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ER BEOBACHTETE SIE, als sie in dem schwachen Lichtstrahl stand, der aus dem Eingang des Old Penny Palace drang. Sie stand da, zog sich den Kragen des glänzenden weißen Regenmantels fester um den Hals und überlegte. Durch den Schleier des Nieselregens, der vor ein paar Minuten eingesetzt hatte, wirkte das Gesicht blaß und verschwommen. Vielleicht wollte sie sich unterstellen. Sie ging hinein.

Außer dem Pub weiter hinten war in den Vergnügungsarkaden unter den Bögen der King’s Road zwischen den beiden Piers schon alles geschlossen. Kein Mensch war zu sehen. Vom West Pier her hörte man einen Hund bellen, den vielleicht die Nähe des Wassers erregte. Aber er sah niemanden und nichts. Ein wenig Helligkeit spendeten nur die Natriumdampflampen an der King’s Road und das matte gelbe Licht, das aus dem Penny Palace drang.

Wenn man von ihr einmal absah, wirkte das Museum wie ausgestorben. Jemand mußte es neu hergerichtet haben, denn auf dem Tresen stand ein Eimer mit marineblauer Farbe und einem quer darüberliegenden Pinsel. Der Besitzer, oder wer auch immer hier gestrichen hatte, war verschwunden, vielleicht auf einen Drink ins Pub unter den Bögen. Niemand war da außer ihnen beiden, nichts außer der hölzernen Figur, die man den Lachenden Matrosen nannte und die in ihrem Käfig aus Holz und Glas dastand und neben dem Eingang die Kunden begrüßte, falls sie einen Penny hatten, um ihn zum Lachen zu bringen.

Als sie das Haus am Madeira Drive verließ, folgte er ihr, wie schon zweimal zuvor. Damals war es allerdings hell am Tag gewesen, und sie hatte ihn in die andere Richtung geführt, fort vom Hafendamm und aufs Stadtzentrum und die ziegelgepflasterten Gassen der Lanes zu, einem Labyrinth enger Straßen, das einem Spinnennetz glich.

Es war schwierig gewesen, ihr Haus zu beobachten. Es gab keinen Zeitungskiosk, keine Läden oder Restaurants, in die er rasch hätte schlüpfen können wie in Exeter. Also hatte er sie aus mehreren günstigen Blickwinkeln von der King’s Road und der Kaimauer aus beobachtet, hatte sich gegen das Geländer gelehnt und so getan, als läse er eine Zeitung oder blicke aufs Meer hinaus. Und das Observieren – zu dem er sich überhaupt nicht geeignet fühlte – mußte immer wieder unterbrochen werden, um zum Essen oder auf die Toilette zu gehen, ein ständiges Kommen und Gehen.

Er hatte schon erwogen, zum Haus hinauf zu gehen, wenn die andere ausgegangen war. Die Schwester. Sie sahen sich ähnlich genug, um Schwestern zu sein. Älter, ein bißchen größer, aber ohne diese unwiderstehliche Ausstrahlung, die die jüngere so populär machte. Merkwürdig genug, daß ausgerechnet er eine aus dem Fernsehen bekannte Persönlichkeit wiedererkannt hatte. Diese Nachrichtensendung mit ihrem aufgemotzten kleinen Wetterbericht war das einzige, was er sich ansah. Sonst hätte er sie nie gefunden. Aber ob es nun ihr Gesicht oder der weiße Regenmantel war, den sie immer trug, wußte er nicht. Als er ihr folgte, sah er, wie sich die Männer beim Vorbeigehen nach ihr umdrehten; sich umdrehten und ihr hinterherstarrten.

Er ging näher heran. Es gab einen Wechselschalter, wo man die großen Pennies bekam, die man für die Automaten benötigte. Er beobachtete, wie sie sich durch das Dickicht der Automaten schlängelte und dann stehenblieb, um sich den Kranich in seinem verzierten Glasgehäuse anzusehen. Sie mußte ein paar Pennies von einem früheren Besuch dabeigehabt haben, oder sie hatte vielleicht ein paar vom Tresen geklaut, denn sie griff in ihre Tasche, und einen Augenblick später sah er, wie sich der Kranich bewegte. Nach einer Weile ging sie weiter, umrundete noch ein paar Automaten, wobei sie manchmal die Hände seitlich ans Gesicht preßte und durch die Glasscheibe spähte. An der gegenüberliegenden Wand stand ein mechanisches Klavier. Sie betrachtete es eine Weile eingehend, steckte dann eine Münze hinein, und bald erfüllten die blechernen, brüchigen Töne der Musik die Nacht.

Er trat rasch in den Schatten der Markise des Nachbargebäudes, das eine Spielhalle und eine Kaffeebar beherbergte, als er jemanden die Promenade entlangkommen und jetzt sogar laufen sah. Wahrscheinlich der Besitzer oder wer auch immer die Automaten unbeaufsichtigt gelassen hatte. Er hörte Stimmen, kurzes Gelächter. Sicher konnte man ihr nur schwer böse sein. Sie war einfach zu hübsch. Und wahrscheinlich litt der da drinnen sowieso an Langeweile oder Einsamkeit.

Er lauschte den ratternden, brüchig klingenden Tönen des Pianos und erinnerte sich an den Text. «… trade it for a basket of sunshine and flowers.»

«Pennies from Heaven» hieß das Lied. Wohin waren der Sonnenschein und die Blumen verschwunden? Er blickte hinauf in den lackschwarzen, sternenübersäten Nachthimmel und dachte, wie sehr diese Nacht doch jener anderen vor langer Zeit ähnelte. Dunkelheit, Sterne, Musik …

Er hörte, wie sie sich verabschiedete. Auf dem Weg nach draußen mußte sie – oder vielleicht der Maler – eine Münze in den hölzernen Matrosen geworfen haben. Ein kurzes, gutturales, eselhaftes Lachen ertönte, das gleichzeitig mit der Musik jäh verstummte.

Und wenige Augenblicke später trat sie heraus. Stand da und blickte zum schwarzen Himmel auf, als überlege sie sich, wie lange es noch dauern würde, bis es sich richtig einregnete, schlug den Kragen ihres weißen Regenmantels hoch und spazierte in die Dunkelheit in Richtung der Stufen, die zur King’s Road hinaufführten.

Er ging am Lachenden Matrosen vorbei, dessen hölzerner Kiefer eingerastet und dessen Mund zu einem Dauergrinsen hochgeklappt war.

 

 

 

KATE SANDYS WEINTE. Jury wußte, sie konnte nichts dafür, sie versuchte sich verzweifelt zu besinnen, wo Dolly am ehesten hingegangen sein könnte. Macalvie hatte sie davon überzeugt, daß sie vielleicht keine Zeit mehr haben würden, an zwei Plätzen nachzusehen.

Sie trocknete sich die Augen und blickte hinab auf das kleine Foto von David Marr. Es war entsetzlich. Sie hatte ihm tatsächlich ein Zimmer vermieten wollen.

 

«Es wird schon wieder gut, Kate.» Er beugte sich vor und nahm ihre Hand. «Versuchen Sie, sich zu entspannen.»

«Ich habe sie … immer beneidet, hab immer gesagt, daß sie zu verwöhnt ist. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Aber ich hätte sie ernster nehmen sollen.»

«Toll», sagte Macalvie, der immer noch stand. «Das ist toll, aber so finden wir sie nicht.» Er ließ das Fotoalbum, das er sich angesehen hatte, zuklappen. «Die Brightoner Polizei ist inzwischen an allen Stellen, die Sie bisher genannt haben – aber das heißt nicht, daß sie an einem dieser Orte wirklich ist.» Er hielt das Album in die Höhe und runzelte die Stirn. «Haben Sie das hier liegenlassen?»

Kate trocknete sich die Augen und blickte auf. «Nein. Das muß Dolly gewesen sein.»

«Sie hat sich offensichtlich ihre Kinderbilder angesehen, die meisten stammen vom Pier und den Süßigkeitenständen und so weiter an der Strandpromenade. Geht sie da immer noch hin?»

«Die King’s Road-Arkaden. Dolly liebt die Arkaden über alles.»

«Kommen Sie, Jury.» Macalvie steuerte zur Tür.

Jury legte das Album in Kate Sandys’ Schoß und fragte sich, warum er glaubte, daß das ein Trost für sie sei. Doch sie umklammerte das Album und starrte vor sich hin, als seien diese Erinnerungen etwas völlig Reales.

Dann griff er nach dem Bild von David Marr und steckte es ein. Er schüttelte den Kopf. David war nicht hier gewesen, er hatte es nicht gesehen. Und er dachte daran, wie recht Plant damit gehabt hatte, daß sie im Kopf des Mörders alle zur treulosen Porphyria verschwommen waren. Wieder betrachtete er das Foto von David Marr in seiner Hand. Aber es war wohl nicht das erste Mal, daß er sich getäuscht hatte. Und es würde weiß Gott nicht das letzte Mal sein.

 

 

 

SCHLIESSLICH STIEG SIE DOCH nicht die Treppe zur King’s Road hinauf. Statt dessen verließ sie den gepflasterten Gehweg und betrat den Kiesstrand. Sie hielt einen Augenblick inne und blickte aufs Meer hinaus. Dabei hielt sie schützend die Hand über die Augen, als sei es hellichter Tag und als könnte man da draußen wirklich etwas sehen; als hielte sie nach dem glänzenden, ruckenden Kopf eines Badenden Ausschau. Sie hob einen Kieselstein auf, schleuderte ihn fort und wanderte weiter den Strand entlang. Der weiße Regenmantel leuchtete in der Nacht, ein langer gelber Schal wehte flatternd hinter ihr her.

 

Er hatte schon früher immer eine Schußwaffe dabeigehabt und trug sie auch jetzt. Zu dieser Jahreszeit konnte man bei einer Frau jedoch sicher sein, daß sie einen Schal trug, und sie hatte ihren an wie die anderen vor ihr und ließ die Enden über den Rücken baumeln.

Sie ging so langsam, daß es ihr offensichtlich ganz normal erschien, als er sie einholte. Denn als er sie ansprach, wandte sie bloß den Kopf, sah ihn an und strich sich das Haar zurück.

Er sagte, es tue ihm leid, falls es so ausgesehen habe, als ob er ihr folge, und daß sie einer Frau, die er einmal gekannt habe, sehr ähnlich sähe.

Und er fragte sich, ob er ihr wohl auch bekannt vorkäme. Er konnte nicht glauben, daß sich sein Gesicht nicht in ihr Gedächtnis gegraben, ja eingebrannt hatte, so wie angeblich jedes Opfer die Handschrift seines Mörders zeigt.

Und doch sah sie ihn mehrere Augenblicke lang fast blind an. Ein seltsamer Ausdruck lag in ihren blauen Augen, etwas Zustimmendes – vielleicht hätte er sogar sagen können, Verschwörerisches. Sie hatte den Schal gelöst und abgenommen. Er war ebenfalls weiß und hing jetzt aus ihrer Manteltasche heraus. Es war also kein gelber Schal hinter ihr hergeflattert, sondern ihr Haar. Wie konnte er das bloß verwechseln?

Sie sagte, daß viele Leute sie verwechselten. Sie habe Ähnlichkeit mit der Frau im Fernsehen, die den Wetterbericht moderiere.

Nichts in ihrem Verhalten verriet, daß sie ihn wiedererkannte. Ihre Stimme klang flach und ausdruckslos.

Ob sie denn in Brighton lebe? Und ob es ihr hier gefalle?

Schon ihr ganzes Leben lang, sagte sie. In letzter Zeit habe sie zwar in London gewohnt, doch sie werde wohl wieder nach Brighton zurückgehen. Dann blickte sie aufs Meer hinaus und sagte, sie erinnere sich ans Meer, wie es in ihrer Jugend gewesen sei.

In ihrer Jugend. Selbstverständlich mußte sie gemeint haben, in ihrer Kindheit, aber trotzdem war es komisch, daß sie so etwas sagte, als habe sie ihre Jugend verloren, als habe sich die Jugend verflüchtigt wie die faltigen Wellen, die von der Küste zurückrollten.

Sie blickte zu ihm auf: Dolly Sandys. An die erinnere sie die Leute.

Rose, sagte er. An die erinnern Sie mich. Sie schien es nicht besonders merkwürdig zu finden, daß er Rose gesagt hatte.

Dann schwieg er. Irgendwie lief das falsch. Phoebe, an Phoebe dachte er doch jetzt, etwa nicht? Phoebe mit ihrem Flachshaar, das auf der Straße ausgebreitet lag.

Seine Hand faßte nach ihrem Haar. Sie wich zurück. Als er den Kopf zur Seite wandte, sah er die Scheinwerfer, die Blaulichter, die die King’s Road herangeschwirrt kamen. Eine vom Wind verzerrte Stimme rief nach ihm.

Jemand schrie. Und dann riß sie sich aus seinen Armen los und begann zu laufen. Gebrüll, brennende Taschenlampen kreisten wie kleine Monde, Leute drängten sich die Treppe herunter.

Ehe er die Waffe hob, hatte er noch Zeit, an die Ironie der Situation zu denken. Daß er ihr doch gar nichts hatte tun wollen. Sie hatte ja nicht einmal gewußt, wer er war.

Wieder ertönte die Stimme, die ihn gerufen hatte: «Ned!»

Er fühlte die Waffe schwer in seiner Hand. Komisch, daß er David nicht böse gewesen war. Aber er hätte ihm nicht sagen sollen, daß er hierher fuhr. Er hätte wissen müssen, daß David ihm folgen würde.

Ned hörte die Explosion, fühlte nichts, sah nur ein schreckliches weißes Leuchten – Sterne, die wie Meteore niederprasselten, einen Mond, der wie ein Spiegel zerbrach, einen Regenmantel, der den Strand hinunterflog.