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KATE BLICKTE HINAUF ZUR hohen, riesigen Kuppel, zum Drachen mit den silbernen Flügeln, dem Stern aus Spiegelglas, den Blumenornamenten und den Edelsteinschnüren, an denen der großartige Kronleuchter hing, und fragte sich, wie es wohl gewesen sein mußte, wenn der Saal festlich erleuchtet war. Ein durch den Glanz von Diamanten hervorgezauberter künstlicher Tag.
Kate, die hinter der roten Samtkordel stand, war inzwischen die einzige Besucherin. Von dem halben Dutzend anderen, die vorher noch herumgewandert waren, war nichts mehr zu sehen. Der Wärter am Ende der Festtafel wirkte gelangweilt, wollte wahrscheinlich nur noch nach Hause. Die vergoldeten Schlangen und silbernen Drachen und Edelsteine konnten ihn schon lange nicht mehr beeindrucken. Vielleicht betrachtete er das alles als eine Art Witz, einen Schabernack, wie er Königlichen Hoheiten eben so einfiel. Er gähnte und verschränkte die Hände im Rücken.
Ihre eigenen Gedanken, dachte Kate, waren ja nicht minder prosaisch, nicht minder aufs Häusliche gerichtet. Inmitten all dieser Pracht – welche exotischen Gerichte mußten an dieser Tafel serviert worden sein! – dachte sie ans Essen, das sie kochen mußte, an Karotten und Kohl, die sie vergessen hatte. Karotten und Kohl.
Kate steckte die Hände in die Manteltaschen, ließ die Tasche am Handgelenk baumeln und fragte sich, was Dolly wohl machte und wo sie jetzt war. Sie hatten sich wieder über Kates Pensionspläne, die Vermietung eines Zimmers an einen Fremden, gestritten. Entschuldige, Dolly, aber es sind nun mal im allgemeinen Fremde, die Zimmer mieten. Wer er denn sei? Was sie über ihn wisse? Ob sie denn nicht begriff, wie gefährlich das sein könne?
Er hatte gar nicht gefährlich ausgesehen. Er sah sogar recht attraktiv, recht interessant aus. Hatte sie Dolly eigentlich erzählt, daß sie ihn im Spotted Dog kennengelernt hatte – oje, da wäre sie vielleicht völlig durchgedreht. Kate seufzte. Jemand in einem Pub kennenzulernen und ihm ein Zimmer anzubieten, wo man doch gar nichts über ihn wußte …
Ein Wärter stand neben ihr und sagte ruhig, daß es gleich fünf sei und sie schließen würden. Wie lange hatte sie hier schon gestanden? Als sie in den langen Korridor hinaustrat, beschäftigte sie immer noch die Frage: Was wußte sie eigentlich über ihn, außer daß er charmant war? Nichts. Er kam aus London, aber was hatte das schon zu bedeuten? Vielleicht hatte Dolly diesmal doch recht. Aber Dolly litt schließlich auch nicht unter ihrer, Kates, Einsamkeit.
Unter einer durch zartes Gitterwerk unterteilten Decke marschierte Kate durch rote und blaue Fahnen, Bambus und Porzellan und fragte sich, was für ein Mensch, was für ein König das wohl gewesen war, der sich eine solche Phantasiewelt erbauen ließ. Welche Leben hatte er damit ruiniert, welche Leiden damit angerichtet?
Kate überquerte den Castle Square. Eine feine Regengischt hob und blähte sich wie ein zarter Vorhang, und nur, weil außer ihr so wenige Menschen auf dem Platz waren, fiel ihr der Mann am äußersten Ende auf. Er war zu weit weg, als daß sie sich absolut sicher sein konnte, aber sie glaubte, daß er dem Mann ähnelte, den sie im Spotted Dog kennengelernt hatte. Er bewegte sich nicht. Er schien zu ihr herzusehen.
Obwohl sie wußte, daß es lächerlich war, machte es sie dennoch nervös. Er betrachtete natürlich den Royal Pavilion, nicht Kate. Sie hielt inne, drehte sich um und blickte zurück. Die erlesene Architektur der Pavillonfassade wurde durch das hohe Gerüst brutal entstellt. Die meisten Arbeiter waren schon gegangen, aber zwei saßen noch immer da oben, rauchten und tranken aus Styroporbechern. Ein Palast voller Silberdrachen und Diamanten und Trockenfäule. Sie stopfte ihr Haar unter die Strickmütze und dachte, daß das Gerüst die Wirklichkeit sei und nicht das Silber und das Blattgold. Die Arbeiter schnipsten ihre Zigaretten übers Geländer, packten ihre Sachen zusammen und gingen, sie waren sich gar nicht bewußt, daß sie ein Phantasiegebilde zusammenflickten. Paläste zerfallen, und das bedeutet Arbeitsplätze.
Als Kate sich wieder umdrehte, war der Mann fort.