Keith
13. KAPITEL
Eine weiche Hand legte sich auf Morgans Schulter, als sie dort am Strand saß und weinte.
„Warum weinen Sie?“
Es war die Stimme einer Frau, tief und voll und mit einem leichten Akzent. Morgan hob ihren Kopf und wischte mit den Händen über ihre Wangen. Sie konnte die Frau, die neben ihr aufgetaucht war, kaum sehen. Sie war nur ein großer, schlanker, verschwommener Fleck. Dunkles Haar, preiselbeerfarbener Mantel. „Oh Gott, Sie müssen mich ja für den letzten Idioten halten.“
„Nein. Auch mich hat der Film sehr stark berührt. Aber Sie sind ja ganz mitgenommen.“ Sie setzte sich in den Sand neben Morgan.
„Sie … Sie waren auch im Kino?“
„Mmm. Ich habe gesehen, wie Sie weggelaufen sind und geweint haben, und habe mir Sorgen gemacht.“
Endlich hatten Morgans Augen sich weit genug geklärt, um sich die Frau, die neben ihr im Sand saß, ansehen zu können. Ihr weinroter Trenchcoat reichte ihr bis zu den Knöcheln und war ganz zugeknöpft. Sie trug lange schwarze Stiefel, die ihre Waden umschmeichelten. Ihre Hände steckten in Handschuhen aus passendem schwarzem Leder, und ihr Gesicht wurde zum Teil verdeckt von einer Mähne aus schwarzen Locken. Sie trug viel Make-up. Viel mehr, als Morgan normalerweise für angebracht hielt. Und doch wirkte es nicht störend.
Sie starrte hinaus auf die Wellen, nicht in Morgans Augen.
„Was hat Sie dazu gebracht, so aus dem Kinosaal zu stürzen?“
Morgan senkte den Kopf und schüttelte ihn langsam. Die Frau schien nicht zu wissen, wer sie war, und das sollte auch so bleiben. Zum Glück hatte sie weder die Sonnenbrille noch den Schal abgelegt. „Die Geschichte scheint so echt zu sein“, sagte sie leise. „Ich habe sie schon ein Dutzend Mal gesehen.“ In ihrer Fantasie waren es unzählige Male. „Und immer habe ich die gleiche Reaktion, wenn seine Familie ihn auf diese Art verstößt. Ihn ganz alleine in eine Welt der Dunkelheit schickt. Ich nehme an, auf irgendeiner Ebene berührt mich das zutiefst.“
„Mmm. Mich auch. Ich wurde von meiner Familie fast genauso behandelt.“ Jetzt drehte sie sich um und schien durch die Sonnenbrille hindurch direkt in Morgans Augen zu sehen. „Und Sie auch, nehme ich an?“
„Ja.“ Sie sprach, ohne es zu wollen. Als würden die Worte aus ihr herausgesaugt. Diese Frau hatte atemberaubende Augen. Dunkel, vielleicht schwarz, und irgendwie leuchtend. Die Sonne war schon lange untergegangen, und unter dem mit Sternen betupften Himmel schlugen die Wellen sanft gegen den Strand.
„Erzählen Sie es mir“, bat sie jetzt mit weicher, tiefer Stimme. Verlockend.
„Ich … ich habe meinen Eltern nie nahegestanden. Aber erst nachdem sie gestorben waren, habe ich erfahren, dass ich adoptiert bin.“
„Ahhh“, sagte sie beim Einatmen, „Sie Arme. Und dann haben Sie sich gefragt, wer Ihre richtige Familie ist. Ihr eigenes Blut.“ Während sie sprach, streckte sie eine Hand aus und strich behutsam Morgans langes Haar von ihrer Schulter, das sich über ihren Rücken legte. Ihre Augen glitten über Morgans Kinn, berührten ihren Hals, und die Haut dort wärmte sich, als wäre die Berührung echt.
„Ja“, gestand Morgan, „ich habe mich gefragt, wer sie sind. Wie sie wohl waren.“
„Vielleicht fühlen Sie wegen Ihrer eigenen Geschichte so viel Mitgefühl für Dante – den Vampir in dem Film.“
„Oder vielleicht liegt es daran, dass ich in seinem Haus wohne.“
Die Frau zuckte zusammen, ihre Augen weiteten sich, und ihr Blick schnellte wieder auf Morgan. Der Zauber ihrer leisen Stimme war durchbrochen. Sie klang jetzt schärfer. „Was soll das heißen, Kind?“
Was hatte sie sich nur gedacht? Meine Güte, so ein Schnitzer konnte ihre aufkeimende Karriere zerstören. Sie durfte nie, niemals zugeben, dass die Story in ihren Filmen eigentlich die Erfindung eines anderen war – und noch viel weniger, dass sie in dem Haus lebte, das einst ihm gehört hatte. Wenn sie das tat, würde auch der Rest ans Licht kommen. Dass sie seine wahnsinnigen Fantasien abgeschrieben hatte, um ihre eigene Arbeit zu schaffen, die jetzt für die höchste Auszeichnung der Filmindustrie nominiert war. Sie versuchte ein falsches Lächeln und schüttelte missbilligend den Kopf. „Das Haus in einem der Filme hat mich immer an mein eigenes erinnert, das ist alles.“
„Oh.“
Diese merkwürdige Frau glaubte ihr nicht, das merkte Morgan sofort. Sie stand auf, bürstete sich den Sand von der Kleidung und drehte ihr dabei den Rücken zu. „Ich sollte gehen, es wird spät, und …“ Morgan drehte sich wieder um.
Aber da war niemand.
Morgan kniff die Augen zusammen und suchte den Strand erst in die eine, dann in die andere Richtung ab, dann das Wasser und den Weg zur Stadt. Nichts. Niemand.
Hatte sie sich das Gespräch nur eingebildet? Sie presste eine Hand gegen die Stirn und schloss ihre Augen. „Vielleicht muss ich für eine Weile von hier weg. Nur für eine Weile.“ Aber schon, als sie es aussprach, wusste sie, dass es unmöglich war. Sie konnte hier nicht weg. Es war nicht länger nur eine Frage des Wollens. Sobald die Worte ausgesprochen waren, fühlte sie sich krank, und schon beim bloßen Gedanken daran, das alles zu verlassen, stieg Panik in ihr auf. Alles … und ihn.
„Was zum Teufel hast du mit dem Mädchen gemacht, Sarafina?“, verlangte Dante zu wissen, und sein Ton war scharf. Vielleicht zu scharf, denn Sarafinas perfekt geschwungene Augenbrauen hoben sich fragend.
„Dann kennst du sie also. Mmm. Was bedeutet sie dir?“
„Nichts.“ Er fuhr sie an, ohne ihr in die Augen zu schauen, nur für den Fall, dass sie zu viel sah. „Was machst du überhaupt hier? Ich konnte es nicht glauben, als ich im Kino deine Anwesenheit gespürt habe.“
Voller Unschuld zuckte Sarafina die Schultern, auch wenn er nur allzu genau wusste, dass es in ihrem ganzen Körper keinen unschuldigen Knochen gab. Sie schüttelte ihren Kopf und ließ sich ihre wilden Haare vom Wind zerzausen. „Ich bin gekommen, um dich zu sehen. Als ich durch die Stadt gefahren bin, habe ich deine Anwesenheit im Kino gespürt, also bin ich hineingegangen. Stell dir vor, wie überrascht ich war, als sich deine Geschichte auf der Leinwand ausbreitete.“
Er schloss seine Augen, weil er darauf keine Antwort hatte. Es hatte ihn bis ins Mark erschüttert, sein eigenes Leben in diesem Film wiederzuerkennen. Und es fühlte sich viel zu sehr wie Betrug an. Besonders jetzt, wo er die Wahrheit kannte. Es war Morgan. Sie hatte das Drehbuch geschrieben.
Wieder hatte eine Frau, die behauptete, ihn zu lieben, seine Geheimnisse dem Feind überlassen. Jedem. Der Welt.
„Anscheinend hat es das Mädchen genauso aufgewühlt, wer sie auch sein mag. So wie sie aus dem Saal gerannt ist.“ Sarafina ließ ihn nicht aus den Augen. „Ich frage dich noch einmal. Was bedeutet sie dir, Dante?“
„Sie ist eine unschuldige Sterbliche, nicht mehr als das.“ Er verriet ihr nicht, dass er in der Nähe gewesen war und ihr ganzes Gespräch mit Morgan belauscht hatte. Er hatte jeden Moment erwartet, eingreifen zu müssen.
„Oh, sie ist viel mehr als eine einfache Sterbliche, mein Liebling. Viel, viel mehr.“ Sie nahm seine Hand, und gemeinsam gingen sie am Strand entlang, eine Meile entfernt von der Stelle, an der Sarafina mit Morgan gesprochen hatte. „Aber dazu kommen wir noch“, sagte sie. „Warum hast du mich unterbrochen, während ich eine so erleuchtende Konversation mit diesem Hündchen hatte?“
„Damit du ihr nicht die Kehle herausreißt, liebe fürsorgliche Tante. Sie ist im Ort bekannt, man würde sie vermissen.“
Um die Wahrheit zu sagen, war er selbst versucht gewesen, Morgan das Gleiche anzutun – sie zu vernichten. Aber als er die blutdurstige Sarafina bei ihr sah, spürte er einen Stich aus Angst und den untrüglichen Instinkt, sie zu beschützen. Er hatte Sarafina in Gedanken angebrüllt, und sie war so schnell an seine Seite gerannt, dass kein menschliches Auge ihr hatte folgen können.
„Das zeigt nur, wie schlecht ich dich unterrichtet habe, nicht wahr?“, fragte sie. „Und wie sehr du dich all die Jahre isoliert hast. Ich hätte ihr nicht schaden können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Sie ist eine der Auserwählten.“
Dante nickte. „Das habe ich schon selbst herausgefunden. Aber ich gebe zu, ich weiß kaum, was das bedeutet, außer dass sie dasselbe Antigen in sich trägt wie wir und dass sie werden kann, was wir sind.“
Nur selten hatte er Sarafina seufzen hören. „Ich wusste, sie befindet sich im Kino, ehe ich nur einen Herzschlag lang dort war.“ Sie blieb stehen, als sie an einen großen Findling kamen, und setzte sich darauf wie eine Königin, die ihren Thron bestieg. Dante stand dicht bei ihr und beobachtete, wie sie aufs Meer hinausstarrte. Es hatte die schwarzblaue Farbe von nassem Schiefer. „Wir können ihre Anwesenheit spüren. Das weißt du bereits. Wir können ihnen kein Leid zufügen.“
„Nicht?“ Er dachte einen Moment darüber nach. „Ist es nicht eher so, dass wir es meistens nicht wollen. Was glaubst du, würde passieren, wenn wir es dennoch versuchten?“
Irritiert sah sie ihn an. „Hast du einen Grund, ihr Schaden zufügen zu wollen?“
„Ich kenne sie kaum.“ Er senkte seinen Blick, während er sprach.
„Wenn wir es versuchen – nun, ich bin mir nicht sicher, was dann passiert. Die Wahrheit ist, wir fühlen uns eher dazu gezwungen, sie zu beschützen, wenn wir ihnen zufällig begegnen.“
Das erklärte den Drang, sich zwischen seine Tante und die weinende Morgan zu stellen.
„Sie haben eine verkürzte Lebenserwartung, wusstest du das?“
Sein Kopf fuhr hoch. Morgan hatte es ihm erzählt, aber es war ihm so unwahrscheinlich erschienen. „Nein, das wusste ich nicht“, log er deshalb. Er wollte und konnte seine Tante nicht wissen lassen, wie intensiv er und Morgan in ihrem Traum schon kommuniziert hatten.
Sarafina nickte nur. „Mmm. Werden kaum älter als dreißig sterbliche Jahre alt. Sie sieht aus, als ob sie bereits im Verfall begriffen ist.“ Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern.
„Was kann man dagegen tun?“, fragte er und blickte suchend in Sarafinas Gesicht.
„Nichts. Man verwandelt sie oder lässt sie sterben. Es ist eigentlich eine ganz einfache Wahl. Man sagt, es gibt für jeden Vampir einen Auserwählten, mit dem die geistige Bindung stärker ist. Ich habe immer gedacht, das muss blanker Unsinn sein. Verklärte Romantik, nicht mehr als das.“
„Oh, glaubst du? Deine Bindung an mich war also nicht so?“
„Meine Bindung zu dir war damit überhaupt nicht zu vergleichen, Dante. Du warst meine Familie. Mein Neffe. Der Einzige meines Klans, der noch irgendeine Beziehung zu mir hatte. Deshalb habe ich dich geliebt.“ Sie starrte auf das Meer hinaus, und der Wind hob ihr die Locken von den Schultern. „Nein, diese andere Bindung, von der man unter Untoten nur flüstern hört, soll viel intensiver sein. Sie äußert sich als extrem starke psychische Verbindung zwischen den Gedanken. Einige behaupten, der Vampir kann mental mit seinem besonderen Sterblichen kommunizieren und er oder sie auch mit ihm. Außerdem schafft die Bindung ein starkes sexuelles Verlangen zwischen den beiden, das noch stärker wird, wenn sie sich Blut teilen.“
Sie fixierte Dante, der sich schnell abwendete. „Lebt sie in deinem Haus, Dante?“
Es gelang ihm, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen und einen Schutz um seine Gedanken zu errichten. „Ja.“
„Und wo wohnst du dann?“
Er wollte ihr das Innere von Morgans Haus nicht zeigen. Sie würde merken, dass es Morgan war, die seine Geschichten für die Leinwand schrieb – ein Geheimnis, das er sowieso nicht sehr lange würde bewahren können, wenn Sarafina in der Stadt blieb. Aber je länger, desto besser. Er war sich sicher, wenn einer von ihnen den Instinkt, einem der Auserwählten nicht zu schaden, überwinden konnte, war es Sarafina. Und das würde sie, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Sie würde das Mädchen umbringen und sich über die Folgen erst später Gedanken machen.
„In einer Höhle. Nichts, was dir passen würde, Schatz.“
Sie hob eine Augenbraue. „Ungefähr eine Meile von hier ist ein leer stehendes Haus zu mieten. Sollen wir es für unseren Zweck anwerben?“
Sein Nicken war unverbindlich. Er musste daran denken, wie sehr er sich danach verzehrte, Morgan wiederzusehen, und fragte sich, wie zum Henker er Sarafina in der Zwischenzeit loswerden konnte.
„Dann wird das unsere Mission für die Nacht“, sagte sie. „Morgen Abend sehen wir uns den Film noch einmal an. Dieses Mal ganz. Und wir müssen herausfinden, wer unsere Geschichte an die Filmemacher verkauft und wie er an diese Informationen gekommen ist. Ein Bewohner dieses Ortes, wenn man der Leuchtreklame glauben darf. Auch wenn er wahrscheinlich inzwischen in eine glamourösere Stadt umgezogen ist.“
„Er?“, fragte Dante mit einem Stirnrunzeln.
„Morgan … irgendwas. Morgen merke ich mir den ganzen Namen.“ Sie lächelte ihn an. „Aber heute Nacht geht es mir zuerst um das Haus. Es steht recht einsam. Wir können bereits diese Nacht dort verbringen, ohne dass es jemand merken muss.“
„Geh du vor“, flüsterte er. „Kümmere dich um das Haus. Ich schließe mich dir bei Sonnenaufgang an. Ich muss … trinken.“
Sarafina hob erneut eine Augenbraue. „Das Haus wird bereit sein. Es liegt eine Meile nach Norden, die Küstenstraße entlang. Es ist viktorianisch und war früher wunderschön, jetzt aber ist es schrecklich gelb angestrichen, mit einer rosa-grünen Bordüre.“
Dieses Haus kannte er.
„Ehrlich gesagt überrascht es mich, dass du es nicht bereits selbst gemietet hast.“
Warum sollte er. Er hatte in der Nähe der Frau gelebt, die sein Körper so sehr begehrte. Und jetzt wusste er immerhin mit Sicherheit, woher dieses Begehren kam, nur stillte das seinen Hunger noch nicht.
„Ich brauche keine großen Annehmlichkeiten, Fina.“
Sie beugte sich zu ihm, packte mit beiden Händen seinen Kragen, und küsste ihn auf den Mund. „Sei da, ehe die Sonne aufgeht, Liebling, sonst komme ich dich suchen.“
„Werde ich.“
Bis seine feinen Sinne sie nicht mehr in der Nähe erspürten, blieb er regungslos sitzen. Und dann machte er sich auf den Weg zu Morgan. Die Zeit für Spielchen war vorbei. Er brauchte Antworten. Sofort.
Es war vier Uhr morgens, als Lous Handy ertönte und ihn aus etwas, was fast schon ein Nickerchen gewesen sein könnte, hochriss. Er hatte die ganze Nacht in seinem Auto gesessen und Maxines Haus beobachtet. Er nahm an, Lydia hatte dort übernachtet, weil sie nicht herausgekommen war. Und er machte ihr daraus bestimmt keinen Vorwurf. Wahrscheinlich hatte Maxine ihr da drinnen noch mehr Vampirgeschichten erzählt.
„Ja?“
„Malone, wo zum Donnerwetter bist du?“
Lou runzelte die Stirn, als er die vertraute Stimme seines Partners hörte, mit dem er zusammenarbeitete, seit sie noch genug Leute gehabt hatten, um zwei Cops in jeden Wagen zu setzen. „Denny?“
„Die suchen dich überall, Lou. Hör zu, du kommst am besten hierher, und zwar pronto.“
„Aber mein Dienst beginnt erst in …“ Er sah auf seine Uhr.
„Nicht auf die Wache. Zu deiner Wohnung, Lou. Es ist eingebrochen worden, und … es sieht nicht gut aus.“
Er runzelte die Stirn und spürte einen Stich in seiner Brust. Allein Dennys Tonfall sagte ihm, dass er am Telefon nicht mehr erfahren würde, also machte er sich nicht die Mühe, zu fragen. „Ich komme sofort.“
„Wenn, äh, du die Nacht bei jemandem verbracht hast, bringst du die am besten auch mit.“
Lou hielt sein Telefon von sich und starrte es an. Dann legte er es langsam zurück an sein Ohr. „Soll das heißen, ich könnte ein Alibi brauchen, Den?“
„Wäre vielleicht nicht die schlechteste Idee.“
Lou fluchte leise. „Was zum Teufel ist da drüben los?“
Zu spät. Sergeant Dennis Kehoe hatte bereits aufgelegt.
Jemand klopfte an Lous Fensterscheibe und erschreckte ihn fast zu Tode. Es war allerdings bloß Maxine, die ihn angrinste und einen Becher Kaffee in der Hand hielt. Er legte sein Handy hin und kurbelte die Fensterscheibe herunter.
„Wenn du die ganze Nacht damit zubringen willst, mich zu beobachten, könntest du einfach etwas sagen, Lou. Es ist nicht so, als hätte ich etwas dagegen. Allerdings hätten wir beide mehr Spaß, wenn du dabei näher dran wärest.“
Er starrte sie an, während sie ihm den Kaffeebecher in die Hand drückte. „Dann weißt du, dass ich die ganze Zeit hier war, seit ich dich abgesetzt habe?“
Sie schüttelte den Kopf. „Kurz danach warst du für zwanzig Minuten weg. Erinnerst du dich?“
„Mist.“ Er erinnerte sich. Er war zur Wache gefahren, um seinen Freund bei der CIA anzurufen. Verdammt.
„Was ist los, Lou?“
Erst jetzt bemerkte Lou, dass sie immer noch angezogen war. Wenn man es so nennen konnte. Sie hatte nie viel an. Shirts mit dünnen Trägern, die eng anlagen und auf deren Brust irgendwelche schlauen Sprüche standen, oder lockere Seidenblusen, die noch besser aussahen. Wenn es kalt wurde, warf sie sich einfach eine Jacke über. „Wo ist Lydia?“
Ihre Gesichtszüge spannten sich ein wenig an. „Sie schläft fest. Warum?“
„Steig ein, okay? Wir müssen kurz zu meiner Wohnung.“
„Schon gut, schon gut, Lou. In Ordnung.“ Sie ging um den Wagen herum und stieg ein. „Du siehst gar nicht gut aus. Alles okay?“
„Sage ich dir, wenn wir bei mir sind.“
Wie es sich herausstellte, war es nicht okay. Es war überhaupt nicht okay. Er wusste es schon, als er vorfuhr und nicht einmal parken konnte, weil alles voller Polizeiautos war. Gelbes Absperrband vor jedem Eingang, und gerade fuhr ein Krankenwagen davon.
„Was zum Teufel …?“
Lou legte Maxine eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen, stellte den Wagen ab und stieg aus. „Du wartest am besten hier. Ich hole dich, wenn ich dich brauche.“
„Klar.“ Sie öffnete ihre Tür, stieg aus und ging so nahe neben ihm, dass ihre Hüfte und ihr Schenkel mit seinem zu verschmelzen schienen, außerdem schlang sie einen Arm um seinen und hielt ihn fest.
„Malone.“ Captain Howard Dutton, Lous Boss, hob das Absperrband, damit die beiden darunter durchkommen konnten. „Ich muss wissen, wo Sie heute Nacht gewesen sind. Die ganze Nacht.“
„Er war bei mir.“ Maxine spuckte die Worte geradezu aus, ehe Lou auch nur den Mund öffnen konnte. „Wer war in dem Krankenwagen?“
Der Captain blickte sie irritiert an. Lou wusste, er war es nicht gewohnt, von so kleinen Dingern wie Maxine Stuart ausgefragt zu werden. Er starrte Lou an. „Du bist die ganze Nacht bei dieser Frau gewesen?“
„Nein“, gab Lou zu. „Ich habe sie gegen zehn Uhr bei sich zu Hause abgesetzt. Dann bin ich zur Wache gefahren, um etwas auf meinem Schreibtisch zu suchen und wieder zurückgefahren. Alles in allem war ich etwa zwanzig Minuten weg.“
„Hat dich in der Zeit irgendwer gesehen? Kannst du beweisen, dass du nicht hierher, zu deiner Wohnung, zurückgekommen bist?“
Lou fühlte, wie sein Magen sich zusammenzog. „Nein.“
„Doch, kann er, Captain.“ Maxine schon wieder. Beide Männer starrten sie an. Maxine zuckte die Schultern und konzentrierte sich auf Lou. „Okay, ich gebe es zu. Ich dachte, du schleichst dich weg, um eine andere Frau zu treffen …“
„… andere Frau?“ Wovon zum Henker redete sie da?
„… also bin ich dir gefolgt. Ich habe gesehen, wie du in die Wache gegangen bist, und dann habe ich gewartet, bis du wieder herauskommst. Dann bin ich dir zurück zu mir gefolgt.“
„Und Officer Malone hat Sie nicht gesehen, Ma’am?“
„Ich, äh … ich habe hinten geparkt und bin zur Hintertür rein. Er hat nicht einmal gemerkt, dass ich weg war.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Würden Sie uns jetzt bitte endlich sagen, was hier los ist? Wer war in dem Krankenwagen?“
Der Captain seufzte und wendete sich wieder an Lou, womit er Maxine offensichtlich ausschloss. Lou wusste, das würde sie fuchsteufelswild machen. „Wir hatten einen Anruf wegen einem Herumtreiber in deinem Gebäude, Lou. Als wir angekommen sind, stand deine Wohnungstür offen, alles war durchwühlt, und auf dem Boden lag eine Frau. Man hatte ihr aus nächster Nähe in den Kopf geschossen. Neben ihr auf dem Boden lag eine Zweiundzwanziger, keine Fingerabdrücke.“ Er drehte sich um. „Denny, wo ist die Waffe?“
„Hier, Sir.“ Dennis hielt den Plastikbeutel mit dem Beweismaterial hoch, während er zu ihnen eilte.
Lou sah sie an und hätte sich fast übergeben, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Das ist meine. Ich bewahre sie im Wandschrank auf.“
„Das dachte ich mir bereits“, sagte Captain Dutton. Er drehte sich um und führte sie die Treppe hinauf auf die Wohnung zu. „Du musst dich umsehen und sagen, ob irgendetwas fehlt.“
Lou nickte. Er ging direkt hinter dem Captain, Maxine immer noch dicht neben ihm. „Was ist mit der Frau?“, fragte Lou. „Ist sie tot?“
„Sie tun das Übliche“, antwortete Dutton, ohne sich umzudrehen. „Wird wahrscheinlich nicht durchkommen. Hat hier etwa fünf oder sechs Stunden gelegen. Wir haben keinen Herumtreiber gefunden, aber eine Nachbarin will etwas, das ein Schuss gewesen sein könnte, gehört haben. Gegen zehn Uhr. Sie dachte, es wäre eine Fehlzündung, und hat nicht weiter darauf geachtet. Auf dem Ausweis in der Tasche des Opfers stand Jones. Tempest Jones. Hast du sie gekannt?“
Maxine blieb stehen. Lou drehte sich zu ihr um, noch während er versuchte, den Namen zu verarbeiten, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Als er Maxines Gesicht sah, das vollkommen weiß geworden war, vergaß er alles andere. Ihr Mund stand offen und bewegte sich lautlos, und der Griff um seinen Oberarm wurde fest wie eine Schraubzwinge. Große grüne Augen starrten ihn an und wurden feucht. „Stormy“, flüsterte sie.
Mist. Maxines beste Freundin. Maxine war verdammt nahe daran, rückwärts die Treppe hinunterzukippen, als ihre Knie nachgaben. Ihre Hand auf seinem Arm wurde schlaff, und sie wäre in sich zusammengesackt, wenn er nicht schnell nach ihr gefasst und sie an sich gezogen hätte. In Zeiten wie diesen war das wahrscheinlich erlaubt. Der Captain drehte sich um. „Dann hast du das Opfer tatsächlich gekannt?“
„Sie ist eine Freundin“, erklärte Lou. Maxine hatte ihre Arme um seine Hüfte geschlungen und ihr Gesicht in sein Hemd gepresst. Er fühlte Feuchtigkeit, aber sie weinte nur leise. „Captain, können Sie die Wohnung absichern und einen Mann hier abstellen? Ich muss Max ins Krankenhaus bringen.“
Der Captain verzog das Gesicht, nickte aber. „Ja, klar, in Ordnung, aber eins noch, Lou. Wie gut hast du dieses Mädchen gekannt? Tempest Jones?“
Er schüttelte den Kopf. „Gut genug, um manchmal Donuts und Kaffee mit ihr zu teilen. Nicht gut genug, um ihren richtigen Namen gleich zu erkennen. Reicht dir das?“
Der Captain seufzte und nickte mit dem Kopf. „Geht schon.“
„Danke.“ Lou schob Maxine zur Seite, und es gelang ihm, sie die Treppe hinunter und am Absperrband vorbei zu seinem Auto zu manövrieren. Jemand öffnete ihm die Beifahrertür, und er sah kurz auf und nickte Denny dankend zu.
Sein Kollege sah besorgt aus und auch etwas überrascht. Natürlich sah er überrascht aus. Es musste für ihn, für jeden hier, so aussehen, als wären er und Mad Maxine so was wie ein Paar. Als könnte es jemals so weit kommen.
Er half ihr auf den Beifahrersitz, aber sie hielt sich immer noch an ihm fest. „Kleines, du musst jetzt loslassen, okay? Nur für eine Minute, damit ich uns ins Krankenhaus fahren kann. Hmm?“
Sie schniefte und nickte gegen seine Brust, dennoch dauerte es unendlich lange Sekunden, ehe sie ihren Griff um seinen Hals lockerte. Er legte ihr den Gurt an und schloss die Tür. Sobald er hinter dem Lenkrad saß, schmiegte sie sich wieder an ihn. Kopf auf seine Schulter, Hände fest um seinen Arm. Machte es etwas schwer, zu fahren, aber das war schon okay für ihn.
„Was ist, verdammt noch mal, passiert?“, fragte sie Lou, während er fuhr. „Warum ist Stormy zu deiner Wohnung gegangen?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es verdammt noch mal nicht, Max.“ Dann senkte er den Kopf. Ihm gefiel nicht, was er dachte. Aber all das war passiert, nachdem er seinen alten Freund bei der CIA angerufen hatte. Und Stormy Jones war eine der Personen, die dieser Affe anscheinend auf seiner Liste stehen hatte.
Es durfte einfach keinen Zusammenhang geben. Verdammt noch mal, das konnte nicht sein.