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IM SCHNEE VOR DER HAMMERSCHMIEDE war nur eine schmale Spur zu erkennen, die Miss Crisps Hund, ein Jack Russell-Terrier, gemacht hatte, als er den Trödelladen seines Frauchens auf der anderen Straßenseite verließ, um seine nachmittäglichen Runden durchs Dorf zu drehen.
Durch das verträumte Durcheinander von malerischen Läden und kleinen Wohnhäusern rollte das sonore Dröhnen der Kirchturmglocke über die High Street und am Pub vorüber, wo es hoch oben auf einem Regal der Schmied einer Kaminuhr aufgriff und es mit einem Bong auf seiner Esse nachahmte. Die Uhr über ihm schlug fünf.
Für einige Einwohner von Long Piddleton war dies ein Einberufungsbefehl. Bis zur Öffnung war es zwar noch eine halbe Stunde hin, aber Scroggs drückte bei den Ausschankbestimmungen häufig ein Auge zu, wenn es sich um Stammgäste handelte. Einer von ihnen war die halbe Meile von Ardry End mit dem Fahrrad gekommen und saß jetzt an einem Tisch am großen Erkerfenster. Er hatte die Beine ausgestreckt, und an seiner Hose klemmten noch immer die Fahrradklammern. Über das Lesezeichen in der Mitte seines Buches hatte er schon hinweggelesen.
Da er kein Fan von Thrillern war, hätte er normalerweise alle Kapitel bis aufs letzte überschlagen und unwesentliche Details, die allerdings für die Auflösung notwendig sein konnten, selber ergänzt. Doch seine alte Vorliebe für die Autorin dieses Buches verpflichtete ihn, jede einzelne Seite zu lesen. Na ja, fast jede, dachte Melrose Plant. Liebe mich gefälligst, liebe meine Bücher! Seine Freundschaft zur Autorin hatte sich jedoch nicht auf dieses Buch übertragen, das den belanglosen Titel Die Plumpudding-Gruppe trug. Es sollte sich wohl im Weihnachtsgeschäft verkaufen und hatte irgendwie auf die Regale von Long Piddletons neuer Buchhandlung Wrenn’s Nest gefunden, einer albernen Anspielung auf den Namen des Eigentümers.
Er fragte sich, ob er nicht doch mal einen Blick auf die letzte Seite riskieren sollte. Das Motiv des Mörders bestand in dem alten Bring-ihn-um-ehe-er-das-Testament-ändert-Klischee. Die Figuren schienen nichts mit sich anfangen zu können und ähnelten den verschwimmenden Gestalten auf einem Bahnsteig, wenn der Zug abfährt.
Melrose Plant sah auf die Uhr, nicht um festzustellen, ob sich die beiden anderen, die er gewöhnlich in der Hammerschmiede traf, verspätet hatten, sondern weil er wußte, daß es noch eine Leiche geben mußte – ah ja, da war sie schon. Colonel Montague. Schade, dachte er. Er hatte den alten Montague eigentlich ganz gern gemocht, trotz dieses Gin-unter-Palmen-Gehabes, das ihm die Autorin verpaßt hatte. Ja, es gab massig Leichen. So wie es Raymond Chandlers Rezept zur Vermeidung von Langeweile in der Mitte des Buches war, einen Mann mit Revolver ins Spiel zu bringen, so ließ Polly Praed in jedem zweiten Kapitel eine Leiche zurück. Das jüngste Buch von ihr mußte in einem Zustand äußerster Unruhe entstanden sein; denn das unvermittelte Auftauchen einer Leiche nach der anderen hatte etwas Nervöses und Hektisches an sich. Ihr Hirn, dachte er, ist ein Schlachthof.
Das ganze Gemorde und Gemetzel wurde durch die Ankunft zweier weiterer Stammgäste unterbrochen. Er freute sich darüber, weil sie ihn davor bewahrten, sich weiter in den Tod Montagues zu vertiefen.
«Hallo, Melrose», sagte Vivian Rivington, die Hübschere der beiden, auch wenn Melrose vergeblich darüber nachsann, ob Marshall Trueblood wohl auf einer Revision dieses Urteils bestanden hätte.
«Hallo, alter Knabe», sagte Marshall Trueblood, der an diesem Nachmittag eher einem ziemlich gewöhnlichen als einem exzentrischen Millionär glich. Er trug ein dunkles und wunderschön geschneidertes Wolljackett, das wohl der Traum eines jeden Webers auf den Hebriden gewesen wäre. Allerdings hätte der Weber beim Anblick des Kaschmirpullovers in gewagtem Blau und des meergrünen Halstuchs, das in einem türkisfarbenen Crèpe-de-chine-Hemd steckte, wohl verblüfft die Augen aufgerissen. Für Trueblood war das jedoch ein geradezu dezenter Aufzug. «Gott sei Dank, wieder ein Tag voller Schweiß und Schufterei vorbei.»
Marshall Trueblood konnte sich so manches leisten, nur keinen Schweiß. Es machte ihm Spaß, sein Antiquitätengeschäft, das sich in dem kleinen Tudorhaus nebenan befand und trotz der geringen Einwohnerzahl von Long Piddleton gut lief, ein wenig herunterzumachen. Es florierte, weil es Londoner Kundschaft inklusive einiger sehr kundiger Händler anzog. Hilfreich fürs Geschäft war auch die Gunst der beiden – noch Reicheren als Trueblood –, die mit ihm am Tisch saßen.
«Es ist erst fünf», sagte Vivian Rivington mit melancholischer Miene. Da im Winter nur so wenig Leute hier lebten, blieb dem Trio nicht viel anderes übrig, als sich gegenseitig ihre Abweichungen von den üblichen Gewohnheiten vorzuhalten. «Du schließt doch eigentlich erst um sechs», sagte sie und schüttelte ihre Uhr.
«Es kommt doch sowieso niemand. Ich habe ein Schild an die Tür gehängt. Falls jemand einen gepfändeten Sekretär sucht, soll er hier vorbeischauen. Was lesen Sie da, Melrose?» fragte er, als Scroggs die Gläser vor ihnen abstellte.
Melrose Plant drehte den Einband nach oben, damit seine Freunde es selber sehen konnten.
«Die Plumpudding-Gruppe. Komischer Titel. Prost.» Er hob sein Glas.
Vivian schielte nach dem Namen des Autors. «Das ist doch wieder eins von dieser Polly?»
«Leider kein besonders gutes. Aber sagen Sie es ihr bitte nicht.»
«Wie denn, sie ist ja gar nicht da», sagte Vivian mit einem gewissen Anflug von Gereiztheit. «Ich verstehe einfach nicht, was Sie an der finden.»
«Vorsicht, Vivian, Vorsicht. Über bestimmte Beziehungen sollten Sie sich besser nicht auslassen.»
«Sie haben völlig recht, Melrose», sagte Trueblood. «Werden Sie auch diese Weihnachten wieder ohne den unglücklichen Franco aus Florenz verbringen?»
«Venedig», sagte sie ein wenig gereizt.
«Standen schlechte Nachrichten in Ihrem Brief?» Trueblood klopfte ein wenig Asche von der Spitze seiner schwarzen Sobranie und lächelte spitzbübisch.
Vivians Augen wurden schmal. «Was meinen Sie mit ‹in meinem Brief›?»
«Na ja, den, den Sie heute morgen bekommen haben müssen. Der noch in Ihrer Tasche steckt.»
Die Hand, die sich in die Tasche ihrer Strickjacke verirrt hatte, wurde rasch zurückgezogen und zur Faust geballt auf den Tisch gelegt.
«Mit Poststempel Venezia.»
«Woher wissen Sie das denn?»
«Bin ich vielleicht daran schuld, wenn Miss Quarrels die Post beim Sortieren wie eine Patience auf dem Schalter ausbreitet?»
«Aber Sie haben sich die Mühe gemacht, den Umschlag verkehrt herum zu entziffern!»
Er zog seine kleine goldene Nagelschere heraus. «Nein, ich habe ihn umgedreht.»
«Schnüffler!»
Auf ihr Stichwort hin erschien Lady Agatha Ardry im Eingang der Hammerschmiede. Sie fegte förmlich wie Schnee herein, schüttelte ihr Cape aus und stampfte mit den Schuhen auf. «Ich habe in Ihr Schaufenster gesehen, Mr. Trueblood», sagte sie zu Marshall Trueblood, noch ehe sie einen doppelten Sherry bei Dick Scroggs bestellte. «Es ist noch nicht sechs, Mr. Trueblood. Sie müßten noch geöffnet haben. Aber wenn einem die Kundschaft so wenig bedeutet … mein lieber Plant, als ich eben nach Ardry End jage …»
Dreht ihre Runden wie der Terrier von Miss Crisp, dachte Melrose, schlug die nächste Seite um und fand Lady Dasher tot in den Hortensien …
«… komm ich an einem Auto vorbei …»
Welch Glück für den Fahrer. Normalerweise fuhr sie ihnen rein. Agatha hatte sich einen alten Morris Minor gekauft, der genauso aussah wie sie: runde Birne und plumpes Gestell.
«… das gerade aus der Ausfahrt rauskommt, als ich reinfahre. Frau am Steuer, um die Dreißig, braunes Haar, schwarzer Porsche …»
«Kennzeichen?»
«Was?»
«Du hast doch sicher die Nummer, damit wir sie in den Computer von Scotland Yard eingeben können. Die vollbringen heutzutage wahre Wunder, wenn’s ums Auffinden gestohlener Autos geht …»
«Sei nicht dämlich, Plant. Na ja, sie ist mir glatt davongefahren, ehe ich sie anhalten konnte. Wer ist sie überhaupt? Sieht nicht gerade wahnsinnig gut aus.»
Sie sagte es mit einer gewissen Erleichterung, als ob die Dame im Porsche damit aus dem Rennen der heiratsfähigen weiblichen Wesen ausscheide. Diese nämlich erschienen Agatha offensichtlich ausnahmslos als Schönheiten, die auf die Familiengewölbe von Ardry End zuhasteten, direkt auf die Chinoiserien, das Kristall, die Queen-Anne-Möbel und die Titel zu, die Melrose wie Blütenblätter in den Staub hatte fallen lassen – Earl, Viscount und Baronet – und die man ja immer noch aufsammeln (so schien sie zu denken) und wieder an die Knospe pappen konnte.
«Zu dir kommt doch gar keiner um diese Jahreszeit, Melrose.» Sie seufzte und rief noch einmal nach ihrem Sherry. Scroggs blätterte weiter in seiner Zeitung. «Es ist nicht mehr wie früher. Erinnerst du dich noch, wie deine liebe Mutter, Lady Marjorie …»
Jetzt würde sie wieder anfangen und die Pfade seiner Familienerinnerungen entlangschnüffeln wie ein Schwein, das in den Rosensträuchern wühlt. «Die Countess von Caverness, ja. Und mein Vater und mein Onkel Robert. Ich hatte immer ein gutes Gedächtnis für Einzelheiten. Aber was hast du denn in Ardry End gemacht?»
«Mit Martha über das Weihnachtsessen gesprochen. Sie sagte, ihr hättet euch noch nicht entschieden.»
«Doch. Falsche Gans und Bettelmänner.»
«Mein Lieblingsessen!» sagte Marshall Trueblood. «Ich hoffe, wir sind eingeladen.»
«Natürlich. Immer.»
«Du willst mich doch bloß veräppeln», sagte Agatha und stampfte mit ihrem Stock auf, um Scroggs von seiner Zeitung loszueisen. «So was gibt es doch gar nicht.»
«Aber gewiß doch. In Wirklichkeit ist das Rinderleber. Und zum Nachtisch könnt ihr Himbeerquark mit Soße haben. Oder wären euch arme Ritter lieber? Martha hat ein Händchen für arme Ritter.» Melrose gähnte und beobachtete den Jack Russell durch das bleigefaßte Fenster, auf dem in bernsteinfarbenen Buchstaben Hardy’s Crown stand. Der Hund beschnupperte die Füße einer Frau mit braunem Hut, die auf dem Bürgersteig stand und forschend in Truebloods Schaufenster spähte. Melrose kam sie irgendwie bekannt vor.
«Da ist sie!» schrie Agatha und reckte den Hals, um durch die bleigefaßte Scheibe zu starren.
«ICH WOLLTE NICHT EINFACH SO reinplatzen», sagte die junge Frau mit dem braunen Hut.
Das war, dachte sich Melrose und betrachtete das verträumte, linkische Mädchen, genau die Art von Bemerkung, wie man sie sich von Lucinda St. Clair erwartete. Sie gehörte zu den Frauen, die man auch mit Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig noch als «Mädchen» bezeichnete.
«Sie platzen nicht herein!» meinte Vivian und sagte damit zum erstenmal, seit sie gekommen war, etwas Intelligentes.
Für Melrose hatte Vivian Rivington stets in fast idealer Ausgewogenheit Schönheit, Anmut und Freundlichkeit verkörpert. Ob sie wie jetzt den alten Wollrock und das Twinset trug oder sich in Schale warf, die Trueblood als «die italienische Periode» bezeichnete, sie schien nie zu wissen, was sie mit sich anfangen sollte oder ob ihr die eine oder doch eher die andere Rolle besser zu Gesicht stand. Daher war es keineswegs überraschend, wenn sie jetzt Lucinda St. Clair taxierte und sich wahrscheinlich dachte, daß sie es hier mit einer Frau zu tun hatte, die noch schlechter beieinander war als sie selber, da diese ein noch tristeres Twinset trug.
«Vielen, vielen Dank», sagte Lucinda mit einem dankbaren Blick, der wohl nicht nur der simplen Geste Truebloods, der ihr einen Stuhl zurechtrückte, galt. Er kannte Sybil St. Clair, ihre Mutter, die gelegentlich etwas bei ihm kaufte. Und das machte es noch schlimmer für Agatha – daß sogar Trueblood die Besucherin auf Umwegen kannte und sie selber keinen Schimmer hatte.
Lucindas Augen waren groß und kastanienbraun. Als sie den stechenden, schwarzen Augen Agathas begegneten, wandte Lucinda rasch den Blick ab. Agatha hatte Lucinda St. Clair nach Anzeichen von Heiratsfähigkeit abgesucht, auf die, wie Agatha zu glauben schien, solche Damen stets mit grellen Neonpfeilen hinwiesen. Dann kniff Agatha die Augen zusammen und wollte erfahren, ob sie sich schon einmal begegnet seien.
Melrose seufzte und hoffte, daß sich keine der beiden daran erinnerte. Sie waren sich in der Tat einmal, wenn auch nur sehr flüchtig, begegnet, und zwar auf einer jener gräßlichen Parties bei Lady Jane Hay-Hurt. Aber er glaubte nicht, daß Agatha das noch präsent war, denn sie hatte sich eifrig mit Lady Jane unterhalten, von der absolut keine Gefahr ausging, sich der Linie der Ardry-Plants anzuschließen und sich das Erbe unter den Nagel zu reißen. Lady Jane war buchstäblich hoch-näsig, wodurch sie einem Pekinesen ähnelte, und Agatha spielte ihr gerne Melrose zu, da ihr klar war, daß das Ardry-Plant-Vermögen dadurch nicht in Gefahr geriet. Doch in Lucinda witterte Agatha die Möglichkeit einer nachteiligen Verbindung. Sie war als eine durchaus geeignete Anwärterin in Agathas Gesichtsfeld getreten und hatte die Frechheit besessen, sich nicht sofort wieder daraus zu entfernen. Sie war jung und nett und lediglich unscheinbar. Melrose hoffte, daß niemand und nichts dem Gedächtnis seiner Tante auf die Sprünge half, denn dann würde sie sich erinnern, daß sie Lucindas Mutter Sybil begegnet war, mit der sie sich auf Lady Janes Sofa so köstlich amüsiert hatte, als sie gemeinsam über Törtchen und Leute herfielen.
«Nein, seid ihr nicht», sagte Melrose und setzte damit der Spekulation ein Ende. «Miss St. Clair hat ein wenig Ähnlichkeit mit Amelia Sheerswater.» Der Name war völlig aus der Luft gegriffen. Aber Agatha würde jetzt über diesen neuen Zuwachs in den Reihen von Melroses Frauen nachgrübeln. «Wir trinken gerade was. Was hätten Sie denn gerne?»
Lucinda St. Clair strich sich das braune Haar aus dem Gesicht und schien wegen der Getränkewahl eingehend mit sich zu Rate zu gehen.
«Wie wär’s mit einem Sherry?» schlug Vivian hilfsbereit vor. «Der Tio Pepe ist sehr gut.»
Als wäre Tio Pepe ein so seltenes, raffiniertes und abwegiges Getränk, daß es von Flasche zu Flasche, Kneipe zu Kneipe anders schmeckte, dachte sich Melrose. Aber sollte Vivian doch einfach sagen, was sie wollte. Lucinda nickte, und Trueblood rief Dick Scroggs die Bestellung zu, ehe er sich wieder zurücklehnte und eine blaue Sobranie in seine Zigarettenspitze steckte.
Alle lächelten Lucinda zu, außer Agatha, die das St. Clair-Gesicht noch immer nach verräterischen Ähnlichkeiten mit dem Sheerswater-Gesicht absuchte.
Als Dick ihren Tio Pepe brachte und mit seinem Geschirrtuch über der Schulter dastand und den Neuankömmling betrachtete, kam es Melrose in den Sinn, daß sich das Mädchen vielleicht inmitten all dieser Blicke unbehaglich fühlen könnte. Tatsächlich sah Lucinda von ihrem Glas zu ihm auf und lächelte schwach, als glaube sie, man erwarte auf dieser zwanglosen vorweihnachtlichen Zusammenkunft eine kleine Vorstellung von ihr, daß sie entweder aufsprang und etwas rezitierte oder eine hübsche Anekdote erzählte. Ihr war schließlich nicht klar, daß sich die anderen schon seit Jahren fast immer das gleiche erzählten und wie erfrischend es für sie schon war, einmal ein neues Gesicht zu sehen.
Melrose sah, wie Lucinda ein wenig tiefer in ihren Sessel glitt, und beschloß, sie zu befreien, ehe der ganze Kreis in Weihnachtsgesänge oder dergleichen ausbrach. Er griff nach seinem und ihrem Glas, lächelte und entschuldigte sie beide. «Eigentlich glaube ich, daß Miss St. Clair nach Long Piddleton gekommen ist, um sich ein wenig mit mir zu unterhalten.»
Als sie an einem Tisch neben dem offenen Kamin saßen, begann sie, sich schon wieder zu entschuldigen, weil sie die kurze Bekanntschaft ausnütze, und erzählte ihm, sie käme gerade aus Northampton zurück, wo sie Stoffe und andere Dinge abgeholt habe. «Für Mutter. Sie richtet jetzt ein Haus in Kensington ein. Sie erinnern sich an meine Mutter?»
Und ob er das tat. Sybil war früher nur Ehefrau und Mutter gewesen, ehe sie sich ganz den künstlerischen Maximen der Schöner-Wohnen-Welt verschrieb. Typisch für sie war auch, daß sie ihre Tochter zu den unangenehmen Arbeiten abkommandierte, sie mit Musterbüchern rumrennen, Vorhänge ausmessen und anpassen ließ. So wie er sich an sie erinnerte, schien sie taillenlose Kleider zu bevorzugen mit nichts als Falten, die ohne Sinn und Ziel in alle möglichen Richtungen schlabberten. Ihr Teint besaß jenen strahlenden Schimmer, den nur Clinique hervorzaubern kann.
Melrose hatte sie auf einer seiner gelegentlichen Reisen nach London wiedergetroffen. Er hatte sich mit Lucinda angefreundet, da er den Kummer einer jungen Frau ohne gesellschaftlichen Schliff und mit dem dünnbeinigen, langnasigen Aussehen eines Kranichs nachfühlen konnte. Sie trug Weiß, was sie lieber nicht hätte tun sollen, da es diese Assoziation nur noch verstärkte. Dennoch gelang es der armen Lucinda, den Wildpark mit ihren großen, feuchten braunen Augen in einen Regenwald zu verwandeln. Sie hatten beide in dem Hotel gewohnt, das er so gerne mochte. Der Tee im Brown’s war in ein Abendessen übergegangen, während dessen er ihnen von einem früheren Aufenthalt im selben Hotel erzählte, als gleichzeitig eine amerikanische Reisegruppe dort abgestiegen war. Die Geschichte von den Morden hatte alle fasziniert.
«Ich erinnere mich nur noch daran, daß Sie irgendwas mit der Polizei zu tun zu haben schienen …»
«Nun ja, ich kenne da ein, zwei Leute, sicher. Aber ich bin nicht gerade ein Experte auf dem Gebiet. Weshalb?»
Sie holte tief Luft. «Ich habe da einen Freund, wissen Sie, der sich anscheinend in was reingeritten hat. Ich dachte nur gerade, vielleicht könnten Sie das Problem lösen – ach, ich weiß nicht. Es ist furchtbar.»
«Was ist denn passiert? Wer ist dieser Freund?» Er bedauerte seine Frage ein wenig, denn sie wurde rot und blickte weg. Der «Freund» war zweifellos mehr als ein Freund, oder sie erhoffte sich das zumindest.
«Kein spezieller, wirklich nicht», sagte sie und sah überallhin, nur nicht ihm in die Augen. «Ein Freund der Familie. Wir kennen ihn schon seit ewigen Zeiten …» Ihr Flüstern verstummte. «Haben Sie von dieser Frau gelesen, die in Mayfair ermordet wurde? Es stand heute in der Zeitung.»
Von der hatte Scroggs recht anzüglich erzählt. «Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Ihr Freund in diese Sache verwickelt ist? Das ist ja wirklich fürchterlich.»
Sie antwortete heftig und sehr eindringlich: «Ich fürchte sogar, daß sie ihn schon verhaftet haben oder sonst was. Er hat das Mädchen als letzter lebend gesehen. Oder zumindest behaupten sie das.» Sie zog ein Exemplar der gleichen Zeitung, aus der Scroggs ihnen vorgelesen hatte, aus ihrer großen Tasche.
«Scotland Yard, Morddezernat», sagte er, nachdem er den Bericht gelesen hatte. «Ist das Ihr Freund? Der, welcher ‹die Polizei bei den Ermittlungen unterstützt›, wie sie schreiben?»
Lucinda St. Clair nickte. «Ich dachte nur, weil Sie in diesen Dingen so erfahren sind …»
«Falls ich diesen Eindruck vermittelt habe, war das nicht meine Absicht.» Sorgfältig faltete er die Zeitung zusammen. Mit Sicherheit war er reichlich unklug gewesen, als er Richard Jury beim letzten Fall geholfen hatte. Wenn er sich daran erinnerte, lief es ihm noch jetzt kalt den Rücken hinunter. «Ich kann da wirklich nichts tun. Der Bürger darf sich einfach nicht in die Arbeit der Polizei einmischen, Lucinda.» Wie viele Male hatte Jurys Vorgesetzter ihm das schon erzählt.
Er erntete einen niedergeschlagenen Blick. «Mir fällt wirklich sonst niemand ein.»
«Er hat doch sicher einen Anwalt …»
Sie nickte und wirkte verstört.
«Ich nehme an, dieser Gentleman ist ein sehr guter Freund.»
Der traurige Blick verstärkte sich nur noch. «Ja.»
Melrose dachte einen Moment lang nach. Es konnte schließlich nichts schaden, wenn er Jury einmal anrief. «Sie müssen aber verstehen, daß ich mich da auf gar keinen Fall einmischen kann …»
«Oh, niemand möchte, daß Sie sich einmischen. Ich dachte mir nur, daß es Ihnen vielleicht gelingt, die Sache von einer anderen Warte aus zu betrachten.» Einen Moment lang verlor sie ihren Regenwaldblick. «Dann kommen Sie also?»
«Sie meinen nach Sussex?»
«Somers Abbas. Wir könnten zusammen hinfahren. Ich habe mein Auto …»
Melrose hob abwehrend die Hand. «Nein. Ich muß wirklich erst einmal darüber nachdenken.»
Lucinda lehnte sich zurück und wirkte noch elender als bei ihrem Eintreten. «Werden Sie mich denn dann anrufen?»
«Natürlich.» Melrose sah hinüber zum Tisch, wo Vivian, Trueblood und seine Tante immer noch saßen und die beiden Frauen so taten, als interessierten sie sich nicht für das, was sich vor dem Kamin abspielte. Agatha spielte ihre Rolle sehr viel schlechter als Vivian. Melrose lächelte dem vertrauten Trio am Erkerfenster zu. Vivian erwiderte sein Lächeln und hob sogar freundlich-drohend den Finger. Vielleicht lag ihre Abneigung, den Kanal zu überqueren, in dem tiefverwurzelten Bedürfnis, die kleine Gesellschaft zusammenzuhalten. Wohlwollend strahlte sie Lucinda an. Er musterte das Mädchen. Schweigend stimmte er Vivian zu, daß Lucinda St. Clair wohl nie eine Party sprengen würde.
MELROSE SASS AN DIESEM SCHÖNEN Dezembermorgen am Rosenholztisch und hatte neben seinem Teller mit Eiern die Times aufgeschlagen. Er trug zwei senkrecht und eins waagrecht ein. Aber er war nur mit einem Teil seiner Gedanken beim Kreuzworträtsel; der Rest konzentrierte sich auf das mit Richard Jury geführte Telefongespräch, bei dem Jury ihm geraten hatte, doch auf jeden Fall nach Somers Abbas zu fahren. Einen Bekannten zu haben, der mit der Familie Winslow bekannt sei, könne außerordentlich hilfreich sein. Und für all die Unterstützung in der Vergangenheit, tja, dafür, fand Jury, verdiene er eigentlich die Ritterwürde. Ein bißchen überflüssig vielleicht, aber dennoch …
«Ich bezweifle, daß Chief Superintendent Racer das mit der Ritterwürde ebenso sieht. Ich bezweifle überhaupt, daß Racer begeistert ist …»
Melrose blickte über den Tisch zu den Terrassentüren hinaus, die man an diesem für die Jahreszeit viel zu warmen Wintertag geöffnet hatte. Die cremefarbenen Vorhänge blähten sich leicht im Wind. Hinter der Tür konnte er ein Stück des serpentinenartigen Pfads erkennen, der sich über das ganze Grundstück hinabwand und den er so gerne entlangspazierte. All der Grund und Boden da draußen – der ausgedehnte Garten, die silberne Eiskruste des Sees, die Eibenhecken und die Weiden – erinnerten ihn an den Spaziergang, den er auf Lady Janes Fest mit Lucinda St. Clair gemacht hatte. Melrose konnte sich dabei vorstellen, wie Sybil St. Clair die ganze Zeit mit der Geduld eines auf einem Ast liegenden Pumas zusah und auf die geringste Bewegung der Beute lauerte. Dieses Mitleid mit Lucinda war zum Verrücktwerden, aber nicht zu ändern. Sie war natürlich begeistert, daß er gekommen war. Und trotz der Einwände ihrer Mutter hatte Melrose auf einem Zimmer im Gasthof bestanden.
Seufzend sah er auf und ließ den Blick über die Wände und die Porträts wandern, die dort in so stattlicher Prozession hingen, als befände sich der ganze Haufen auf dem Weg zur Westminster Abbey. Viscount Nitherwold, Ross and Cromarty, Marquess of Ayreshire and Blythedale, Earl of Caverness … man konnte sie kaum aufzählen, ohne zwischendurch mal eine Pause zu machen und einen harten Drink zu nehmen. Schließlich verweilte sein Blick auf dem Porträt seiner Mutter, einer der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte, und auf der die Adelskrone zuletzt entsetzlich schwer gelastet haben mußte. Gedämpftes Sonnenlicht fiel in tanzenden Pailletten auf ihr blaßgoldenes Haar, und aus jedem ihrer Gesichtszüge blitzte der Humor.
Er lächelte. Seine Mutter, wenn nicht sogar die Königin, wären bestimmt begeistert gewesen …
«Noch einen Kaffee, M’Lord?» fragte Ruthven, für Plant das Muster eines Kammerdieners, der praktisch schon so lange in der Familie war wie die Porträts an den Wänden. Er hielt die Silberkanne hoch.
Melrose schüttelte den Kopf und legte seinen Schreib-Stift hin. «Nein danke, Ruthven. Ich sollte mich lieber beeilen.» Er steckte seine Goldrandbrille ein und schob den Stuhl zurück.
«Werden Sie den Flying Spur oder den anderen Rolls benötigen, Sir?»
Melrose blickte erneut auf das Porträt Lady Marjories. Lächelte sie? «Wissen Sie, Ruthven, ich finde, daß jeder, der eine solche Frage stellt, erschossen werden sollte.»