Keith
11. KAPITEL
Bis in den späten Nachmittag schlief sie tief und fest. Aber als Morgan endlich erwachte, tat sie es mit einem Ruck. Ihre Augen öffneten sich weit, und sie setzte sich mit einem Keuchen auf, als hätte sie etwas aus ihrem Schlaf geschreckt.
Da war nichts. Sie blinzelte und drückte die Hand gegen ihre Stirn, um dem Schwindel entgegenzuwirken, der sie immer überkam, wenn sie sich zu schnell aufsetzte oder aufstand oder die Treppe hinaufrannte oder nach tausend anderen Dingen.
Allerdings wurde ihr heute nicht schwindelig. Und während sie so dasaß, bemerkte sie allmählich, wie sie sich fühlte. Sie fühlte sich … besser. Fast gut. Mit einem Stirnrunzeln schlug sie ihre Decke zur Seite und stand auf. Sie überprüfte ihr Gleichgewicht und wartete darauf, dass die Schwäche sie überkam. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wie sie letzte Nacht zu Bett gegangen war. Im Grunde erinnerte sie sich nur noch an das Bad, und dann … dann an den Traum.
Sie schloss langsam ihre Augen und ließ ihren Atem durch die Lippen entweichen. Dante. Er war wieder im Traum zu ihr gekommen. Der süße Schmerz, den die Erinnerung mit sich brachte, war kaum zu ertragen. Trotzdem versuchte sie, sich an alle Details zu erinnern. Doch nichts wollte ihr deutlich einfallen. Nur die Erinnerung an seine Stimme, die sie mit ihrer tiefen Samtigkeit getröstet hatte. Seine Hand, die sich auf ihrem Gesicht kühl anfühlte. Seine Nähe. Alles war so wirklich gewesen.
Oh, und sein Geschmack!
Davon hatte sie wirklich geträumt?
Sie verlor den Verstand, so viel war klar. Hatte sich vollkommen verloren im Leben eines Mannes, der gar nicht existierte. Sie lebte seine Geschichten am Tag und träumte von ihm in der Nacht. Mein Gott, sie war eine berühmte Drehbuchautorin. Und doch war es ihr egal. Ihr war alles egal außer ihm, einem Mann, der nicht existierte – der nicht existieren konnte!
Etwas zwang sie dazu, die breiten Türen zu prüfen, die auf den Balkon hinausführten, ehe sie etwas anderes tat. Sie waren verschlossen. Von innen. Natürlich waren sie das. Was hatte sie denn erwartet? Mit einem Seufzen drehte sie sich um und ging ins Badezimmer.
Sie blieb im Türrahmen stehen und starrte die Badewanne an, die immer noch voll Wasser war. „Das ist ja merkwürdig.“ Mehr als merkwürdig, warnte sie eine Stimme in ihrem Kopf. Es sah ihr absolut nicht ähnlich, das Wasser in der Wanne zu lassen. Sie war mit diesem Haus sehr pingelig, und zwar seit sie seinen früheren Besitzer kennengelernt hatte. Für sie war das Haus Dantes Gedenkstein. Sein Andenken. Sein Zeichen. Sie ehrte es.
Wahrscheinlich bloß ein weiterer Schritt auf ihrem Weg zum Nervenzusammenbruch. Und was um Himmels willen hatte sie sich dabei gedacht, den ganzen Tag zu schlafen? Andererseits, beschweren konnte sie sich nicht. So gut, wie sie sich gerade fühlte, konnte sie die verlorene Zeit gut in der Nacht aufholen.
Sie ging zurück in ihr Schlafzimmer und beschloss, das Haus für eine Weile zu verlassen. Sie wollte nach draußen, an die klare Frühlingsluft, vielleicht einen Spaziergang machen, am Meer entlang bis in das malerische Örtchen eine Meile entfernt. Das würde ihr guttun. Außerdem konnte sie sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal dazu in der Lage gefühlt hatte, am Strand entlangzuspazieren.
Sie duschte schnell, zog ein Paar Jeans und einen bequemen Pullover an, weiße Socken und leichte Tennisschuhe. Ihr Haar rubbelte sie nur mit einem Handtuch trocken und ließ es offen. Dann nahm sie eine Handtasche, die sie selten benutzte, und nur für alle Fälle auch eine Jacke.
Als Morgan die breite Treppe hinabging, erfüllte sie eine ungeahnte Vorfreude, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Es war nicht klug, so schnell zu gehen, bald würde sie außer Atem kommen, ermahnte sie sich selbst. Doch nichts dergleichen passierte. Ihr Herz schlug nicht einmal schneller.
Vielleicht ging es ihr langsam besser. Vielleicht tat ihr die Seeluft gut, oder die Nahrungsergänzungsmittel, die sie einnahm, zeigten langsam Wirkung. Vielleicht …
Sie ging eilig durch das Haus, durch die Hintertür hinaus und über den breiten grünen Rasen auf die Klippen zu. Einen Augenblick lang stand sie einfach da und blickte zum Horizont. Ein riesiger lodernder Feuerball, der sich langsam in der kühlen Umarmung der See selbst löschte. Sie hatte die Sonne schon seit Jahren nicht mehr im Pazifik untergehen sehen. Aber heute würde sie dabei zusehen, wie sich die Dunkelheit langsam über dem Wasser ausbreitete und seine Farbe veränderte, während die Sonne weit, weit hinter ihr unterging.
Sie überlegte sich Worte, die einen solchen Anblick am besten beschreiben könnten. Wie das Wasser sich veränderte, schien es immer einen Ton dunkler als der Himmel zu bleiben. Der strahlend blaue Himmel wurde erst violett, dann indigo und schließlich mitternachtsblau. Das türkise Meer wurde erst lila, dann ebenholzschwarz.
Der Wind wehte immer stärker, je weiter die Sonne unterging. Salzig und immer kühler drängte er Morgan neckend vorwärts und forderte sie heraus, sich gegen ihn aufzulehnen. Sie stand eine lange Zeit einfach da und sah dabei zu, wie die ersten Sterne am dunkler werdenden Nachthimmel auffunkelten. Sie seufzte anerkennend und atmete die Nachtluft tief ein. Sie schmeckte gut. Noch war sie nicht bereit, wieder ins Haus zu gehen. Sie drehte sich um und wanderte den Pfad am Rand der Klippen hinab, dort, wo er sich in einem flachen Winkel dem Ufer näherte. Als sie den Strand erreicht hatte, folgte sie der steinigen, sandigen Küste nach Süden, zur Stadt.
Easton war klein. Malerisch, aber nicht genug, um zu einer Touristenfalle zu werden – noch nicht, wenigstens. Morgan wendete sich vom Strand ab und ging nördlich von der Innenstadt die Hauptstraße hinauf. Sie schlenderte auf dem Gehweg entlang und sah sich die Schaufenster der Läden an, die fast alle schon geschlossen waren.
Sie bemerkte eine Menschenmenge, und als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass sie vor dem Kino anstanden, unter einer kleinen beleuchteten Reklametafel. Das Kino war wirklich klein, nur zwei Leinwände, ein paar Hundert Sitze. Kein Surround-Sound, keine Großbildleinwand. Bis der Film begann, war der Saal geschlossen und wurde erst eine halbe Stunde vor Filmbeginn geöffnet, keine Minute früher.
Als sie einen Blick auf die Anzeigetafel warf, musste Morgan lächeln. Ihr neuester Film wurde gezeigt, und unter dem Titel rollte in bunten Lichtern immer wieder eine Nachricht: „Nominierung Bestes Drehbuch für Eastons Morgan De Silva! Sehen Sie den Film noch heute!“
Glücklich sah sie sich um. Es schien fast, als wäre sie hier in der Stadt eine Art Berühmtheit. Komisch, dass noch niemand beim Haus gewesen war, um sie zu belästigen. Natürlich hielt sie sich auch sehr bedeckt und ging kaum aus, hatte ihre Telefonnummer nicht eintragen lassen und jede Menge elektronische Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Vielleicht wussten die Leute hier draußen auch nur die Privatsphäre des anderen zu schätzen?
Es musste noch mehr sein. Und wenn sie ehrlich zu sich war, wusste sie auch, woran es lag. Vielleicht war es aber auch albern von ihr, anzunehmen, die Leute mieden ihr Haus immer noch, weil es nichts von der dunklen Energie früherer Tage verloren hatte.
Noch immer trug sie ihre Jacke über dem Arm. Jetzt zog sie sie an, setzte die leichte Kapuze auf und versteckte ihre langen Haare darunter. Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Etui ihrer Designersonnenbrille und setzte auch die auf. Dann stellte sie sich hinten in die Reihe.
Plötzlich lief ihr ein Schauer über den Rücken, wie ein kalter Atem in ihrem Nacken, und sie drehte sich schnell um. Aber hinter ihr stand niemand. Allerdings stand jemand auf dem Gehweg, einige Meter entfernt, in der Richtung, aus der sie gekommen war. Ein Mann. Er stand im Schatten, ganz am Ende des Häuserblocks, an der Ecke. Und genau in dem Moment, als sie in seine Richtung sah, glitt er um die Ecke und außer Sichtweite.
Sein Gang … sein Umriss war nichts als eine dunkle Gestalt in der Nacht gewesen. Und doch hatte sie fast geglaubt … Nein. Sie ließ schon wieder ihre Fantasie mit sich durchgehen.
„Miss?“
Sie drehte sich um und merkte, dass sie an der Reihe war, an den Schalter zu treten. „Entschuldigung. Einmal bitte, für Twilight Hunger.“ Sie schob einen Zehner über den Tresen und wartete auf ihr Wechselgeld, das als brandneuer Fünfer zusammen mit ihrem Ticket kam. Weil sie, seit sie hergekommen war, so selten ausging, überraschten die niedrigen Eintrittspreise sie immer noch. Sie schob den Fünfer in ihre Jeanstasche und behielt das Ticket auf dem Weg ins Kino in der Hand.
Sie nahm sich einen der hinteren Sitze und saß ruhig da, während die Vorschauen begannen.
Morgan hatte angenommen, sie wäre die Letzte gewesen, aber ein paar Minuten nach den Vorschauen öffneten sich die Türen noch einmal, und ein weiterer Besucher kam herein. Wieder lief ihr dieser Schauer über den Rücken, und Morgan drehte sich nach ihm um.
Er war bereits auf dem Weg zur anderen Seite des Raumes, aber er nahm ebenso wie sie einen Platz in der hinteren Reihe ein. Er trug einen langen Mantel und hatte den Kragen hochgeschlagen, und auch er trug eine Sonnenbrille, die sein Gesicht verdeckte.
Es war albern von ihr, an Dante zu denken, als sie den Fremden erblickte. Er war nur eine weitere einsame Seele, die gerne unerkannt bleiben wollte. Dante existierte nicht. Der Dante aus den Tagebüchern, der ihren Verstand heimsuchte, hatte niemals existiert. Es gab nur einen leicht gestörten Mann mit einer wilden Fantasie und einer großen sprachlichen Begabung. Der Dante, dessen Leben sich gleich auf der Leinwand entfalten würde, war nur ein fiktiver Charakter. Eine Ausgeburt der Fantasie seines Erschaffers, vielleicht noch von Morgans eigener Fantasie angereichert. Aber er war nicht echt. Und sie musste das endlich in ihren Kopf bekommen. Er war nicht echt.
Nur weil sie diese lebhaften intensiven Träume von ihm hatte …
Und nur weil sie sich in jener Nacht diese Wunden an ihrem Hals eingebildet hatte …
Sie waren da! unterbrach sie ihr Verstand. Ich habe in den Badezimmerspiegel gesehen, und sie waren da!
Aber am Morgen spurlos verschwunden, ermahnte sie sich selbst. Und so lebhaft, wie ihre Träume in letzter Zeit gewesen waren, wie konnte sie sich da so sicher sein, dass diese Wunden nicht auch ein Teil davon gewesen waren?
„Dante ist nicht echt“, flüsterte sie sich selbst zu, „und er sitzt ganz bestimmt nicht hier in diesem dunklen Kino und beobachtet mich dabei, wie ich mir diesen Film ansehe.“
Und warum sank sie dann immer weiter in ihren Sitz, während ihre Geschichte sich vor dem Publikum ausbreitete – und als die Worte auf der Leinwand allen verkündeten, dass sie selbst, Morgan De Silva, sie erfunden hatte?