18
DAS HAUS IN KNIGHTSBRIDGE lag gegenüber einem jener kleinen grünen Parks, die von schmiedeeisernen Zäunen umgeben sind und deren Tore sich nur mit einem Schlüssel öffnen lassen. Straßauf, straßab weder Menschen noch Verkehr. Jury wunderte sich oft über die Ruhe in diesen Wohngegenden; sogar der Verkehr hielt Abstand. Mehrere Straßen weiter schoben sich Autos und Busse durch die Sloane Street. Jury sah sich die Wagen an, die vor dem Haus geparkt waren: ein weißer Lotus Elan, der zwischen dem langen schwarzen Jaguar und dem dunkelbraunen Mercedes wirklich aussah wie eine heruntergefallene Blüte. Während er wartete, öffnete eine ältere Frau mit zwei Labradorhunden das Parktor und ging hinein.
Er ließ den Blick über die Tür nach oben wandern, über das Buntglas und den Ziergiebel, in den ein inzwischen verblichenes Wappen eingeschnitzt war. Die Frau, die die Tür öffnete, wahrscheinlich die Haushälterin, war klein und barsch. Falls sie der Anblick von Jurys Dienstausweis überraschte, verbarg sie es gut.
Hugh Winslow war ein hochgewachsener, hagerer Mann von Mitte sechzig, der sich wahrscheinlich durch regelmäßige sportliche Betätigung auf Tennis- und Squashplätzen in Form hielt. Die Augen in seinem höhensonnengebräunten Gesicht wirkten sehr blau, die Haut spannte sich straff über die Wangenknochen und wirkte wie Pergament. Als er sich in dem tiefen Sessel niederließ, wo er offenbar vorher gelesen hatte, entspannte sich sein Körper. Er hatte das Gebaren eines Mannes, der all seine Probleme schon seit geraumer Zeit gelöst hat, und er sah Jury an, als ob das, was die Polizei zu ihm geführt habe, entweder geringfügig oder von vornherein ein Irrtum sein müsse.
«Was kann ich für Sie tun, Superintendent? Möchten Sie vielleicht etwas trinken?» Er wollte aufstehen.
«Nein, danke. Ich wollte Ihnen nur ein paar Fragen stellen, Mr. Winslow, und zwar im Zusammenhang mit einer jungen Dame, die vor vier Tagen in der Nähe eines Pubs mit dem Namen I Am the Only Running Footman ermordet wurde. Kennen Sie es?»
«Nein, ich glaube nicht.»
«Ihr Schwager war Stammgast dort.»
«Ich habe David einige Male in Shepherd Market besucht, aber ich war nie in diesem Pub …» Mitten im Satz brach er ab.
«Ich habe nichts von Shepherd Market gesagt.»
Nervös suchte Winslow nach Zigaretten und Worten. «Ich habe nur angenommen …»
«Ich verstehe. Vielleicht haben Sie mit Ihrer Frau oder Ihrem Schwager gesprochen?»
«Ja, genau.»
Das hätte dir früher einfallen müssen als mir, dachte Jury. «David Marr war, soweit bekannt, der letzte, der Ivy Childess lebend gesehen hat. Er steckt in der Klemme. Ich frage mich, ob Sie mir wohl etwas über ihn erzählen könnten.»
«Wir sehen uns kaum, Superintendent. David kommt selten hierher, gewöhnlich nur, wenn Ned da ist.»
«Ihr Sohn.»
«Ja.»
«Und Sie haben ein gutes Verhältnis zu ihm?»
Hugh Winslow antwortete indirekt. «Er wohnte hier, als er nach London kam. Jetzt hat er sich eine Wohnung in Belgravia genommen.»
«Aber wie kommen Sie miteinander aus?»
«Nicht besonders. Dafür hat er ein überaus inniges Verhältnis zu seiner Mutter. Beide, Ned und David.» Sein Lächeln wirkte angestrengt.
«Was meinen Sie mit ‹überaus›?»
Hugh Winslow drückte seine Zigarette aus und goß sich einen Whisky ein. «Ich meinte nur ‹ein sehr inniges›, mehr nicht. Es ist nichts Unnatürliches, vor allem nicht im Hinblick auf Marion. Sie ist eine Frau, die in Männern starke Gefühle weckt.»
«Auch in Ihnen, Mr. Winslow?»
Er betrachtete Jury über den Rand seines Glases. «Ich verstehe nicht, was das mit – Miss Childess zu tun hat.»
Jury lächelte. «Tun Sie mir den Gefallen.»
Winslow seufzte. «Marion und ich haben uns irgendwie entfremdet. Seit dem Tod unserer Tochter.»
«Das mit Ihrer Tochter tut mir leid, Mr. Winslow.»
«Ja.» Er stand auf und begann ziellos im Zimmer herumzuwandern, im Feuer zu stochern und sich dem hohen Fenster zu nähern. Er erinnerte Jury an Marion Winslow. «Es ist direkt da draußen passiert», sagte er und nickte zur Straße hinaus. «Der Fahrer wurde nicht bestraft – es war wohl auch nicht seine Schuld. Er schien tatsächlich ein anständiger Bursche zu sein. Wells oder so ähnlich hieß er.»
«Miles Wells. Ich habe im Unfallbericht nachgesehen. Zehn Uhr abends, nicht wahr?»
Hugh nickte abwesend und setzte seinen Gedankengang fort. «Ich glaube, ja. Es ist schwer, wenn man für perfekt gehalten wird, wissen Sie. Denn dafür hielten sie Phoebe offensichtlich. Das hat ihr wohl nur sehr wenig Luft zum Atmen gelassen. Sie hatte durchaus Temperament, wie andere Kinder auch. Sie war nur ein kleines Mädchen, keine heilige Ikone. Aber seitdem scheint sich alles verändert zu haben.»
«Bis zu ihrem Tod waren Sie und Ihre Frau also recht glücklich, nicht wahr?»
«Würde ich schon sagen, ja.»
«Dennoch gab es andere Frauen, Mr. Winslow.»
Hugh Winslow war zu seinem Sessel am Kamin zurückgekehrt. Ein dunkler, lederner Ohrensessel, und wieder mußte Jury an die Unterhaltung mit seiner Frau denken. Ein seltsames Gefühl, wie bei einem Déjà-vu-Erlebnis.
Hughs Lächeln war ein wenig frostig. «Tja, das stimmt. Sie verstehen das vielleicht nicht, aber Marion ist so ziemlich die vollkommenste Frau, die ich je kennengelernt habe …»
«Und es war schwierig für Sie, mit der Vollkommenheit zu leben.»
Er nickte. «Aber wenn Sie etwas über David erfahren wollen, wäre es besser, Marion zu fragen.» Er schenkte sich einen weiteren Drink ein.
Hugh Winslow wirkte so allein wie die privilegierten Spaziergänger im Park gegenüber. Ohne Schlüssel würde man nicht in sein Inneres dringen.
«Ich habe mich schon mit ihr unterhalten. Ich wollte mich bei Ihnen eigentlich auch nicht speziell nach David Marr erkundigen. Sondern nach Ivy Childess.»
Die Karaffe hing in der Luft. Dann setzte er sie ab, stöpselte sie wieder zu und sagte: «Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.» Es war ein schwacher Versuch, seine Gelassenheit zurückzugewinnen. Der Schlüssel hatte sich gedreht, das Tor stand offen.
«Es soll heißen, daß Sie Ivy Childess kannten.»
«Ich bin ihr einmal begegnet. Hier, auf einer kleinen Cocktail-Party.»
«Und seitdem trafen Sie sie immer wieder, nicht wahr? Im Running Footman.»
Er warf einen Blick auf das ausgehende Feuer. Dann wandte er den Kopf: «Ja.»
«Aber warum haben Sie sie in dem Pub getroffen, in das Ihr Schwager doch häufig kam?» Jury glaubte, die Antwort darauf zu wissen.
Und er erhielt die Bestätigung, als Winslow sagte, es sei Ivys Idee gewesen. Ihr habe es dort gefallen. «Aber sie wußten nichts über Ivy und mich. Marion ganz sicher nicht.»
«Sind Sie sicher, daß sie keinen Verdacht hatte?»
«Ja. Hätte sie …»
«Dann hätte sie sich scheiden lassen. Ist es nicht so?»
«Ivy hat ihre Beziehung zu David nur deshalb aufrechterhalten, damit niemand Verdacht schöpfte.»
Vielleicht glaubte er das ja tatsächlich. «Hat sie auf Heirat bestanden? Drohte sie Ihnen damit, eine Szene zu machen?» Aus Hugh Winslows unglücklichem Blick konnte Jury ersehen, daß er recht hatte. «Und diesen Preis wollten Sie nicht bezahlen. Ihre Frau ist ja sehr vermögend.»
«Ich nage auch nicht gerade am Hungertuch, Superintendent. Ach ja, Sie haben in gewisser Hinsicht ja recht. Ich war nicht bereit, den Preis zu bezahlen. Ich liebe Marion. Ich hatte nie die Absicht, Ivy zu heiraten.»
Jury schwieg einen Augenblick. Seine Gedanken waren zu dem Gespräch mit Stella Broome zurückgewandert. Tolle Schlitten und tolle Männer. Im Grunde das gleiche wie bei Ivy Childess. «Mr. Winslow, vor etwa zehn Monaten wurde eine junge Frau in einem Gehölz am Straßenrand zwischen Exeter und Bristol ermordet. Sie hieß Sheila Broome. Sagt Ihnen der Name etwas?»
Hugh Winslow schien erleichtert, daß sie das Thema Ivy Childess verließen. «Nein, nein, ich habe den Namen nie gehört.»
«Ende Februar. Am neunundzwanzigsten, um es genau zu sagen.»
Er versuchte zu lachen, doch es blieb ihm im Halse stecken. «Offensichtlich fragen Sie mich, wo ich da war.»
Jury lächelte. «Ganz richtig.»
Winslows Stimme wurde frostig. «Ich glaube, ich war im Ausland. Ich habe ein Büro in Paris. Aber ich kann das selbstverständlich in meinem Terminkalender nachprüfen, wenn ich auch bezweifle, daß dieses spezielle Treffen darin notiert ist, wenn ich nach Devon gefahren wäre.»
«Überprüfen Sie es trotzdem, Mr. Winslow. Ist das Ihr Jaguar da draußen?»
Er schien verwirrt. «Nein. Der Mercedes gehört mir. Warum?»
«Haben Sie mal einen Jaguar besessen?»
«Natürlich.» Er zuckte die Achseln.
Hat das nicht jeder? Jury lächelte. «Wann war das?»
«Oh, vor zwei oder drei Jahren, glaub ich. Aber ich verstehe nicht, warum …?»
«Sie haben gesagt, Sie hatten nie die Absicht, Ivy zu heiraten. Das klingt ganz ähnlich wie das, was auch Ihr Schwager sagte.»
Winslow rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. «Ivy war – na ja, sie war entsetzlich opportunistisch. Und ich habe nie jemanden gekannt, der so geschickt war, Sachen aus einem herauszukitzeln. Die Art Frau, der man sich anvertraut und es anschließend bereut …»
Er schwieg. Jury dachte einen Augenblick lang nach. «Ist es denkbar, daß Ihr Schwager ihr etwas anvertraut hat?»
«David? Wahrscheinlich. Er ist viel weicher, als man gemeinhin annimmt. Aber ich wüßte nicht, was er ihr anzuvertrauen gehabt hätte. David ist ein sehr offener Mensch.»
Angesichts der Tatsache, daß man Hugh aus dem Familienkreis ausgeschlossen hatte, fand Jury ihn ziemlich nachsichtig. «Mr. Marr scheint ziemlich viel Geld durchgebracht zu haben, wie Ihre Frau sagte. Und er scheint gerne an Orte wie Cannes oder Monte Carlo zu reisen …» Jury kam David Marrs erfreulich schlampige Pinnwand in den Sinn. «War er eigentlich mal in Amerika?»
Hugh Winslow runzelte die Stirn. «Nicht daß ich wüßte. Keiner von uns war jemals dort. Rose – das war Edwards Frau – redete immer davon, hinzufliegen. Ich wollte auch immer …»
«Ja, ich auch. David Marr scheint eigentlich keine teuren Vorlieben zu haben, auch wenn er gern vom Spielen, von Casinos und vom flotten Leben redet. Deshalb wundere ich mich über all das durchgebrachte Geld.»
«Ich kann mir nicht vorstellen, daß David Ivy Schweigegeld gezahlt hat. David ist viel eher der Solls-doch-jeder-wissen-und-denken-was-er-will-Typ.»
«Hängt wohl davon ab, was es da zu verbreiten gibt. Und wie steht es mit Ihnen, Mr. Winslow? Sind Sie der gleiche Typ?»
Erschrocken wandte sich Winslow ab. «Ich habe Ivy wohl ein bißchen was geliehen.»
«Geliehen. Und was heißt ‹ein bißchen was›?»
«Ein paar tausend.» Hastig, als würde dies das Darlehen rechtfertigen, fügte er hinzu: «Sie wollte sich in den Laden einkaufen, in dem sie als Verkäuferin arbeitete. In Covent Garden …»
«Vielleicht entspricht ein paar tausend ja Ihrer Vorstellung von ‹ein bißchen was›, meiner nicht. Natürlich würde es ein Erpresser so nennen.»
Winslow war aschfahl.
«Dieser Unfall Ihrer kleinen Tochter passierte gegen zehn Uhr …»
«Was hat denn das damit zu tun?»
«Vielleicht eine ganze Menge. Um zehn Uhr abends rannte Phoebe auf die Straße hinaus. Sie sagen, sie hatte manchmal Temperamentsausbrüche. Soll das die Erklärung dafür sein, warum eine Achtjährige spätabends auf eine dunkle Straße hinausrennt? Oder gab es da noch einen anderen Grund? Obwohl Edward, wie Sie sagen, hier war, blieb er nicht über Nacht. Das heißt, sie waren zusammen mit Phoebe hier. Und möglicherweise mit noch jemand anderem.»
«Ivy war da», sagte er und stützte den Kopf in die Hand, als sei er ein zerbrochener Gegenstand. «Phoebe hat uns gesehen.» Er blickte nach oben, als riefe er sich eine Szene im ersten Stock in Erinnerung. «Es war entsetzlich.» Wieder ließ er den Kopf auf die Hand sinken. «Aber sie hat mich nicht erpreßt, Superintendent.»
«Vielleicht nicht so richtig. Aber lief es nicht im Grunde auf das gleiche hinaus? ‹Ein paar Tausender, und ich erzähle Marion nicht, was in dieser Nacht passiert ist›?»
Winslow schwieg.
Jury erhob sich: «Wir werden uns später noch mal unterhalten müssen.»
Hugh Winslow brachte ihn zur Tür, wo er, als spräche er noch immer über sie, meinte: «Der Preis wäre Marion gewesen. Ich bin ja wohl jetzt schon ein Paria. Sie melden sich kaum noch bei mir.» Er wirkte sehr erschöpft.
«Ja», war Jurys einzige Antwort. Ein Paria. Wie er da in der Halle stand, hatte Jury Mitleid mit ihm und dachte daran, wie einsam er doch war. Sie hatten ihn in die Verbannung geschickt.
Vom Bürgersteig blickte er zurück und sah den Mann noch immer im Türrahmen stehen und über ihm den Ziergiebel mit dem verblichenen Wappen, dessen Ursprünge wohl längst in Vergessenheit geraten waren. In dem kleinen Park auf der anderen Straßenseite gingen ein paar Leute spazieren und genossen die privilegierte Abgeschiedenheit.