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«BRIGHTON IST FÜR SEINE wunderbar klare Luft bekannt», sagte Jury und blickte über das bleifarbene Wasser zum Horizont, der sich im Nebel verlor.

Mit zusammengekniffenen, wegen der Gischt fast geschlossenen Augen warf Wiggins seinen langen Schal noch einmal um den Hals und blickte drein, als hätte er nicht das geringste dafür übrig.

Jury schnippte seine Zigarette weg und atmete tief durch.

«Es ist nicht gesund, Sir.»

«Das Atmen?»

«Die Seeluft», sagte Wiggins und fügte belehrend hinzu: «Egal was die Leute meinen, jeder Arzt wird Ihnen sagen, daß sie nicht gesund ist.» Dann zog er seine Fisherman’s Friends heraus, einen Standardartikel seiner tragbaren Apotheke seit jenen feuchtkalten Tagen in Dorset. Er hielt Jury die Tüte hin. «Die helfen, wenn man einen schlimmen Hals hat.»

«Hab ich aber nicht, Wiggins.»

«Kriegen Sie aber», sagte der Sergeant fast fröhlich. Er schob Jury eine Pastille in die Hand.

Wiggins hätte auch eine Schockbehandlung in Kauf genommen, dachte sich Jury, um einer Erkältung vorzubeugen. Die Floskel «Der Sieg des Geistes über die Materie» kam in Wiggins’ Wortschatz nicht vor. «Da drüben ist Paul Swann, das heißt, ich nehme es zumindest an.» Jury deutete über das Geländer zum Kiesstrand hinunter. «Da unten beim Palace Pier.»

Die Putzfrau hatte Jury erzählt, daß Mr. Swann nicht zu Hause sei; er sei zum Strand hinuntergegangen, zum Palace Pier. Gestern sei er am Royal Pavilion gewesen. «Hat den östlichen Säulengang gemacht. Letzte Woche hat er schon den Haupteingang gemacht. Er macht alles, wissen Sie, auch innen», fügte sie hinzu, als verlege Swann Fußböden.

 

Paul Swann saß auf einem Klappstuhl und sah den Strand hinab Richtung West Pier. Skizzenbuch und Farben lagen zu seinen Füßen, ein Aquarell stand vor ihm auf der Staffelei. Er war ein Mann undefinierbaren Alters mit hagerem Gesicht und wasserblauen Augen. Nachdem Jury sich vorgestellt hatte, schlug Swann vor, sich auf eine nahe Bank zu setzen, von der aus er sein Bild im Auge behalten könne. Ein Gespräch an der frischen Luft, so klar sie auch sein mochte, brachte Wiggins nur zum Husten.

Paul Swann sagte mitfühlend: «Sie sind doch nicht krank, Mr. Wiggins?»

«Noch nicht, danke der Nachfrage.» Wiggins verkroch sich in seinen Mantel.

Nachdem sie sich auf die Bank gesetzt hatten, erwiderte Swann auf Jurys Frage nach David Marr: «Ich sehe David eigentlich nicht sehr oft und befürchte daher, daß ich Ihnen nicht viel helfen kann, Superintendent. Obwohl er ein sehr netter Kerl ist», fügte er eilig und nachdrücklich hinzu, als sei er besorgt, seine mangelnde Vertrautheit mit Marr könne so ausgelegt werden, als wolle er ihn der Polizei ausliefern.

«Mr. Swann, Sie waren doch am besagten Abend im Running Footman?»

«Stimmt. Ich habe auch schon darüber nachgedacht und versucht, mich genau zu erinnern, wann er gegangen ist, was Ivy gemacht hat und an andere Einzelheiten.» Er schüttelte den Kopf. «Aber ich war nicht mehr ganz nüchtern und habe nicht besonders darauf geachtet. Ich glaube, sie hat ihren Mantel geholt und ist gegangen, als sie dazu aufgefordert wurde.»

«Hat sie nichts zu Ihnen gesagt?»

«Nein, nichts.»

Wiggins war gerade lange genug aus seinem zitternden Kokon aufgetaucht, um zu fragen: «Wie gut kannten Sie diese Ivy Childess, Mr. Swann?» Wie eine Schildkröte zog er den Hals wieder zurück in den Schal, um der Antwort zu lauschen.

«Im Haus in Knightsbridge fand mal eine Cocktailparty statt. Ich ging mit David hin, der die Childess im Schlepptau hatte.» Er hielt inne und blickte zum Himmel hinauf. «Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.» Swann lief über den Kiesstrand, um seine Staffelei und die Palette zu holen. «Hoffentlich stört es Sie nicht. Ich muß nur noch ein paar Striche machen, ehe das Licht weg ist.» Er sprach weiter und sagte ihnen, was er von Ivy Childess hielt. «Was David in diesem kleinen Fratz sah, ist mir völlig schleierhaft. Ich weiß, daß er weder dumm noch sexbesessen ist – oh, sie war natürlich recht drall und nicht ohne –, und mit all den wilden Saufereien und so weiter hat er den anderen doch nur Sand in die Augen gestreut.» Als wolle er ein wenig von diesem Sand wegschnipsen, wischte er rasch mit dem in blassestes Gelb getunkten Pinsel über das Bild vom West Pier.

«Warum sollte er das denn tun, Mr. Swann?»

«Weiß nicht. Wir alle haben etwas zu verbergen, Superintendent. Unter anderem die Person, die wir in Wirklichkeit sind.»

Jury lächelte. «Vor Ihnen läßt sich das allerdings schwer verbergen. Ich habe Ihr Porträt der Winslows gesehen.»

Swann blickte von seinem Bild auf und lächelte. «Das ist ein großes Kompliment, würde ich sagen. Na ja, ich bin eben ein sehr guter Porträtist, male allerdings auch nur bestimmte Leute. Wenn ich jeden Auftrag annehmen würde, wäre ich ein reicher Mann. Aber die meisten Angebote lehne ich ab. Ich empfinde die meisten Menschen als viel zu oberflächlich und affektiert und narzißtisch, als daß ich mich mit ihnen abgeben will.»

«Die Winslows aber nicht?»

Er lächelte. «Nein, die Winslows ganz bestimmt nicht.» Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte so gespannt auf sein Aquarell, als erwarte er, daß sich das Pier in Bewegung setzen und sich der Nebel verziehen würde. «Es war das einzige Mal, daß ich Hugh Winslow begegnet bin, auf dieser Party in Knightsbridge. Er fällt doch irgendwie aus der Reihe, nicht wahr?»

Jury sah ihn an. «Aus der Reihe?»

«Trägt nicht diesen Winslow-Stempel. Ich wollte Hugh auf dem Porträt haben. Dachte, er würde es abrunden. Aber als ich ihn dann kennenlernte oder vielmehr beobachtete, wie er mit den anderen umging – vor allem mit Marion und Edward –, merkte ich, daß es einfach nicht geht. Diese interessante Beziehung, die zwischen ihnen besteht, Mr. Jury. Vielleicht ist sie Ihnen aufgefallen …?»

«Absolut.»

Swann beugte sich – fast so, als überarbeite er das Winslow-Porträt noch einmal – nach vorn und trug eine dünne, blaßgelbe Lasurschicht auf. «Das wär’s, denke ich. Wenn die drei allein zusammen sind jedenfalls, sind sie mehr als die Summe ihrer Teile. Sie sind ein Gemälde, Mr. Jury. Das reine Gemälde. Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht auf praktischere Art behilflich sein kann – wann David in den Running Footman kam, wann er wieder ging et cetera, aber ich weiß es einfach nicht. Was Ivy Childess betrifft, so habe ich sie nur an diesem einen Abend gesehen und auch da nicht lange. Ich blieb nur ungefähr eine halbe Stunde. Ich hasse Cocktailparties. Nehme lieber einen Schluck im Shepherd Tavern. Ich hoffe, es wird nicht zu schlimm für David. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, daß er das Mädchen umgebracht hat.» Er zuckte die Achseln und wirkte wirklich bekümmert, weil er weder Jury noch David Marr helfen konnte.

«Es gibt da noch ein Gemälde, Mr. Swann, ein Porträt, das doch wahrscheinlich auch Sie gemalt haben.»

«Ja, Rose und Phoebe. Rose Winslow hat Edward sitzenlassen. Stellen Sie sich das mal vor», fügte er hinzu und schüttelte den Kopf.

Das klang, als ob ein solches Benehmen von einem von ihnen bei den anderen zum völligen Abbruch der Beziehungen führen würde. Jury dachte an Hugh Winslow. «Haben Sie mal was von einem anderen Mann gehört, der Rose Winslow vielleicht verführt haben könnte?»

Paul Swann starrte ihn an, dann lachte er. «Rose verführen? Du lieber Gott, eher nähme ich an, daß es sich andersherum verhalten würde. Armer Ned.»

«Hat David Marr sie je erwähnt?»

«Ja. Er mochte sie nicht. Schließlich war sie auch nicht besonders liebenswürdig, wissen Sie.»

Mit etwas gedämpfter Stimme sagte Wiggins: «Schon komisch, daß sie unter diesen Umständen ihr Bild nicht abhängen.»

«Das ist wegen Phoebe», sagte Swann. «Es ist wirklich alles, was ihnen von Phoebe geblieben ist.»

Jury blickte auf das Aquarell, das seltsam milchige Licht des Nebels, das den Pier umgab und das er festgehalten hatte. «Hat Marr vor Ihnen je eine Frau namens Sheila Broome erwähnt?»

«Broome? Nein, nie.»

«War auch nur eine vage Vermutung, Mr. Swann. Vielen Dank.»

Wiggins hatte das Aquarell eingehend betrachtet: «Wissen Sie, das ist richtig gut. Dieses Gelb, das Sie gerade aufgetragen haben. Verändert die Sache tatsächlich völlig. Macht alles irgendwie schwebend.»

«Ah, ganz genau, Mr. Wiggins. Danke. Sie haben ein hervorragendes Auge. Greifen Sie auch selber zu Pinsel und Farbe?»

«Ein wenig», sagte Wiggins, ohne zu zögern. «Als Sonntagsmaler, gewissermaßen.»

Jury blickte hinaus aufs Meer. Wann immer Wiggins mit Kunst, Literatur oder Musik konfrontiert wurde, tauchte eine ganz neue Person aus dem Nebel auf und nahm vor Jurys Augen Gestalt an. Zumindest begann Wiggins jetzt, wo Swann sich wie ein Kollege mit ihm unterhielt, sich den labyrinthischen Schal vom Hals zu wickeln.

Und Paul Swann in die Elitetruppe jener aufzunehmen, die Wiggins gern vor dem sicheren Tod errettet hätte. «Möchten Sie eine, Mr. Swann?»

Paul Swann dankte und hielt die bernsteinfarbene, rautenförmige Pastille in das nachlassende Licht. «Wahrhaftig eine bemerkenswerte Farbe.»

«Das habe ich auch immer gefunden, Mr. Swann», sagte er unschuldig und hielt ebenfalls eine Pastille hoch.

Jury scharrte in den zerbrochenen Muschelschalen zu seinen Füßen und bedauerte, daß sein unkünstlerisches Auge nichts als beigen Strand und graues Wasser wahrnahm. Die Unterhaltung hatte sich inzwischen auf die Literatur verlagert.

«Manchmal frage ich mich, ob Coleridges Traum von Kublai Khan wohl durch Georg IV. und seine Pläne für den Pavillon inspiriert waren. Die Renovierungsarbeiten waren ja bereits ein Jahrzehnt im Gange, als er den ‹Kublai Khan› schrieb.» Paul Swann lächelte. «‹Wie blitzt sein Aug! Wie fließt sein Haar!› Können Sie sich ein besseres Vorbild für ihn vorstellen als den Prinzregenten, der ‹Honigtau gespeist› und ‹Milch vom Paradies› getrunken hat?»

«So habe ich das eigentlich noch nie betrachtet», sagte Wiggins.

Jury schüttelte den Kopf. Falls er das überhaupt schon jemals betrachtet hatte, war Jury das neu.

«Und Mrs. Fitzherbert, die einzige Frau, die Georg nach eigenem Bekunden je geliebt hat, wäre doch auch das ideale Vorbild für die arme Frau, die ‹wehklagend ihres Geisterfreunds gedenkt›.» Paul Swann seufzte und räumte seine Farben, Skizzen und Pinsel zusammen. «Die Liebe, die Liebe, hmmm. Wahrscheinlich habe ich gar nicht die Voraussetzungen zu einem richtigen Künstler, da ich ja den Sturm einer herzzerreißenden Leidenschaft nie kennengelernt habe. Aber als ich, ehrlich gesagt, all das Elend sah, das sie so mit sich bringt, dachte ich mir einfach: Laß lieber die Finger davon.» Er grinste. «Ich vermute, Verbrechen aus Leidenschaft bewahren Sie vor der Arbeitslosigkeit. Glauben Sie, daß es sich hier um eines handelt, bei diesem Fall?»

Jury sagte traurig. «An Leidenschaft fehlt es hier sicher nicht, Mr. Swann.»

 

 

 

SWANN VERLISS  SIE, und sie spazierten die Promenade hinunter, kamen am Pub und etwas, das nach Umkleidekabinen aussah, vorbei sowie an einer Spielhalle, vor der man für Leute, die Kaffee oder Säfte trinken wollten, Stühle und Tische aufgestellt hatte.

Nebenan klatschte ein Bursche Farbe auf die Fassade eines kleinen Museums mit alten Automaten, das sich Old Penny Palace nannte. Er legte seinen Pinsel beiseite und ging hinein. Wiggins studierte die Plakate, auf denen einige der ausgestellten Spielgeräte beschrieben wurden, und sagte: «Sehen Sie sich das mal an.» Er deutete auf ein Gerät, mit dem man seine Kraft messen konnte. «So was hab ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen. Gut für den Kreislauf.» Er hob den Arm und versuchte, die Muskeln anzuspannen. «Und da drüben, da kann man sich wahrsagen lassen. Eine von diesen Kabinen, wo man den Hörer abnimmt und eine Stimme einem die Zukunft vorhersagt.»

«Eine Stimme aus dem Jenseits, Wiggins?»

«Ich weiß, es ist nur ein Tonband, das immer wieder abläuft. Trotzdem würde ich’s gerne mal ausprobieren. Haben wir nicht einen Augenblick Zeit, was meinen Sie?»

Während Wiggins sich mit dem jungen Burschen hinter der Theke unterhielt, wartete Jury neben dem Lachenden Matrosen. Er trug eine marineblaue Uniform, und über seinen traurigen gemalten Augen saß eine weiße Mütze.

«Er sagt, sie haben noch nicht offen, er richtet es noch für die Eröffnung her», sagte Wiggins.

«Und wo haben Sie die her?» Jury hielt einen Chip in die Höhe.

Wiggins zählte seine Chips und runzelte die Stirn. «Na ja, ich hab ihm eben meinen Dienstausweis gezeigt–»

«Wiggins!»

«Nichts für ungut, Sir. Probieren Sie doch mal ein paar von den Automaten. Das lenkt Sie ein bißchen ab.»

«Ich gehe nach nebenan, Kaffee trinken.» Er sah sich das Poster neben der Tür an, das einige der Ausstellungsstücke des Museums auflistete. «Ich frage mich allerdings, was der Butler gesehen hat.»

 

Er saß mit seinem Styroporbecher und einer Tüte Erdnüsse am Tisch. Mit den Erdnüssen legte er einen Kreis und ordnete den Speichen des Rades die verschiedenen Sternzeichen zu – Widder, Zwilling, Schütze. Jury blickte auf die Erdnußplaneten und fragte sich wehmütig, ob er vielleicht einiger vager Auskünfte wegen auf Andrew Starrs Angebot, Marrs Horoskop zu stellen, zurückkommen sollte.

Über sich selber verärgert warf er die Erdnüsse in den Aschenbecher. Mord stand nicht in den Sternen. Er fand auf der Erde statt, hier in seiner Umgebung. Und er hätte es durchaus begrüßt, wenn einer von jenen, mit denen er sich bisher unterhalten hatte, seiner Vorstellung von einem richtigen Bösewicht entsprochen hätte. In das dünne und schlichte Gewebe, das David Marr und Ivy Childess bisher umhüllte, hatten sich jetzt ein paar exotischere Fäden gemischt, die das Muster des Teppichs aber wohl eher schlechter als deutlicher erkennen ließen. Und dann war da noch die beunruhigende Gewißheit, daß Macalvie recht hatte und die Aufdeckung des Mordes an Ivy Childess von der Lösung des Mordfalls Sheila Broome abhing.

Er starrte hinaus in die Dunkelheit, die sich über dem Atlantik zusammenzog, und machte sich Gedanken über Sheila Broome. Vielleicht führte ihn ja die Geographie in die Irre –, daß er sie mit Exeter in Zusammenhang brachte, obwohl sie schließlich einen Gutteil ihrer Zeit in London verbracht hatte. Sie sah gut aus, war genau der Typ, auf den Hugh Winslow stand. Und wenn sie wie Ivy Childess gedroht hatte, es Marion Winslow zu erzählen …

Jury stützte den Kopf in die Hände. Ivy Childess, hatte Hugh Winslow gesagt, kam jedem auf die Schliche. Jury dachte an die Pinnwand in Davids Wohnzimmer. Und wenn sie etwas über David Marr in Erfahrung gebracht hatte? Was hatte Macalvie gesagt, was noch schlimmer sei als Mord? Verrat von Freunden und Wohltätern.

Er hatte ein Gefühl, als fehle ihm etwas, zum Beispiel eine Hintergrundmusik, um einen Teil seines Verstands zu beruhigen, damit ein anderer Teil funktionieren konnte. Jury trank, ohne etwas zu schmecken, seinen kalten Kaffee aus und machte sich auf den Rückweg zum Old Penny Palace.

Durch die zunehmende Dämmerung sah er hinunter zum Strand und zum West Pier, das im Nebel zu schweben schien.

Da glitt herein Porphyria …