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WIGGINS VERSUCHTE SEIN GLÜCK beim Liebestest. Die Glühlämpchen-Anzeige schien ihn nicht zufriedenzustellen. Die Birne neben dem Wort «Verliebt» wollte einfach nicht aufleuchten. Jury ließ den Kraftmesser und das Gerät Was der Butler sah links liegen und blieb vor einem Automaten mit der Bezeichnung Geisterstunde auf dem Kirchhof stehen.
Er steckte seinen Chip hinein und sah zu, wie winzige weiße Figuren in die Höhe schossen. Ein Skelett glitt aus einem sich öffnenden Grab, ein weißer Flecken – ein Gespenst – erhob sich hinter einem Grabstein, ein weiteres Gespenst lugte aus einem Loch heraus. Eine Gestalt in weitem Umhang flatterte in der Miniaturkolonie der Toten herum, bis sie schließlich im Wald verschwand. Jurys Gedanken schweiften ab, während die Erde ihre Skelette, die Steine und Bäume ihre Geister zurückverlangten. Tolle Schlitten und tolle Männer … und alle liebten Phoebe sehr … Alles brach auseinander … «Wohin bist du gegangen, Elizabeth Vere?»
«Einen Augenblick bitte, Sir», sagte Wiggins und starrte wie gebannt auf den Bildschirm von Was der Butler sah.
Jury klatschte mit der Hand auf den Bildschirm. «Sie werden auf die unanständigen Szenen leider verzichten müssen, Wiggins.» Er schrieb etwas in sein Notizbuch, riß die Seite heraus und reichte sie Wiggins.
«Überprüfen Sie, ob Plant wegen des Fotos, das er nach Exeter mitnahm, im Hauptquartier angerufen hat …»
«Aber wir haben doch schon …»
«Ich weiß, ich weiß. Und suchen Sie Miles Wells.»
Wiggins runzelte die Stirn. «Der Kerl, der Phoebe Winslow angefahren hat? Und was genau soll ich ihn fragen?»
«Ob die Frau im Wagen Sheila Broome war. Und warum er mehrere Straßen weiterfuhr und dann wieder zurückkam.»
«Niemand hat je erwähnt, daß eine Frau im Wagen saß, Sir.»
«Aber ich habe es eben getan, Wiggins.»
«SHEILA BROOME?» SAGTE MACALVIE und nahm die Füße vom Schreibtisch des Brightoner Polizeireviers. «Wieso zum Teufel? Selbst wenn es Rache war, was ist mit dem Fahrer?»
«Das ist es ja. Ich glaube, sie war der Fahrer. Sie ist mal wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen worden, Macalvie. Hätte er es nicht auf seine Kappe genommen, wäre sie ins Gefängnis gewandert. Um das jedoch zu bewerkstelligen, mußten sie die Sitze tauschen. Anhalten und die Plätze wechseln. Ich glaube nicht, daß es bei ihm nur darum ging, sich als Gentleman zu erweisen. Er rechnete wohl damit, daß es auch ihm an den Kragen ginge. Besser, wegen eines unvermeidlichen Unfalls vorbestraft sein, als dafür, daß man seine betrunkene Begleiterin ohne Führerschein fahren und dann noch jemanden überfahren läßt. Die Frage, die sich mir dabei aufdrängte, war: Warum rannte die kleine Phoebe auf die Straße hinaus?»
«Und wie haben Sie sich die beantwortet?»
«Hugh Winslow hat sie mir beantwortet. Sie war wütend und verstört; und verstört hat sie der Anblick ihres Daddy, der mit einer Frau im Bett lag, die mit Gewißheit nicht ihre Mami war – Ivy Childess.»
Macalvie fixierte lange und eindringlich die Spitzen seiner schiefgelaufenen Schuhe, die er soeben wieder auf die Tischplatte plaziert hatte. Dann sagte er: «Also hätte jeder in dieser Familie nicht nur Hugh, sondern auch Ivy dafür verantwortlich gemacht. Und jeder von ihnen hätte das Mädchen umbringen können, nicht wahr? Genau wie Sheila Broome.»
«Natürlich. Es ist gewissermaßen so eine Art Querschläger: Ihn bringen sie nicht um – schließlich gehört er zur Familie –, sie töten das Mädchen.»
«Vielleicht hat Hugh es sogar selber getan.»
«Richtig.»
«Sie wollen damit aber nicht andeuten, daß es Mord im Brighton-Expreß oder so was war? Daß sie alle beteiligt waren?»
«Nein. Nur einer von ihnen. Und ich glaube auch nicht, daß das schon das ganze Motiv ist.» Jury betrachtete das Foto der Queen, das an der mattockerfarbenen Wand hing. «Ich glaube, das Motiv könnte ziemlich verwirrend sein. Hat wohl nicht nur mit Phoebes Tod, sondern auch mit Rose Winslow zu tun. ‹Verrat an Freunden und Wohltätern›, so haben Sie doch gesagt.»
Macalvie seufzte. «Ich wünschte, ich wüßte, was ich damit gemeint habe.»
Jury lehnte sich zurück und steckte die Hände in die Taschen. «Sie haben die Winslows nicht kennengelernt. Sie haben nicht gesehen, was für eine Familie das ist. Sie sind miteinander verschweißt wie die Figuren auf einem Porträt. Ich glaube nicht, daß ihnen selber das bewußt ist. Bezweifle, daß sich die Winslows darüber im klaren sind, wie ihre Strafaktion sich auswirkte. Hugh wurde ja schließlich nicht rausgeschmissen. Sie haben einfach den Kontakt abgebrochen. Haben ihn nicht kaltgemacht, sondern kaltgestellt. Und einen von ihnen verraten, heißt alle verraten. David Marr hat das mit Sicherheit gewußt.»
«Marr?»
«Ich bin überzeugt, daß er eine Affäre mit Rose Winslow hatte. Rose kommt mir vor wie eine etwas gehobenere Ausgabe von Ivy Childess: egoistisch, unzuverlässig, habgierig. Hatte aber genug Feuer und Flamme, um die Motten anzulocken und mehr als ein Flügelpaar zu versengen. Unter anderem das von David Marr. Er hat eine ganze Kollektion von Zeugs in seinem Zimmer – Fotos, Karten. Eine davon aus Las Vegas. Er selber war nie in den Staaten, und nach Aussage mehrerer Leute wollte Rose da immer hin. Keiner von den Winslows, nicht ein einziger, hat je wieder was von ihr gehört. Warum also hätte David Marr von ihr hören sollen, und warum hält er es geheim?»
«Weil es bei der Familie nicht so gut angekommen wäre. Und Ivy Childess hat es herausgekriegt. Ja, und jetzt hat Marr kein Alibi und ein großartiges Motiv», sagte Macalvie.
«Ein Hauch von Erpressung – oh, aber nicht wegen dieser Vorauszahlung. Ivy wollte die Zeit, in der sie im Starrdust die Sterne abstaubte, ja nicht unnötig verlängern. Sie wollte die Ehe. Und zwar mit irgendeinem aus der Familie Winslow-Marr. Sie hätte David fallenlassen und Hugh genommen, Hugh fallenlassen, um David zu nehmen. Mit Sicherheit hat sie es auch bei Ned probiert.»
«Sprechen Sie jetzt von Eifersucht?»
Jury hob die Augenbrauen. «Bei denen? Oh, nein. Wenn David Neds Mädchen oder Hugh Davids Mädchen in einem fairen Kampf für sich gewonnen hätte – dann hätte sich der andere immer als Gentleman gezeigt und sich zurückgezogen. Es geht nicht um Eifersucht, sondern um Verrat. Verrat ist wahrscheinlich die Todsünde schlechthin bei den Winslows.» Jury steckte seine Zigaretten ein: «Plant ist nach Exeter gefahren. Er wollte die Kellnerin aus dem Little Chef einen Blick auf ein Foto werfen lassen.»
«Sie hat es schon gesehen. Gibt’s da was Neues?»
Macalvie schien gar nicht überrascht zu sein. Wenn das Rad stillstand, mußte er es eben wieder in Bewegung setzen.
Jury lächelte. «Sie hatten recht hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen den Morden, Macalvie.»
«Da bin ich aber erleichtert. Eine Zeitlang ist mir schon die Lust vergangen.»
«Warum zum Teufel hätte der Mörder so lange warten sollen? Phoebe Winslow starb fast ein Jahr vor Sheila Broome.»
«Damit es nicht aussieht, als gäbe es da einen Zusammenhang. Aber das ist bloß die Meinung eines geplagten Durchschnittskriminalbeamten.»
«Wenn es etwas gibt, was Sie nicht sind, dann ‹durchschnitt›.» Und dann fiel Jury ein, daß er gar nicht gewußt hatte, daß Macalvie sich in Brighton aufgehalten hatte. Aber es überraschte ihn auch nicht gerade. Der geplagte Durchschnittskriminalbeamte würde auch eine Flutwelle verfolgen, wenn sie etwas Verdächtiges ins Meer hinaustrug. «Weswegen sind Sie eigentlich hier, Macalvie?»
Ein Constable steckte den Kopf durch die Tür, um Jury auszurichten, daß vor einer Stunde jemand angerufen und eine Nachricht hinterlassen habe, die er Jury jetzt überreichte. «Er nannte sich Plant, Sir. Mr. Melrose Plant. Er würde jetzt aus Exeter wegfahren, sich aber später noch mal melden. Ich hab es mir extra aufgeschrieben, Sir, weil es ein bißchen merkwürdig klang.» Der Wachtmeister runzelte die Stirn über die allzu merkwürdige Botschaft und verzog sich wieder.
«Waren sie nicht alle Porphyria?» las Jury die Notiz vor, und Macalvie seufzte: «Muß er seine Botschaft denn unbedingt verschlüsseln?»
«Offensichtlich meint er, daß sie alle große Ähnlichkeit miteinander hatten – hatten sie ja auch: dieses lange blonde Haar. Der Egoismus, die Gier.» Jury runzelte die Stirn, als er sich an die Fotos im Salon des Winslowschen Hauses erinnerte. «Und was das Haar angeht … ähnelte ihnen auch Phoebe Winslow.»
Macalvie zog einen Zeitungsausschnitt aus seiner Brieftasche. «Meine kleine Neuigkeit kommt geradewegs aus dem Borkenschokoladenland.» Er faltete einen Papierstreifen auseinander und reichte ihn Jury. «Wir sollten das wohl besser verbreiten lassen. In Brighton wandert eine Person herum, die sich in beträchtlicher Gefahr befindet.»
«Wer denn?»
Macalvie drehte den Zeitungsausschnitt zu Jury hin. Er stammte aus dem Unterhaltungsteil. «Die Regendame.»
Jury musterte das hübsche Mädchen auf dem Bild, das herzförmige Gesicht und die langen blonden Haare. «Sie haben sie also gefunden. Hat Jimmy Rees es Ihnen noch erzählt?»
«Nein, verdammt noch mal. Der ist noch genauso verstockt wie früher, und die Borkenschokolade kommt ihm schon aus den Ohren. Die Glotze hat mich drauf gebracht, Jury. Ich war in Ihrem Büro und habe Wiggins’ Apparat eingeschaltet, um die Nachrichten zu sehen. Ich dachte, vielleicht kann mir irgend so ein Fleet-Street-Reporter erzählen, wer Sheila und Ivy umgebracht hat. Die Zehn-Uhr-zwanzig-Nachrichten hätten normalerweise mit dieser hübschen Dame geendet, die in einem weißen Regenmantel und Regenschirm herumläuft. Um zehn Uhr zwanzig regnet’s bekanntlich immer. Sie ist die Wetterfrau. Sie heißt Dolly Sandys und hat das Wetter sozusagen gleich mitgenommen. Ganz plötzlich bekam sie nämlich das Gefühl, sie brauche Urlaub. Dolly Sandys lebt hier in Brighton.» Macalvie zuckte die Achseln unter seinem Mantel. «Und ich denke, wir sollten sie besser finden, ehe sie für immer auf Urlaub geht.»