ich mich gezwungen. Ich habe mit Lydia nicht wieder Kontakt aufgenommen, um es ihr zu sagen, weil – na ja, weil ich wusste, dass es sie umbringen würde, zu merken, an was für Leute sie dich weggegeben hat.“

Er beugte sich hinab und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Es tut mir leid, Kleines. Es tut mir leid, dass ich dir nie die Wahrheit gesagt habe.“

Sie schloss die Augen. „Lieb dich.“

Als er sich aufsetzte, hatte er Tränen in den Augen.

Morgan wollte ihnen beiden sagen, dass alles in Ordnung war. Sie machte niemandem irgendwelche Vorwürfe. Aber sie konnte es nicht. Diese verdammte Schwäche sorgte dafür, dass sie einfach nichts tun konnte. Sie existierte nur von einem Atemzug zum nächsten, und mit jedem war sie sich weniger sicher, ob ihr noch die Kraft für einen weiteren blieb. Aber sie versuchte, es ihnen mit den Augen zu sagen. Mehr konnte sie einfach nicht tun.

„Was dauert da bloß so lange?“ Langsam wurde auch David nervös.

Maxine drosselte das Tempo, als sie merkte, dass Stiles langsamer wurde. Sie war ohne Scheinwerfer durch die Dunkelheit gefahren, nur geleitet von dem fernen Leuchten seiner Rücklichter. Es war mehr als riskant. Eigentlich sogar dämlich, aber sie tat es für ihre Schwester. Sie hatte alles vermasselt, und allein durch ihre Ignoranz kämpfte Morgan noch immer mit dem Tod. Sie musste es wiedergutmachen.

Sie legte den Rückwärtsgang ein und fuhr mit nicht mehr als dem Warnlicht, das ihr den Weg zeigte, zurück. Als sie außer Sichtweite von Stiles’ Wagen war, schaltete sie den Scheinwerfer ein und fand einen Platz zum Parken. Dann stellte sie den Motor aus und sah Lou an. „Das ist es also.“

„Nicht für dich. Du kannst das Auto nehmen und von hier verschwinden. Hol Verstärkung. Es ist mir egal, was du zu sagen hast, du verständigst die Polizei. Ich gehe alleine.“

„Den Teufel wirst du tun.“ Sie nahm ihr Handy und wählte den Notruf. Dann runzelte sie die Stirn, als nichts passierte. „Verdammt, wir sind in einem Funkloch.“

„Wie ich schon sagte, geh und hol Hilfe.“

„Selbst wenn ich das täte und sofort Hilfe käme, würden wir nicht rechtzeitig kommen. Wir müssen es jetzt machen, Lou. Du und ich. Vielleicht mit ein wenig Hilfe von dem fast toten Duo da drinnen, wenn wir Glück und die beiden gute Laune haben.“ Sie ließ die Schlüssel in der Zündung stecken, stieg aus dem Wagen und wartete nicht einmal auf Lous Antwort, sondern preschte einfach vorwärts.

Kurz darauf holte er sie ein. „Wenn dir etwas zustößt, Max. Damit könnte ich nicht leben.“

„Meine Schwester liegt im Sterben, Lou. Es ist meine Schuld. Ich muss das hier tun. Wenn ich es nicht mache und sie es nicht schafft, wie soll ich dann damit leben?“

Er musste schlucken und starrte sie durch die Dunkelheit an. „Verdammt, du bist so verflucht stur.“

„Ja, und du liebst mich dafür.“

„Hier.“ Er drückte ihr eine Waffe in die Hand. Klein. Seine eigene.

„Was ist mit dir?“

Er hob seinen anderen Arm, und sie sah zum ersten Mal den dunklen Umriss der Flinte, die er bei sich trug. „Ich hielt es für angebracht, die großen Geschosse aufzufahren.“

„Gut mitgedacht.“

Sie gingen nebeneinander die Straße hinauf, bis sie den Umriss von Stiles’ Wagen in der überwachsenen Auffahrt eines verfallenen Hauses ausmachten. Es sah verlassen aus. Aber drinnen brannte Licht.

„Glaubst du, Sarafina ist noch im Kofferraum?“, flüsterte Max.

„Er wäre ein Volltrottel, wenn er sie drinnen ließe.“

Sie schlichen näher ans Haus und ließen den Wagen fürs Erste stehen. Wenn Sarafina noch im Kofferraum lag, konnte sie sich wahrscheinlich selbst befreien, dachte Maxine, also sollten sie darauf keine Zeit verschwenden und schon gar nicht den Feind auf sich aufmerksam machen, indem sie beim Versuch, einen verschlossenen Kofferraum zu öffnen, herumschepperten. Sie nahm an, dass Lou ihrer Meinung war, denn er ging ohne stehen zu bleiben am Wagen vorbei.

Gerade als sie auf die verrottet aussehende Vordertreppe zuhielten, spürte Maxine einen Gewehrlauf im Rücken. „Eine Bewegung, und sie ist tot“, hörte sie eine männliche Stimme hinter sich.

Aus den Augenwinkeln sah Maxine, wie Lou sie mit einem entsetzen Ausdruck auf dem Gesicht anschaute. „Okay, okay, ganz ruhig“, sagte er, „wir sind Freunde.“

„Lass die Waffe fallen.“

Lou ging in die Knie, legte das Gewehr auf den Boden und richtete sich dann wieder auf.

„Du auch, Schätzchen“, forderte der Mann Maxine auf.

„Ich habe keine Waffe, die ich fallen lassen kann“, sagte sie, „leihen Sie mir Ihre?“

„Gut, suche ich sie eben selbst.“ Er begann, sie abzutasten. Anscheinend war er sich sicher, dass sie sich eine Waffe in den Schritt geklebt hatte, so lange, wie er sich in diesem Bereich aufhielt. Endlich fand er die Waffe, die Lou ihr gegeben hatte, nahm sie an sich und schubste sie vorwärts. „Rein mit euch. Alle beide.“

Lou und Maxine gingen voran in das verfallene Haus. Die Eingangstür hing schief von einer Angel. Als sie in den Raum gestoßen wurden, konnte Maxine zuerst nur das weiße Licht einer Gaslaterne erkennen, dann sah sie Stiles und zwei andere Männer an einem Tisch sitzen.

„Na, was haben wir denn da?“, sagte Stiles und stand auf.

Durch einen Türrahmen links von ihr konnte Max Dante sehen, der an einen Tisch gefesselt war, und daneben Sarafina auf einem anderen. Sie tat so, als bemerke sie die beiden nicht. „Beeindruckend“, wendete sie sich stattdessen an Stiles, „das ist also das neue Hauptquartier der DPI? Ganz schön Hightech.“

„Das hier ist nur eine Zwischenstation“, klärte er sie auf. „Also, wollt ihr sofort sterben oder mir erst sagen, was zum Henker ihr hier macht?“

Lou unterbrach Maxine, ehe sie Stiles mit einer sarkastischen Bemerkung abspeisen konnte. „Ich bin Ihnen gefolgt.“

„Ich wusste es.“

„Hey, wenn Sie es wussten, warum sind Sie dann weggefahren?“

„Wovon redest du?“

Lou leckte sich die Lippen. „Nachdem Sie weggefahren sind, habe ich mir die Spritze angesehen, und es war noch etwas von der Droge darin. Ich habe mir Sorgen gemacht, dass sie vielleicht nicht betäubt genug ist, bin ins Auto gesprungen und Ihnen gefolgt, um Sie zu warnen.“

Stiles hob seine Augenbraue und nickte, während Lou seine Lügen spann. Er pfiff tief und langsam, als Lou fertig war. „Und ich dachte, das wäre alles ein Trick, damit ihr Dante befreien könnt. Also, sag mir, Lou, wo hast du dein Auto gelassen? Ich habe es nicht in die Auffahrt kommen hören.“

„Mir ist das Benzin ausgegangen“, Lou hatte wirklich Fantasie, „nur ein kurzes Stück entfernt.“

„Klar.“ Stiles blickte den Mann hinter Maxine an. „Bring die beiden nach hinten und erschieß sie.“

Verzweifelt blickte Maxine zu Lou. In seinen Augen konnte sie Angst erkennen – um sie, nicht um sich selbst. Dann packte ihn der andere Mann und schubste ihn aus dem Haus. Sie selbst wurde direkt hinter ihm hinausgeschoben. Die Männer führten sie beide an die Rückseite des Hauses und stießen sie, bis sie und Lou nebeneinanderstanden, mit dem Rücken zu den Männern.

„Auf die Knie.“

„Ich sterbe lieber im Stehen, danke.“ Maxine wusste selbst nicht, woher sie ihren Mut nahm.

„Wie du willst.“ Der Lauf der Waffe bewegte sich von ihrem Kreuz in ihren Nacken.

Lous Bewegung kam ganz plötzlich, er duckte sich tief hinab und rammte den Mann hinter ihm mit seinem Ellenbogen. Im selben Moment drehte er sich um und warf sich auf den Kerl, der die Waffe an Maxines Kopf hielt. Die Waffe ging los, betäubte sie, aber sie spürte keinen Schmerz. Sie fand sich auf dem Boden wieder, der laute Knall hatte ihr wahrscheinlich einen Schock versetzt. Während sie sich aufrichtete, sah sie, wie einer der Schläger nach der Waffe greifen wollte, die er fallen gelassen hatte. Sie versuchte ihm zuvorzukommen, doch er war schneller und richtete sie auf Maxine. Lou rang mit dem anderen, und sie rollten sich beide auf dem Boden.

Maxine hielt instinktiv die Hand nach oben, als die Waffe, die direkt auf ihre Brust zeigte, losging. Wie ein schwarzer Blitz stürzte sich gleichzeitig eine finstere Gestalt zwischen sie und den Schützen. Noch ein Schuss, dieses Mal hinter ihr. Lou hatte den Kampf um die andere Waffe gewonnen und den Angreifer in die Brust geschossen. Der Mann brach zusammen. Hinter Lou lag sein Partner bewusstlos und blutend auf der Erde.

Maxine hörte, wie Autoreifen quietschten. Stiles und der andere Schläger flüchteten, daran bestand kein Zweifel. Aber sie war zu schockiert, um sie zu verfolgen. Dante, die einzige Hoffnung ihrer Schwester, der Mann, der gerade eine Kugel für sie abgefangen hatte, lag auf dem Boden, blutete, keuchte und packte sich an die Brust.

„Oh Gott“, flüsterte sie benommen.

„Einfach … abbinden.“ Er presste die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Halt es auf, ehe ich zu viel verliere.“

Sie nickte, riss einen Streifen von ihrer Bluse ab, knüllte ihn zu einem Ball, und drückte ihn in die Wunde. Dort hielt sie ihn fest.

Dante atmete durch. „Jetzt … bring mich zu Morgan.“

„Lou, hol den Wagen.“

Ohne weitere Fragen zu stellen, rannte Lou in die Dunkelheit. Sarafina kam aus dem Haus, sah Maxine, dann Dante in ihren Armen. Die Handschellen hingen noch an ihren Handgelenken, wie Armbänder. Die Kette hatte sie entzweigerissen.

„Wenn du heute Nacht versuchst, sie zu verwandeln, wird es nicht funktionieren.“ Sarafinas Stimme klang kalt.

„Das kannst du nicht wissen.“

„Sie ist schon zu schwach. Und jetzt bist du verwundet. Nicht bei voller Kraft.“

„Ich sorge dafür, dass es funktioniert.“

„Es könnte dich umbringen.“

„Dann sterbe ich eben.“

Bei seinen Worten senkte Sarafina ihren Kopf und schloss die Augen. Das Auto kam mit quietschenden Reifen zurück. Sarafina ging um das Haus, Lou entgegen, und Maxine fragte sich, was sie vorhatte. Als sie zurückkam, war Lou bei ihr, und sie hielt das Isolierband in der Hand, mit dem sie ihre Füße gefesselt hatte. Sie warf es Maxine zu.

„Stopf noch mehr Stoff in die Wunde. Alles, was reingeht. Dann wickele ihn fest in dieses Band ein, ganz um die Brust. So fest es geht.“

Maxine stellte keine Fragen. Sie nickte gehorsam, riss mehr Stoff von ihrer Bluse ab und tat genau, was Sarafina ihr aufgetragen hatte.

„Jetzt tritt zurück“, befahl Sarafina.

Maxine legte Dantes Kopf vorsichtig auf den Boden nieder, und Sarafina kniete sich neben ihn. „Du hast deine Wahl getroffen, Dante. Zwischen mir und dieser sterblichen Frau, die du begehrst. Du hast dich für sie entschieden.“

„Warum muss ich mich überhaupt entscheiden?“

„Wirst du mit mir kommen? Sie zurücklassen?“

Er verzog das Gesicht vor Schmerz. „Das kann ich nicht.“

„Dann hast du sie gewählt.“ Sie legte ihren Arm an ihre Lippen, biss sich eine Wunde in ihr Handgelenk und presste es an seinen Mund. Dante packte ihre Hand und trank, während Sarafina weitersprach. „Das ist das letzte Mal, dass ich dir jemals helfen werde, Dante. Du wirst nie wieder die Gelegenheit bekommen, mich zu hintergehen.“

Sie entriss ihm ihr Handgelenk, nahm sich einen Stoffstreifen, den Maxine auf dem Boden hatte liegen lassen, und benutzte ihre Zähne und eine Hand, um ihn fest zu verknoten.

„Ich habe dich nicht hintergangen. Sarafina, warte …“

Ohne ein weiteres Wort und ohne zurückzublicken, verschwand sie, ihre Röcke tanzten im Wind, und ihre Armbänder und Reifen klirrten wie Glocken. Dante schloss die Augen. Vor Schmerz, glaubte Maxine.

„Komm, Lou. Bringen wir ihn zum Wagen. Wir müssen ihn zu Morgan schaffen.“

Lou blickte in den Himmel, während sie Dante zwischen sich stützten. „Bald geht die Sonne auf.“

„Einen weiteren Tag übersteht sie nicht. Es muss jetzt sein. Wenn wir nicht schon zu spät kommen.“ Sie blickte suchend in Dantes Gesicht. „Hat sie die Wahrheit gesagt? Funktioniert es vielleicht nicht einmal?“

„Wenn sie zu nah an der Schwelle des Todes steht, wenn ich zu schwach bin …“ Dante seufzte und schüttelte ihre stützenden Arme ab. Den Rest des Weges ging er unsicher, aber aus eigener Kraft. Er setzte sich auf den Rücksitz. Lou und Maxine stiegen vorne ein. „Es wird funktionieren“, sagte Dante, als Lou den Wagen anließ und aus der Auffahrt fuhr. „Es muss einfach.“

Lou legte den Gang ein, und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.