Keith

14. KAPITEL

Dante hatte nicht vor, zu ihrem Fenster hinaufzuklettern, wie er es in den Nächten zuvor getan hatte. Er wollte den Weg zu ihrer Vordertür nehmen, klingeln und sich vorstellen, wenn sie öffnete. Ja, das würde ihr einen Schreck einjagen. Aber auch wenn sie körperlich zerbrechlich war, spürte er eine emotionale Stärke in ihr, die sie noch nicht selbst erschlossen hatte. Sie würde mit dem Schreck fertigwerden. Und dann sollte sie für das geradestehen, was sie getan hatte.

Mit großen Schritten erklomm er das hügelige Land von der Küste zu der mit Gras bewachsenen Spitze des Hügels und ging dann über den hinteren Rasen und um das Haus herum. Doch als er näher kam, kribbelte seine Haut, nicht mit der Anziehungskraft, die er immer spürte, wenn er sich ihr näherte, sondern wie eine Warnung.

Aufmerksam geworden sah er sich um und bemerkte das fremde Fahrzeug in der Auffahrt. Er roch keine Abgase in der Luft. Es musste schon seit geraumer Zeit dort stehen. Wer auch immer sich im Haus bei Morgan befand, hatte auf sie gewartet, als sie endlich nach Hause gekommen war.

Dante schloss die Augen und stimmte seine Sinne ein. Wie immer war Morgans Aura klar und einfach zu erkennen. Der andere war viel schwieriger wahrzunehmen. Es kostete ihn Mühe, fast, als hätte der Mann – ja, es war ein Mann – eine Mauer um seinen Geist geschaffen. Der Fremde hatte etwas an sich, das Dante nicht gefiel. Er fühlte sich … gefährlich an.

Langsam ging er um das Haus herum und fuhr mit einer Hand über das Holz, als er zwischen die Pflanzen und Büsche trat. Sie waren nicht ins Arbeitszimmer gegangen. Er wusste nicht, warum, aber er sollte ihr dazu gratulieren.

Und dann tat er es. Ohne es zu wollen schickte er die Nachricht. Gut gemacht, Morgan. Er muss nicht dort hineingehen.

Er erstarrte bis aufs Mark, als er ihre Antwort in seinem Geist vernahm. Dieser Raum ist mein besonderer Ort. Meiner … und Dantes. Niemand darf dort hinein.

Sie sprach mit ihm und dachte, sie spräche mit sich selbst. Führte einfach diesen inneren Dialog, den die Leute oft mit sich selbst hielten. Wusste nicht, dass die andere Seite des Gesprächs von einem anderen kam.

Ich mag diesen Mann nicht, dachte sie.

Er ist gefährlich, warnte Dante und konzentrierte sich schnell auf das Wichtigste. Nimm dich in Acht vor ihm.

Er wusste, dass sie zu sich selbst nickte, wie zu ihm, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Und dann erreichte er die Außenwand des Wohnzimmers und spürte das Surren ihrer Lebenskraft direkt durch die Wand hindurch. Er blieb dort stehen, wendete sich dem Haus zu, legte beide Hände flach gegen die Wand und drang tiefer in ihren Geist ein. Und immer tiefer. Als er auf Widerstand stieß, flüsterte er in ihre Gedanken: Öffne dich für mich, Morgan. Ich bin es nur. Lass mich ein. Du weißt, ich werde dir nicht wehtun.

Und sie gehorchte. Mit einem bebenden Seufzen entspannte sie sich und öffnete sich ihm völlig. Er sah durch ihre Augen. Hörte mit ihren Ohren. Er übernahm die Kontrolle nicht. War sich nicht einmal sicher, ob er es könnte, wenn er es versuchte, aber es war auch nicht wichtig. Er war ihr nicht deshalb so nahe gekommen.

Er wollte sie beschützen. Komisch, dachte Dante, wo er doch noch beim Herkommen wütend genug gewesen war, sie umbringen zu wollen. Wenigstens hatte er sich das selbst eingeredet. Jetzt fragte er sich, ob das wirklich stimmte.

Der Mann, der Fremde, stand mit seinem Rücken zu Morgan und betrachtete den Grundriss des Hauses mit vorgetäuschter Bewunderung. Er nickte mit gespieltem Beifall. „Sehr hübsch, was Sie aus dem alten Kasten gemacht haben.“

„Mir gefällt es“, antwortete sie, „aber Sie haben gesagt, Sie sind hier, um mich wegen meiner Arbeit zu interviewen, Mr. Stiles.“

„Bitte, nennen Sie mich Frank. Mir ist klar, dass ich mich beeilen sollte. Ich hätte Sie niemals um vier Uhr morgens belästigt, wenn ich nicht gesehen hätte, wie Sie nach Hause gekommen sind. Ich bezweifle nicht, dass Sie müde sein müssen. Es war furchtbar freundlich von ihnen, mich überhaupt hineinzulassen.“

„Na ja, schließlich sind Sie sechs Stunden hierhergefahren, um Ihre Deadline noch zu schaffen. Aber wie schon gesagt, wir werden uns kurz fassen müssen. Setzen Sie sich bitte.“

Sie bot ihm keine Erfrischung an. Er bat auch nicht darum. Stattdessen drehte er sich um und setzte sich in einen massiven Hartholzstuhl mit Löwenklauen und einem Samtpolster. Dante betrachtete sein Gesicht durch Morgans Augen und fühlte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. Oder war es Morgans Herz?

Die linke Gesichtshälfte des Mannes war von unebenem, rosigem Fleisch überzogen, das wie eine geschmolzene Plastikpuppe aussah. Das Augenlid hing herunter, die Wange sackte ab, die Lippe war verzerrt und das Ohr war nur ein unförmiger Klumpen. Er trug auf dieser Seite auch ein Haarteil. Dante hatte es erst nicht gesehen, aber jetzt erkannte er deutlich, dass das Haar einen etwas anderen Farbton hatte und auf einer Seite des Kopfes etwas weniger strubbelig war als auf der anderen. Es war gute Arbeit. Gut genug, um einen Sterblichen zu täuschen.

Der entstellte Frank lächelte sie an. Man musste es Morgan hoch anrechnen, dass sie zurücklächelte. Aber auch sie spürte Gefahr. Allerdings glaubte sie, wegen seiner Narbe nervös zu sein, und schalt sich selbst, denn dafür konnte der Mann nun wirklich nichts.

„Sie müssen sehr aufgeregt sein wegen Ihrer Nominierung“, sagte er. „Ich finde, Sie haben es verdient.“

„Danke. Ja, ich bin ziemlich überwältigt, dass der Film so gut angenommen wurde.“

„Es ist ein guter Film.“ Er zog einen Notizblock aus der Tasche, dann einen Stift. Genau, wie man es von einem Reporter erwarten würde. Ein weiteres Warnsignal für Dante. „Aber andererseits waren die ersten beiden auch gut. Warum, glauben Sie, ist dieser so viel besser angekommen?“

Dantes Herz schien schon wieder auszusetzen. Die ersten beiden?

„Die ersten beiden Filme hatten ein viel kleineres Budget“, antwortete Morgan, „aber dennoch haben sie eine Anhängerschaft gewonnen, die größer war als unsere wildesten Erwartungen. Das führte natürlich dazu, dass wir den dritten viel größer aufziehen konnten.“

Der Mann nickte. „Und ein vierter ist in Arbeit?“

„Natürlich.“

Während Dantes Herz zusehends aus dem Rhythmus geriet, kritzelte der Reporter lächelnd auf seinen Notizblock. „Ich glaube, diese Filme haben einen Realismus an sich, der anderen Vampirfilmen – eigentlich allen Horrorfilmen – fehlt. Der Charakter Dante … er ist vollkommen glaubwürdig. Sehr echt.“

Morgan schluckte nervös. Er ist echt – für mich wenigstens, flüsterten ihre Gedanken. Laut sagte sie etwas anderes. „Das ist der Schlüssel für gute Fiktion, wissen Sie. Es glaubwürdig erscheinen zu lassen.“

„Tatsächlich“, hakte er nach. „Aber es ist mehr als glaubwürdig. Fast … ja, fast wie eine wahre Geschichte. Und als ich dann darüber gestolpert bin, dass Ihr Haus früher einem Mann namens Dante gehört hat, na ja, da bin ich zugegebenermaßen neugierig geworden.“

Jeder Nerv in Morgans Körper wurde zum Zerreißen gespannt. „Wovon reden Sie, Mr. Stiles?“

„Ach, kommen Sie. Die Akten sind für jeden einsehbar.“

Sie schüttelte langsam mit dem Kopf. „Nein“, sagte sie, „sind sie nicht.“ Dann schien sie sich zu fangen. „Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Informationen beziehen, aber sie sind falsch. Dieses Haus wurde von seinem früheren Besitzer verlassen, einem gewissen Mr. Daniel Taylor. Der Staat hat es für sich beansprucht, nachdem er, ohne Erben zu hinterlassen, gestorben war, und mein Onkel David hat es von ihnen gekauft.“

„Daniel Taylor war einer der vielen Decknamen, die der Vampir Dante über die Jahre benutzt hat.“

Fassungslos starrte sie ihn an. Dante konnte es nicht sehen, aber er konnte fühlen, wie sie die Lippen verzog und die Brauen hob. Was sie da zu hören bekam, war viel zu absurd, um überhaupt darüber nachzudenken. „Meine Güte, Sie haben eine grenzenlose Fantasie.“

„Es ist eine Tatsache, Morgan. Genau wie die Dinge in Ihren Filmen Fakten sind.“

Langsam stand sie auf. „Sie sind verrückt, wenn Sie glauben, dass es Vampire tatsächlich gibt, Mr. Stiles. Und ich empfange nicht gerne wahnsinnige Fremde nach Einbruch der Dunkelheit. Ich denke, es ist Zeit für Sie, zu gehen.“

„Und ich denke, es ist Zeit für Sie, die Wahrheit zu sagen. Vampire sind echt, Ms. De Silva. Sie wissen das, und ich weiß das. Dante ist echt, und er wird wahnsinnig vor Wut werden, wenn er herausfindet, dass Sie erfolgreiche Kinofilme aus seinen dunkelsten Geheimnissen gedreht haben.“

Sie schritt durch den Raum, auch noch, als ihr ein kalter Schauer über den ganzen Körper fuhr. Durch die Eingangshalle, zur Tür. Sie griff nach der Klinke.

Der Mann blieb die ganze Zeit dicht hinter ihr und legte seine Hand auf ihre. „Ich bin kein Reporter“, gestand er nun, „ich arbeite für die Regierung. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, Kreaturen wie Dante zu beobachten, Ms. De Silva, und ich weiß genug über sie, um zu wissen, dass Sie in ernster Gefahr sind. Wenn er Sie findet …“

„Raus.“ Sie riss die Tür auf, obwohl seine Hand noch auf ihrer lag. „Sofort, Stiles.“

„Woher haben Sie die ganzen Informationen über ihn? Sagen Sie es mir.“

Nur mit Mühe konnte sie ihre Wut zügeln. „Wenn Sie nicht sofort gehen, rufe ich die Polizei.“

„Das werde ich nicht zulassen.“

Ihre Hand bewegte sich ebenso schnell wie ihr Herzschlag zu dem kleinen Nummernfeld an der Wand. Ihre Finger tanzten über die Knöpfe des Sicherheitssystems, ehe er sie aufhalten konnte. „So. Die Polizei ist in fünf Minuten hier.“

„Ich versuche, Ihnen zu helfen. Er ist ein Monster, Ms. De Silva. Er wird Sie finden, und glauben Sie mir, dann bringt er Sie um, wenn ich Ihnen nicht beistehe.“

Sie beugte sich zu ihm. „Vampire gibt es nicht“, flüsterte sie ihm zu. Dann lächelte sie, als eine Sirene in der Ferne erklang. „Hmm, schneller, als ich dachte.“

Mit einem frustrierten Seufzer drehte er sich um und rannte unsicheren Schrittes aus dem Haus. Sie sah seinem Auto nach, als er wegfuhr, und merkte sich schnell das Nummernschild, ehe sie die Tür schloss und verriegelte. Dann, langsam, ganz langsam, wurde sie sehr ruhig und still und durchdachte noch einmal das Gespräch. Dante sollte echt sein. Er würde wütend auf sie sein, weil sie der Welt seine Geheimnisse mitgeteilt hatte. Er würde sie umbringen.

Aber er konnte sie nicht umbringen, dachte sie zögerlich. Er liebte sie. Nein, nein, berichtigte sie sich. Sie liebte ihn. Wenn er echt wäre, würde er sie auch lieben, weil sich die Kraft ihrer Verbindung nicht verleugnen ließ. Aber er war nicht echt. Es gab ihn nicht. Also liebte er sie auch nicht. Und er konnte ihr bestimmt nicht wehtun.

Dante zog sich aus ihren Gedanken zurück. Nur langsam begann er, wieder sein eigenes Fleisch zu spüren. Er öffnete die Augen und blinzelte, bis er wieder deutlich sehen konnte. Er bewegte seine Hände und öffnete und schloss seine Fäuste ein paarmal. Die Sirenen kamen näher. Stiles war lange fort. Aber dafür war jetzt die Polizei auf dem Weg. Und der Sonnenaufgang ebenfalls, ihm blieben nur noch wenige Stunden. Und doch ging er nicht zu Sarafina oder zu dem Haus, das sie zweifellos bereits für sie beide bereit gemacht hatte. Er ging überhaupt nicht weit weg.

„Er hat behauptet, ein Reporter zu sein“, erzählte Morgan dem Polizeibeamten, der bei ihr aufgetaucht war. Der Lautstärke seiner Sirene nach zu urteilen, hatte sie fast eine kleine Armee erwartet, die ihr die Tür einrannte. Stattdessen war da nur dieser eine Kerl, der wie ein harmloser Opa aussah. Hätte er noch ein einziges Haar auf dem Kopf oder im Gesicht gehabt, er wäre als Weihnachtsmann durchgegangen. So wie es aussah, hatte er vom Weihnachtsmann nur das warme Lächeln, die funkelnden Augen und den Bauch. Seine Uniform war tiefblau, fast schwarz. Er trug keine Mütze, und sein Kopf war genauso glänzend und rosig wie seine Wangen. Er stellte sich als Sandy Gray vor, was eher wie eine Farbe klang.

„Sie haben ihn also ins Haus gelassen“, stellte Sandy fest. „Hat er sich irgendwie ausgewiesen?“

Morgan schüttelte den Kopf. Sie und Officer Sandy standen sich im Foyer gegenüber, von Angesicht zu Angesicht, er um Haaresbreite kleiner, und sie wurde von Minute zu Minute müder. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, reinzukommen, wo wir uns hinsetzen können?“, fragte sie.

„Natürlich nicht.“ Er folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sie vor wenigen Augenblicken noch mit diesem merkwürdigen Mann gesessen hatte.

„Ich bin heute lange spazieren gewesen. Da habe ich erst gemerkt, wie sehr ich aus der Form bin. Es hat mich richtig geschlaucht.“ Sie setzte sich in ihren Lieblingssessel. Der Cop blieb stehen, das konnte sie nachvollziehen. Wenigstens war er so größer. Es machte ihr nicht einmal etwas aus.

„Sie haben gesagt, der Mann hat Ihnen seinen Namen genannt“, brachte er sie wieder zurück zum Thema.

„Ja. Stiles. Frank Stiles. Es ist mir zu dem Zeitpunkt nicht wie ein ausgedachter Name vorgekommen.“

Er schrieb ihn auf.

„Er hatte einen Notizblock, genau wie Ihren. Einen Füller, keinen Bleistift. Hat gesagt, er hätte auf die Gelegenheit gewartet, mich wegen meiner Nominierung zu interviewen, und dass er sechs Stunden durchgefahren ist, damit er seinen Abgabeschluss noch schafft.“

Der Mann nickte. Er wusste von der Nominierung. Seit sie die Leuchtschrift am Kino gesehen hatte, war Morgan klar, dass jeder in der Stadt es mittlerweile wissen musste.

„Was ist dann geschehen?“

Sie atmete durch. „Ich habe ihn hier hereingebracht. Er hat dort gesessen.“ Sie zeigte auf den Stuhl. „Hat mir ein paar Fragen gestellt. Dann hatte ich das Gefühl, er ist gar kein richtiger Reporter.“

„Wirklich. Was hat er gesagt, das Sie zu der Annahme gebracht hat?“

Sie blinzelte. „Ich weiß nicht. Nichts, eigentlich, es war nur so ein Gefühl.“ Sie zuckte mit den Schultern und ging schnell zum nächsten Punkt über. „Ich habe ihn gebeten, zu gehen, und er hat sich geweigert. Er erschien mir irgendwie bedrohlich, also habe ich auf den Alarmknopf an der Sicherheitsanlage gedrückt. Sobald er gemerkt hat, was ich getan habe, ist er weggerannt.“

„Er hat Ihnen also auf keine Weise Schaden zugefügt?“

„Nein.“

„Und er hat nichts mitgenommen?“

„Nein.“

Sandy klappte seinen Notizblock zu. „Ich kann nicht erkennen, dass hier ein Verbrechen verübt wurde.“

Sie legte ihren Kopf zur Seite und starrte ihn an.

„Na ja, nicht sofort zu gehen, wenn man darum gebeten wurde, ist noch kein kriminelles Verhalten.“

Sie seufzte. „Wahrscheinlich nicht. Aber es kommt auch nicht jeden Tag vor, Officer. Ich meine, ich will hier nicht als Zicke rüberkommen, aber ich bin schließlich schon irgendwie berühmt. Ich glaube, er will etwas von mir, und ich glaube, er kommt noch einmal wieder.“

Er sah ihr ins Gesicht. „Besessener Fan? Etwas in die Richtung?“

„Klar. Kann doch sein, oder nicht?“

Das schien besser zu funktionieren als alles, was sie bisher gesagt hatte. Der Officer dachte darüber nach und nickte.

„Warum beschreiben Sie ihn mir nicht erst einmal, Ma’am? Dann können alle ein Auge offen halten.“

Bis ins letzte Detail versuchte sie Frank Stiles zu beschreiben, von seinem vernarbten Gesicht bis zu der Kleidung, die er getragen hatte. Aber sie erwähnte kein einziges Mal, dass er behauptet hatte, für die Regierung zu arbeiten, oder Vampire, oder die Vorwürfe des Plagiats, die der Mann gegen sie erhoben hatte.

Trotzdem sah der Cop immer skeptischer aus, je länger sie ihn beschrieb. „Ich äh … habe mir sein Nummernschild gemerkt, als er weggefahren ist.“

„Haben Sie?“

Sie nickte, zog den Fetzen Papier, auf den sie die Nummer geschrieben hatte, aus der Tasche, und gab sie dem Cop. Er sah sich den Zettel an, dann Morgan. „Kennzeichen aus Maine?“

„Nein. New York.“

„Hmm.“ Er steckte das Papier in seine eigene Tasche. „Kann ich Sie für den Rest der Nacht hier allein lassen, Ma’am?“

Komischerweise kam ihr in den Sinn, dass sie gar nicht allein war. Aber sie war sich nicht einmal sicher, woher der Gedanke gekommen sein mochte, so wenig Sinn ergab er. „Ich komme zurecht. Ich werde die Alarmanlage aktivieren und dieses Mal keinen Fremden mehr reinlassen.“

„Das ist gut. Wir schicken heute Nacht noch ein paar Streifenwagen bei Ihnen vorbei, okay? Wenn irgendwas Merkwürdiges auffällt, kommen die sofort zu Ihnen rein.“

„Merkwürdiges!“ Sie schüttelte kurz mit dem Kopf. „So etwas wie Leichenteile im Vorgarten, eingeschlagene Fenster und Türen und dergleichen?“

Jetzt hatte sie seine Berufsehre verletzt. „Dazu wird es nicht kommen, Ma’am. Mit Ihnen ist ganz sicher alles in Ordnung? Ich könnte Sie in die Stadt fahren, Ihnen irgendwo ein Zimmer besorgen, wenn …“

„Nein. Nein, es geht mir gut. Das ist nur meine verdrehte Art von Humor.“ Er verzog immer noch keine Miene. „Danke, Officer Gray.“ Sie brachte ihn zur Tür und schloss hinter ihm ab, ehe sie die Alarmanlage neu einstellte.

Dann ging sie nach oben, duschte schnell, zog sich ein kühles Nachthemd an und machte es sich mit einem weiteren von Dantes Tagebüchern im Bett bequem.

In dieser Nacht jedoch gelang es ihr nicht, sich darin zu verlieren, nicht einmal in den betörenden Worten ihres Phantomliebhabers. Die Worte des anderen Mannes, des entstellten Mannes, kamen immer und immer wieder zu ihr zurück. Vampire gibt es wirklich … Dante gibt es wirklich, und er wird furchtbar wütend sein, wenn er herausfindet …

Sie seufzte, streifte ihre Decke zurück und vergaß für den Augenblick das wertvolle Buch, das in ihrem Schoß lag. Es fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden, und Staub stieg daraus empor. Es war auf den Rücken gefallen und hatte sich weit geöffnet, und als sie sich liebevoll hinabbeugte, um es aufzuheben, fielen ihr einige Worte von den vergilbten Seiten ins Auge.

Falltür

Unter dem Haus

Sarg

Sie zitterte, als sie das Buch vom Boden aufnahm. Es war der achte Band, ein Teil, den sie noch nicht gelesen hatte. Und als sie die vergilbten Seiten überflog, fuhr ihr ein kalter Schauer über den Körper. Endlich etwas, wovon sie sich selbst überzeugen konnte. Ein Beweis. Wenn sie den Mut hatte.

Morgan klappte das Buch zu und legte es vorsichtig unter ihre Kissen. Dann beschloss sie, wieder nach unten zu gehen. An der Flügeltür zu ihrem Zufluchtsort, dem Raum, der Dantes Arbeitszimmer gewesen war, blieb sie stehen. Sein Lieblingsort und ihrer auch. Sie schluckte verkrampft, ging hinein und auf den Kamin zu. Sie rollte den Orientteppich zurück und legte das Parkett darunter frei.

Es war unversehrt. Ganz. Keine Scharniere, kein Umriss einer Falltür, wo sie im Buch beschrieben war. Aber der Boden war vielleicht im Laufe der Jahre, seit diese Seiten geschrieben worden waren, erneuert worden. Sie erinnerte sich an dieses Gefühl, das sie ergriffen hatte, das Gefühl, Dante ganz in der Nähe zu spüren, wie er sie berührte, in ihrem Geist – wie oft in den letzten Wochen? Oft war sie genau in diesem Raum gewesen.

Entschlossen griff sie sich den eisernen Schürhaken, ging wieder durch das Zimmer, von einer Wand zur anderen, und klopfte dabei den Boden mit dem Schürhaken ab. Klack, klack, klack, klack, klack, klock.

Sie blieb wie versteinert stehen und fragte sich, ob sie den Unterschied wirklich gehört oder ihn sich nur eingebildet hatte. Sie klopfte den Boden noch einmal ab, und wieder veränderte sich das Geräusch dort, wo die Falltür gewesen sein sollte. Als wäre darunter etwas hohl.

Nun gab es kein Zurück mehr. Sie rammte die Spitze des Schürhakens zwischen die Bodenbretter und stemmte sich dann darauf, um sie anzuheben. Die Bretter widerstanden selbstverständlich allen Versuchen. Sie stieß tiefer und fester zu und versuchte es noch einmal. Sie legte sich mit ihrem ganzen Gewicht darauf. Wieder und wieder. Bis sich endlich ein einzelnes Brett löste und in der Mitte zerbrach.

Außer Atem und schweißüberströmt stand Morgan da, lehnte sich auf den Schürhaken und starrte hinab. Unter der Holzdiele befand sich ein weiteres, verrottetes Brett. Nur ein einziger Stoß mit dem Haken genügte, um ein Loch zu schlagen, das ihr Einblick in den dunklen Abgrund unter dem Haus gewährte. Immer noch außer Atem, eilte Morgan zu ihrem Schreibtisch, um sich eine Taschenlampe zu holen. Sie schaltete die Lampe an und leuchtete mit ihrem Strahl hinab durch die Öffnung. Direkt unter ihr befand sich eine alte Wendeltreppe. Sie führte von dem Boden, auf dem sie stand, hinab.

Sie richtete sich wieder auf, und ihr Herz schlug so heftig – sie glaubte, es müsste jeden Augenblick bersten. Sie starrte auf das Loch. „Mein Gott, kann es die Wahrheit sein? Könnte es ihn wirklich geben? Dante?“, flüsterte sie.

Dann griff sie wieder nach dem Schürhaken und hob eine weitere Diele an, dann noch eine. Sie zerschlug die verrottete Falltür – und ja, genau das waren die alten Bretter gewesen. Jetzt war es deutlich – sie konnte die verrosteten Scharniere sehen –, und endlich hatte sie eine Öffnung, die groß genug war, um hindurchzusteigen.

Sie schluckte einmal, nickte entschlossen, nahm den Schürhaken in eine Hand, die Taschenlampe in die andere und senkte sich hinab durch das Loch und auf die Treppe.

Morgan war nicht in ihrem Schlafzimmer, als Dante vom Balkon aus hineinspähte. Er hatte sich doch dagegen entschlossen, einfach an ihre Tür zu klopfen und sie mit den Tatsachen zu konfrontieren. Nach dem Schreck, den ihr der entstellte Mann in der Nacht eingejagt hatte, wäre das vielleicht zu viel gewesen.

Sie arbeitete nicht mit diesem Kerl zusammen. Spielte ihm keine Informationen zu, jedenfalls nicht bewusst. Dante war wütend auf sie, das schon, und wollte sie damit konfrontieren und seine Wut über das, was sie ihm angetan hatte, an ihr auslassen. Genauso sehr wollte er sie aber in ihren Träumen besuchen, wie er es zuvor getan hatte. Er wollte sie in Gedanken verführen, auch wenn es die Hölle für seinen Körper war. Auf eine Art verschaffte es ihm Erleichterung. Er hungerte nach ihr und verzehrte sich nach ihr, auch wenn er sie würgen wollte, bis sie für immer schwieg.

Doch sie lag nicht im Bett und wartete auf seine geisterhafte Berührung oder seine vampirische Wut. Und sie war auch nicht in ihrem Bad und duschte oder badete, sodass er beobachten konnte, wie das Wasser von ihrer Alabasterhaut perlte, oder sie ertränken konnte. Seine Sinne verrieten ihm sogar, dass sie sich weit entfernt von diesem Teil des Hauses befand – und sehr aufgebracht war.

Er dachte an ihre Begegnung mit diesem Stiles, und Sorge begann an seinen Eingeweiden zu nagen. Idiot, der er war, fühlte er, wie jede Zelle seines Körpers sich danach sehnte, zu ihr zu gehen und sie zu beschützen, sie zu retten. Er spürte die Anwesenheit des Mannes nicht mehr. Aber er wusste, dass er Ärger bedeutete. Er war es, der schon seit Monaten auf der Jagd nach Dante und seiner Art war. Es musste der Film gewesen sein, der ihn zu Morgan geführt hatte. Stiles würde sie benutzen, um an ihn heranzukommen.

Irgendetwas Schreckliches stimmte nicht mit Morgan. Dante spürte ein Ziehen in seinen Eingeweiden, das nicht zu ihm gehörte, ein Stocken seines Atems, einen Schauder der Furcht – nein, der reinen Panik.

Keine Zeit für Vorsicht. Er reagierte auf den unwiderstehlichen Instinkt, eilte durch ihr Zimmer in den Flur und folgte der magnetischen Anziehungskraft, die ihr Wesen auf ihn hatte. Er rannte die Treppe hinunter. Die Tür des Arbeitszimmers war dieses Mal offen, und er preschte in den Raum, bereit, sie gegen alles, was ihr gegenüberstehen konnte, zu verteidigen. Sekunden später blieb er wie erstarrt stehen, als er die zerbrochenen Bodendielen neben dem zusammengerollten Teppich sah und das klaffende schwarze Loch dahinter.

Dante wusste nicht, was er tun sollte. Für einen Augenblick stand er wie erstarrt da. Dann hörte er ihren Schrei.