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FIONA CLINGMORE SASS an ihrem Schreibtisch, hatte den Spiegel an ein Wörterbuch gelehnt und benutzte ihren Eyeliner mit einem feierlichen Ernst, als ob sie den Schleier nehmen wolle. Die rechte Hand, die den schlanken Zylinder des Lippenstifts hielt, wurde von der linken gestützt, und die andächtige Pose verstärkte noch diesen Eindruck. Die Pose und das schwarze Kopftuch, das ihre schweren blonden Locken zurückhielt, bedeuteten Fionas größtmögliche Annäherung an ein Nonnenkloster.

Wächter über ihr kleines Arsenal von kosmetischen Produkten war der Kater Cyril, der anscheinend nie müde wurde, diese tägliche Metamorphose zu verfolgen, als erwarte er, daß sich einmal ein Schmetterling aus diesem schwarzen Kokon erhöbe.

Cyril verstand Jurys Eintreten als Signal und glitt vom Schreibtisch. Der Kater wußte inzwischen, daß dies den Zutritt zu Racers Büro ankündigte – heiliger Boden, für Katzen streng verboten.

«Hallo, Fiona», sagte Jury.

Als sie merkte, daß Jury dastand und lächelte, warf sie das Kosmetiktuch, mit dem sie sich die Lippen abgetupft hatte, in den Papierkorb. Dann zerrte sie sich rasch das schwarze Viereck vom Kopf, und ihre adretten blonden Locken schnellten darunter hervor. Ebenso flink fegte sie die Kosmetika in die schwarze Tiefe ihrer Handtasche. Gelockt und gelackt wandte sie sich Jury zu.

«Sie sind früh dran. Möchten Sie einen Tee?»

«Gerne. Haben Sie schon diese Akte von der Gerichtsmedizin bekommen?»

«Mmm.» Mit dem Wasserkessel in der einen und einer angeschlagenen Tasse in der anderen Hand wies sie mit einem Kopfnicken auf ihren Schreibtisch. Sie schwenkte den Teebeutel und reichte Jury die Tasse.

«Und was hat er vor?» fragte Jury, seit langem an Besprechungen mit seinem Vorgesetzten gewöhnt, nach denen er sich zwar älter, aber dennoch kein bißchen weiser fühlte.

«Woher soll ich das wissen?» Dies hieß keineswegs, daß sie Jurys Frage achselzuckend abtat, sondern vielmehr, daß ihr Vorgesetzter selten etwas vorhatte, was sie oder Jury sonderlich interessierte. Sie inspizierte einen Fingernagel und griff sich dann ihre Nagelschere. Fiona nahm sich jeder Unvollkommenheit rasch und kurzerhand an. Sie erinnerte Jury an einen Aquarellisten, der auf plötzliche Veränderungen in Licht und Schatten sofort reagiert und eingreifen muß, ehe die Farbe trocknet.

«Ich warte drinnen.» Jury nahm seine Tasse und die Akte und trat, von Kater Cyril begleitet, ins Büro seines Chefs, das Fiona offensichtlich gerade wieder «lüftete»; denn das Fenster hinter dem Schreibtisch stand ein paar Zentimeter weit offen. Mit seinen selbstgerollten Zigarren und selbstgestrickten Vorträgen schaffte es Racer stets, allen überschüssigen Sauerstoff zu verbrauchen. Cyril sprang auf den Fenstersims und kauerte sich nieder, damit er nach den fallenden Schneeflocken schnappen konnte.

Jury ließ seinen Blick desinteressiert durchs Büro schweifen. Abgesehen von einem kleinen Berg von Weihnachtsgeschenken, der sich auf der Kunstledercouch erhob, hatte sich nichts verändert. Jury zog eine frische Schachtel Player’s aus der Tasche. Cyril, dem es gelungen war, sich durch den Spalt zu quetschen und auf die äußere Fensterbank zu gelangen, hatte die gewagte Akrobatik nun satt, machte einen Rückzieher und setzte zu einem perfekten Kopfsprung auf den Fußboden an. Sein Spiel mit dem Tod wurde Jahr für Jahr verwegener. Als die äußere Bürotür aufging, spitzte er die Ohren, schlich über den Teppich und ließ sich unter knisternden Geräuschen hinter der Geschenkepyramide auf der Couch nieder.

Chief Superintendent A. E. Racer bedachte Fiona Clingmore mit seinen üblichen spitzen Bemerkungen, ehe er hereintrat und einen mißtrauischen Blick auf den Geschenkehaufen warf, als ob Jury in seiner Abwesenheit vielleicht eines geklaut haben könnte.

«Frohe Weihnachten», sagte Jury liebenswürdig, während Racer mehrere Aktendeckel auf seinen Tisch legte und sich hinsetzte.

«Nicht für mich», sagte er und wies auf die zu bearbeitenden Akten, die er eben hereingeschleppt hatte. Die Arbeit, wußte Jury, mußten dann andere machen. «Wie kommen Sie im Fall Childess voran?» Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr Racer fort: «Könnten Sie nicht wenigstens der Presse das Maul stopfen?»

«Kann das überhaupt jemand? Ich habe keinerlei Kommentar abgegeben.»

«Bei diesem Käseblatt brauchen Sie das auch nicht.» Er hielt Jury ein Revolverblatt unter die Nase und las dann vor: «‹Mit dem eigenen Schal erdrosselt.› Zum Teufel. Jeder Londoner Schurke – Vergewaltiger, Räuber – hat jetzt eine hübsche, saubere Gebrauchsanweisung.»

«Na ja, vielleicht ist es ja auch eine Warnung für die Frauen, ihre Schals nicht über die Schulter zu werfen.»

«Bißchen spät dafür, was?»

Als hätte Jury es versäumt, die Warnung auszugeben, als hätte er die Zeitungen verständigt.

Racer verschränkte die Arme, die in so etwas wie Kaschmir vom Maßschneider steckten, und beugte sich zu Jury vor. «Was Sie angeht, Jury …»

Es war ein Ritual, genauso wie Cyrils Erstürmung der Zinnen. Was Sie angeht …

«… glauben Sie, daß Sie sich diesmal mit polizeilicher Unterstützung begnügen können? Statt Ihre Freunde als Hilfspolizisten anzuheuern?» Für Racer war Melrose Plants Rolle in der Hampshire-Sache immer noch eine brandaktuelle Geschichte, auf der sich herumreiten ließ. «Ist Ihnen eigentlich klar, daß ich mir deswegen vom Polizeichef immer noch herbe Kritik anhören muß?»

«Er hat mir das Leben gerettet.»

Da er hierin nichts entdeckte, das eine Antwort verdiente, ging Racer dazu über, die Gewässer von Jurys Karriere zu erkunden, wobei er so weit wie möglich im Seichten verharrte. Das Thema Karriere war vermutlich bei Racers Zusammenkunft mit dem stellvertretenden Commissioner zur Sprache gekommen und würde immer wieder hochkommen, so wie jetzt. «Hab gehört, Hodges geht in Pension. Hat sich eine tolle Zeit dafür ausgesucht, muß ich schon sagen.»

Racer erblickte in dieser Entscheidung von Divisional Commander Hodges, die ihm höchst kapriziös erschien, natürlich einen persönlichen Affront gegen die gesamten Polizeikräfte des Großraums London. Daß damit einem Bezirk nun ein Divisional Commander fehlte, umging er lieber. Für Racer entstünde nämlich ein echtes Dilemma, falls Jury befördert würde. Jury um sich zu haben, war zwar einerseits so, als besitze man einen Spiegel, in dem aus dem Nichts ein Gesicht erschien und einen daran erinnerte, daß es immer noch einen Schöneren gab; andererseits hätte die Versetzung Jurys auch die Entfernung seines Sachverstands bedeutet, der ja auch ein günstiges Licht auf Racer warf.

Er sprach noch immer über den Nordbezirk. «Da würde auch ich für nichts garantieren wollen, wo das jetzt auch noch nach Brixton übergreift. Krawalle, etwas anderes kann man in diesem undankbaren Job auch nicht erwarten.» Er sprach weiter …

Jury schaltete ab, wandte seine Aufmerksamkeit der Geschenkpyramide zu, die sich leicht bewegt hatte, und fragte sich in einer momentanen Anwandlung von Neid, wie entschlossen Cyril wohl sei, die feindlichen Kräfte zu überlisten. Racer stieg inzwischen gerade Jurys Karriereleiter hinunter und würde ihn wohl bald vom Morddezernat zur uniformierten Polizei versetzen und wieder als Schutzmann Runden drehen lassen. Jury war ihm in dieser Hinsicht jedoch weit voraus oder hinkte weit hinter ihm her. Er wunderte sich selbst über seinen Mangel an Ehrgeiz und fühlte sich dabei ein wenig schuldig. In die Stellung des Superintendent hatte man ihn beinahe prügeln müssen. Vielleicht lag es an der Jahreszeit. Weihnachten war nie ein Grund zum Fröhlichsein gewesen, abgesehen von ein oder zwei Festen, die zwar gut begonnen, aber katastrophal geendet hatten. Vielleicht lag es aber auch am Wetter. Jury sah zu, wie der Schnee in großen, federigen Flocken herunterwehte, die nicht liegenblieben und sich bis zum Abend in grauen Matsch verwandeln und schmelzen würden. Er erinnerte sich an die beiden Jungen, vierzehn und fünfzehn waren sie gewesen, die er vor zwanzig Jahren beim Klauen in einem Süßwarenladen erwischt hatte. Sehr blaß und unsicher waren sie gewesen und hatten ihn an sich selber ein Dutzend Jahre zuvor erinnert. Er war sogar noch jünger als sie gewesen, als der Besitzer eines ähnlichen Ladens ihn beim Hinausgehen erwischt hatte, weil die kleine Schachtel Black Magic-Pralinen sich als Beule unter seinem Anorak abzeichnete. Jener Ladenbesitzer hatte verständnisvoller reagiert als der bei ihm, der sofort die Polizei rief. Ein Exempel statuieren. Die Tante, die Richard gerade bei sich aufgenommen hatte, schämte sich zu Tode.

Ivy hieß damals das Mädchen, fiel ihm plötzlich ein. Ivy wollte er die Pralinen zu Weihnachten schenken. Doch auch diese Sentimentalität hatte nicht bewirkt, daß sich die verkniffenen Lippen der Tante entspannten. Sein Onkel war ein sanfter Mensch gewesen, der Nachsicht walten ließ, vor allem bei einem Neffen, dessen Eltern im Krieg ums Leben gekommen waren. Doch dann die Enttäuschung des Onkels. Der sorgenvolle Blick, den er auf den Knaben Richard warf, war schwerer zu ertragen gewesen als Schläge.

Aber es ging ja nicht mehr ums Stehlen von Süßigkeiten, dachte er mit einem geradezu überwältigenden Bedauern, während das blasse Gesicht des hübschen, auf der Straße liegenden Mädchens wieder vor seinem inneren Auge auftauchte. Ivy. Ihr Name war wohl der Grund, daß ihm das jetzt alles wieder durch den Kopf ging.

«… Jury! Könnten Sie vielleicht mal kurz aufhören zu träumen und meine Frage beantworten?»

«Entschuldigung.»

«Ich hatte gefragt, ob Phyllis Nancy schon die Autopsie gemacht hat.»

«Nein, noch nicht. Morgen früh.»

«Worauf wartet sie denn noch, verdammt noch mal, auf ihre Zulassung?» Racer schlug noch einmal klatschend den obersten Aktendeckel auf. «Wir wissen über diese Childess also lediglich, daß sie in Bayswater wohnte, sich mit ihrem Freund in diesem Pub beim Berkeley Square gestritten hat, und daß er sie dort stehenließ.» Er klappte die Akte zu und lehnte sich zurück. «Alles das wußten Sie auch schon gestern abend, Jury.»

«Dann sollte ich doch vielleicht sehen, daß ich weiterkomme. Sonst noch etwas?» Er streckte vorsichtig seine Gliedmaßen gerade und stand, den Blick auf das Sofa gerichtet, auf.

«Schön, falls Sie wirklich was herauskriegen sollten, alter Knabe, lassen Sie es mich doch bitte wissen!»

«Aber gerne.» Jury beäugte den kleinen Turm von Geschenken und wandte sich zum Gehen. Als er die Tür erreichte, hörte er es – sie: die Schachteln, die wie ein Kartenhaus zusammenstürzten, den herausfallenden Inhalt, die Stimme Racers, der den Kater Cyril anbrüllte, die Sprechanlage und wieder Racer, der Fiona anschrie.

Jury öffnete ruhig die Tür, und Cyril flitzte nach erneut erfolgreicher Durchführung eines Schlachtplans vor ihm hinaus.

 

«Jetzt kocht er so richtig», sagte Fiona, die sich die Nägel feilte, ohne sich von der Sprechanlage stören zu lassen. Cyril war gerade hinter ihr aufs Fensterbrett gesprungen, um Katzenwäsche zu machen, als das Telefon klingelte.

Fiona nahm den Hörer ab, sagte etwas und hielt ihn dann Jury hin. Der schwarze Hörer sah aus wie eine Verlängerung ihrer dunkellackierten Nägel. Er tropfte geradezu von ihrer Hand herunter. «Al.»

Jury nahm den Hörer und fragte sich, ob wohl irgend jemand im Präsidium außer Fiona Sergeant Wiggins beim Vornamen nannte. «Wiggins?»

Wiggins sprach näselnd, aber deutlich. «Ich habe etwas gefunden, Sir. Ich habe das gerade im Computerraum nachgeprüft …» Die Pause war nicht als dramatischer Effekt gedacht, sondern ermöglichte es dem Sergeant, raschelnd eine Zellophanfolie von einer Schachtel zu ziehen. Offensichtlich hatte er sein heikles Manöver beendet, denn jetzt klang seine Stimme belegt. «In Dev’n, S’r–»

«Tröpfeln Sie den Hustentropfen unter die Zunge, Wiggins», sagte Jury geduldig.

«Oh, entschuldigen Sie, Sir. Da gab es diesen Fall vor etwa zehn Monaten, Ende Februar. Eine junge Frau namens Sheila Broome. Ich hätte das wohl glatt ignoriert, wäre da nicht diese Beschreibung der Leiche in situ gewesen. Die Beamten haben damals dafür gesorgt, daß der Fall nicht publik wurde, da sie Nachahmungen befürchteten. Aus gutem Grund. Sie wurde in einer bewaldeten Gegend an der A 303 in der Nähe der Abfahrt nach Taunton gefunden. Sie war erdrosselt worden, offensichtlich mit ihrem eigenen Schal. Na ja, es könnte Zufall sein …»

Jury starrte blind auf Cyril, der zuerst die eine, dann die andere Pfote an die großen Schneeflocken drückte, die gegen die Fensterscheibe flogen. Ein Serienmörder. Die schlimmste Sorte. «Wollen wir’s hoffen. Fahren Sie zum Polizeipräsidium in Somerset.»

«Somerset ist dafür nicht zuständig, Sir. Es ist knapp hinter der Grenze.» Pause. «In Devon.»

«Dann rufen Sie eben Exeter an.»

Wieder entstand eine Pause, und man hörte leise Papier rascheln. Es schien ein Problem zu sein, das zwei Hustentropfen erforderte. Wiggins matt: «Das ist doch nicht etwa Macalvies Fall, Sir?»

Jury mit einem vagen Lächeln: «Jeder Fall in Devon ist Macalvies Fall.»