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DAS WIRTSHAUSSCHILD DES MORTAL MAN knarrte gespenstisch in Wind und Schnee, beleuchtet allein von einer trüben Metallampe, die dem fahlgesichtigen Sensenmann auf dem Schild ihre Lichtsichel lieh. Das Licht, das sich aus den Fenstern der Schankstube des Gasthofes ergoß, war um keinen Deut heller oder freundlicher. Und es entwich durch den Rahmen und die Ritzen eines vernagelten Fensters, dessen Läden genauso mürrisch klapperten wie das Schild. Mochte der Mortal Man tagsüber auch durchaus zu dem hübschen Bild beitragen, den Dorfanger, Ententeich und die Reihe reetgedeckter Häuser dahinter abgaben, in der Dunkelheit und der Kälte wirkte er ausgestorben, vergänglich, bar jeglichen Lebens und jeder vergnügten Wirtshausstimmung.

 

Im Innern wurde dieser Eindruck jedoch rasch zerstreut. Da gab es mit Sicherheit genug Leben für mehrere Dorfanger mit allem, was dazugehört. Eine Kakophonie plärrender Stimmen schlug ihm entgegen beziehungsweise zog in Person einer Frau, eines jungen Mädchens und eines noch jüngeren Burschen mit Hund schmetternd an ihm vorüber. Der Hund stoppte bei Jurys Anblick so verdattert, als wäre er gegen eine Wand gerannt, umkreiste dann wie verrückt dreimal Jurys Beine und japste schließlich wieder dem Jungen hinterher.

Nach einer weiteren Minute raste das glückliche Quartett aus der anderen Richtung zurück, hatte also sein logistisches Problem, falls es darum ging, nicht gelöst. Der Hund dachte daran – als handle es sich um eine Beschwörungsformel –, erneut um Jurys Beine zu rennen, ehe er den anderen nachwetzte.

«Die übliche Begrüßung im Mortal Man», sagte Melrose Plant, der breit lächelnd und eine seiner kleinen Zigarren rauchend im Eingang der Schankstube erschien. «Sie kommen wieder. Diesmal sind Sie ja noch glimpflich davongekommen, aber verlassen Sie sich lieber nicht darauf.» Plant winkte ihn herein. «Die St. Clairs ersparen Ihnen möglicherweise eine Fahrt zu den Steeples. Betrachten Sie es als doppeltes Glück.»

 

Hinter der Bar stand der stämmige Besitzer und verglich offensichtlich Notizen mit einem hochgewachsenen Mann, der mit drei Gläsern vor sich an einem danebenstehenden Tisch saß. Er wurde Jury als St. John St. Clair vorgestellt und die junge Frau neben ihm als seine Tochter Lucinda. Der Gentleman hinter der Bar, der offensichtlich auf Fliegenjagd mit seinem Handtuch herumfuchtelte, klatschte es so hart gegen den Spiegel, daß ein Stückchen des vergoldeten Rahmens herunterfiel.

Jurys Angebot, die Drinks zu spendieren, wurde von St. Clair mit einem traurigen Kopfschütteln quittiert. Er habe, sagte er und musterte dabei die drei Gläser vor sich, schon alle irischen Whiskeysorten des Warboysschen Bestandes ausprobiert. Alle seien mangelhaft. Selbstverständlich sage dies nichts über Mr. Warboys aus, sondern nur etwas über die allgemeine Instabilität jenes Landes. Der Hauptunterschied zwischen dem Gastwirt und seinem unglücklichen Gast war, daß der eine ein rundes, rotes und der andere ein trauriges, langes Gesicht hatte. Beiden erschien das Weltende nicht mehr fern.

Nathan Warboys verlor keine Zeit, Jury davon zu überzeugen, daß er, falls er irgendwelche Heiratspläne habe, sie sofort aufgeben solle. «Nehmen Sie nur meine Sally. Also, glauben Sie nich, daß ich nich weiß, auf was die aus is. Geht jede Nacht aus und takelt sich auf wie ’ne Fregatte. Is ja schon bekannt wie ein bunter Hund.»

Offensichtlich hatte der Hund dies als einen Ruf an die Front aufgefaßt, denn er raste jetzt durch den Raum und riß sich mit einem mächtigen Knurren St. Clairs Spazierstock zwischen die Zähne. Während er so zerrte und knurrte, verhakte sich der Griff am dünnen Stuhlbein und ließ Tisch und Gläser umstürzen. Nathan Warboys nahm ein Scheit von dem Holz, das aufgestapelt an der Theke lehnte, und ließ es durch die Luft sausen, wobei er Melroses Kopf nur knapp verfehlte. Dann sagte er, es käme gleich jemand, um die Sauerei aufzuwischen.

Bloß nicht, hoffte Melrose. St. Clair nahm es recht philosophisch, tupfte an seinem Hemd herum und nahm das Gespräch an dem Punkt wieder auf, wo Nathan es abgebrochen hatte. «Natürlich haben Sie recht, Mr. Warboys. Die Ehe kann eine ungemein traurige Angelegenheit sein, wenn ich Ihnen auch nicht zustimmen kann, daß es allein die Schuld der Frau ist. Nein, Schuld haben stets beide. Sicher gibt es Ehefrauen – nicht Ihre, nicht meine, zumindest bisher nicht –, die entsetzlichen Ärger machen. Sehen Sie sich doch nur mal die arme Marion an …»

«Marion hat nie Ärger gemacht, Daddy.»

«Sie nicht, nein. Wir wissen von keinerlei Ärger, den sie verursacht hat. Die Tatsache, daß Hugh wegbleibt, muß einen anderen Grund haben, aber darüber sollten wir lieber nicht reden. Der Stoff ist auch nicht mehr, was er mal war. Ich bezweifle, daß dieser Fleck rausgeht.» Er tupfte sich die Krawatte mit dem Handtuch ab. «Ich spreche von dieser Person, deren Ermordung man dem armen David zur Last legt. Was für eine entsetzliche Geschichte.»

«Haben Sie sie gekannt, Mr. St. Clair?» fragte Jury.

Nathan Warboys schenkte sich wieder nach: «Von so einer hält man sich besser fern, was.»

«Nein, ich habe sie nicht gekannt. Gott sei Dank. Aber Lucinda, glaube ich.»

Als Jury sich an Lucinda wandte, sagte sie: «Ich bin Ivy Childess nur einmal begegnet. Ich kannte sie kaum. Es war auf einer kleinen Party in Knightsbridge.» Eifrig beugte sie sich zu Jury vor und sagte: «David kann das gar nicht getan haben. Es ist einfach nicht seine Art, etwas so – Schreckliches zu tun.»

Kein Zweifel, daß Plant in bezug auf Lucindas Gefühle für David Marr recht gehabt hatte. Jury fragte sich, wie weit diese Gefühle sie treiben würden. «Dann sind Sie also oft im Winslow-Haus zu Besuch? Kommen Sie manchmal nach London, Miss St. Clair?»

«Ganz selten», sagte Lucinda.

«Am besten gar nicht, mein Liebes», sagte ihr Vater. «Und vergiß nicht Edwards Unglück», fuhr St. Clair fort, wobei sich seine sonore Stimme mit dem hohlen Klang der Glocke in der Dorfkirche vermischte, die gerade schlug.

Warboys, der einen Zahnstocher in seinem Mund herumhüpfen ließ, sagte: «Sie meinen wohl, die Frau von ihm war so ’n richtiges Überraschungsei? Einfach auf und davon, sagt nicht auf Wiedersehn und läßt nie wieder was von sich hörn. Na ja, is lang her. Trotzdem ist das schon ein Ding, wenn eine Frau so reagiert, einfach abhaut ohne ein einziges Wort.» Nathan schien gerade die Vorzüge eines solchen nichtgattinnenhaften Betragens zu überdenken, als seine Frau auftauchte, um lautstark zu verkünden, daß jetzt die Bestellungen fürs Abendessen fällig seien.

Die St. Clairs verabschiedeten sich. Plant und Jury gingen durch die Diele ins Speisezimmer, während aus dem oberen Stock mehrfach ein leichtes Rumoren zu hören war.

«Das ist nur eine Warboys, die Ihr Zimmer herrichtet», sagte Melrose.

 

 

 

«WILLKOMMEN ZU EINEM ABEND mit den Warboys in voller Aktion.» Melrose ordnete sein Besteck und steckte sich die verschlissene Serviette in den Kragen.

Jury kniff die Augen zusammen. «Noch nie im Leben habe ich Sie mit einer Serviette unterm Kinn essen sehen.»

«Weil Sie mich noch nie bei den Warboys haben essen sehen.» Er hob sein Brötchen, merkte, daß es steinhart war und schlug mit dem Griff seines Messers drauf. «Da!» Das Brötchen zersprang und zerbröselte auf dem Teller. «Die Warboys haben gewalttätige Neigungen bei mir freigesetzt.»

«Dann essen sie also mit uns?» fragte Jury, der unter den Tisch gefaßt hatte, um Osmond hinter den Ohren zu kraulen.

«Wahrscheinlich.» Melrose hob den Rand des Tischtuchs, um nach dem Jagdhund zu sehen, der glücklich zu Jurys Füßen ein Nickerchen machte. «Der Hund muß tot sein.»

Das Speisezimmer wirkte festlicher als sonst, und sie waren nicht die einzigen Gäste. In der gegenüberliegenden Ecke saßen ein Mann und eine Frau, die zweifellos durch den Anschlag draußen, daß sie hier ein «Traditionelles englisches Abendessen mit allen Beilagen» erwarte, hereingelockt worden waren. Die Warboyssche Vorstellung von «traditionell» hatte wahrscheinlich mehr mit Sainsbury-Sandkuchen als mit selbstgemachtem Yorkshire-Pudding zu tun, dachte sich Melrose. Er stellte fest, daß seine und Jurys Leidensgenossen recht schweigsam waren und zu den schwarzen Fensterscheiben blickten, in denen sie nichts als ihre eigenen Spiegelbilder erkennen konnten. Verheiratet, vermutete er und hoffte, daß er dem Paar nicht nur seine Klischeevorstellung überstülpte. Er fragte sich jedoch, warum verheiratete Leute immer so unbehaglich wirkten, wenn sie in der Öffentlichkeit dinierten, als hätten sie Angst, jemand könnte denken, sie kämen gerade von einem heißen Rendezvous, wenn sie sich mal ansähen.

Eine Kette weißer Lichter beschrieb einen Bogen am oberen Fensterrand. An die Kamineinfassung waren die Strümpfe der Warboys genagelt. Melrose hatte zugesehen, wie sich Bobby Warboys energisch ans Werk machte und dabei fortwährend meckerte und plapperte, als ob er die ganze Weihnachtszeit an einen Baum nagle. Ein kleiner Weihnachtsbaum mit winzigen blinkenden Lichtern stand zwischen irgendwelchen Andenken auf einem Regal darüber – zwischen einer grünen Flasche mit Blumen und der Aufschrift Ein Geschenk aus Wells-Next-the-Sea, mehreren kleinen Fotos mit Gestalten, die nach abwesenden Warboys aussahen, einer noch lebenden und einer sich in der Agonie befindlichen Pflanze, einem ausgestopften Rotfuchs, der ein Auge auf Melrose richtete (das andere hatte Nathan ihm wohl rausgeschossen), einer Schale mit Plastikobst, dessen Trauben, wie Melrose meinte, diesem Wein wohl seine spezielle Würze verliehen. Neben der Speisezimmertür saß ein schielender, lamettageschmückter Porzellanleopard. So wie es aussah, lauter bei einem Ramschverkauf aussortierte Reststücke.

«Wo bleibt unsere Suppe?» sagte Melrose und drehte sich um, um zur Küche zu starren.

Wie auf ein Stichwort kam Mrs. Warboys mit zwei Tellern Suppe herausgestürmt. Klein, dick, blaß, hatte die Küchenkatastrophe sie in eine zitternde, aschgraue Masse verwandelt. Sie erinnerte Melrose an einen verrückten Mandelpudding. Die Suppe schwappte an den Schalenwänden hoch, als sie sie vor ihnen absetzte und die Auswahl an Hauptgerichten verkündete: «Kalbskotelett, Wiener im Schlafrock und Bombay-Ente.» Sie ließ den Blick nach rechts und links schießen, um zu sehen, wie sie es aufnahmen.

Melrose sah Jury an, der sagte: «Oh, zuerst Sie.»

«Ich versuche mal die Bombay-Ente, wenn das auch kaum meiner Vorstellung von einem traditionellen Weihnachtsessen entspricht. Ich hatte eher an so was wie ein schönes, nicht durchgebratenes Roastbeef gedacht.» Er lächelte so angestrengt, daß er schon befürchtete, Grübchen davon zu bekommen.

«Ganz recht. Leider aus.»

«Aus? Schon?»

Mrs. Warboys nickte über die Schulter in Richtung des Paares am Fenster. «Die beiden hatten das letzte Stück.»

«Aber sie sind doch die einzigen außer uns.»

Jury, der alle die ganze Zeit über im Auge behielt, lächelte und nippte an seinem Wein. Melrose hatte die Flasche Nathans Vorrat abgerungen. Die Warboys betrachteten alles, was sie besaßen, als ganz persönlichen Schatz, vom Fuchs mit dem blinden Auge bis zu dem mittelmäßigen Wein. «Für mich Wiener im Schlafrock, Mrs. Warboys», sagte Jury.

«Ja, Sir.» Sie glättete ihre Schürze und ihre Stirn und machte beinahe einen Knicks. Dann preßte sie das Tablett an ihren Busen und stapfte, nachdem sie etwas Dampf abgelassen hatte, davon.

«Ein Wiener im Schlafrock? Das wird Ihnen noch leid tun. Wahrscheinlich ist das wörtlich zu verstehen.»

«Ich habe das seit meinen Tagen in Good Hope nicht mehr gegessen.»

«Ist dieser Name nicht ein Euphemismus für diese frostige Anstalt, in der Sie Ihre Kindheit verbracht haben? Für mich klang das immer nach sibirischem Winter.»

«Das war es auch.»

Da die Küchentür nach beiden Seiten aufschwang, ermöglichte Mrs. Warboys’ Abgang gleichzeitig Williams Auftritt. Er raste am Tisch vorbei. «Ham Sie Sally gesehen?» fragte er sie, obwohl er Jury bis zu diesem Augenblick noch nie gesehen hatte. Nein, hatten sie nicht. «Sie ist weg und hat die Kartoffeln fürs Abendessen vergessen.» Er trollte sich davon.

«Wer ist Sally?»

«Eine weitere Warboys, die gibt’s hier in rauhen Mengen.» Melrose fuhr fort, seine Suppe zu löffeln.

Jury trank seinen Wein. «Was hatten Sie für einen Eindruck von der Familie Winslow?»

«Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, daß David Marr ein gutes Alibi hat.»

«Es gab einen Anruf. Wir haben es überprüft.»

«Ja, aber sie haben auch einen Anrufbeantworter. Nicht einmal Telecom, das beim Ermitteln rückständiger Zahlungen so unglaublich effizient ist, könnte Ihnen sagen, wer oder was den Anruf entgegengenommen hat. Nur, daß eine Verbindung hergestellt wurde.»

Jury schwieg einen Moment. «Und Sie glauben, daß Marion Winslow lügt.»

Melrose zuckte die Achseln. «Marion, David, Edward – jeder von denen würde für den anderen lügen.»

«Aber wenn das Telefon geklingelt hat, muß es doch jemand gehört haben.»

«Nein. Die Dienstboten waren außer Haus. Wissen Sie, ich denke mir …», er leerte seinen Teller und legte den Löffel beiseite, «… daß Alibis ja immer zwei Leute entlasten.»

 

In diesem Augenblick jagte Sally Warboys durch das Speisezimmer wie eine graue, vor dem Sturm hertreibende Wolke und schleppte eine braune Tasche mit (wie Melrose vermutete) den Kartoffeln fürs Abendessen. «Vor dem Sturm» traf die Sache, denn ihr Vater war ihr hart auf den Fersen, fuchtelte wild mit den Armen und achtete nicht auf seine Kundschaft. Sally knallte in die Küche, und Nathan dachte offensichtlich, daß er den Tumult (das Donnern herabstürzender Töpfe, den Regen von Gabeln und Messern) nicht noch vergrößern müsse, denn er kam sofort wieder heraus. Einer staubfarbenen Katze gelang es fast noch, durchzuschlüpfen und Nathans Fuß auszuweichen, ehe sie von der einen Türhälfte gequetscht und von der anderen gestoßen wurde. Melrose beobachtete, wie sie blitzschnell durch den Raum sauste und beim Türbogen schlitternd zum Stehen kam, wo sie dann den Porzellanleoparden anfauchte, den sie anscheinend nie als Cousin akzeptiert hatte.

«Da kommt er. Tun wir so, als seien wir noch mit der Suppe beschäftigt», flüsterte Melrose Jury zu.

Nathan Warboys hätte sich sowieso nicht darum gekümmert, da er nicht eben ein sparsamer Redner war und nicht verlangte, daß ihm ein anderer seine Bemerkungen mit gleicher Münze zurückzahlte. Mit der üblich finsteren Miene sagte er: «Also, also, sieh dir das an. Wieviel Leute sitzen da drin, sach ich zu ihr. Issen richtches Fest, nich, und sie, jed’n Amd haut sie …»

Melrose schaltete ab. Aber Jury war ganz Ohr. Melrose fragte sich, unter welchem Schlackenhaufen von Nathans Konversation Jury den Goldklumpen zu finden hoffte. Bei Jury wurde noch eine eingefrorene Quelle zu einem Wasserfall, und Warboys schickte sich an, wie die Niagarafälle loszulegen. Glücklicherweise rief das schrille Brr-Brr des Telefons Warboys zu seinen Pflichten zurück.

An seine Stelle trat nun Sally, die wie eine Kartenspielerin die Teller austeilte und dabei die Hälfte der Bestecke vom Tisch schubste, ehe sie zu weiterem Unheil davonschlurfte.

«Sie haben von Marrs Anruf gesprochen. Erzählen Sie weiter.» Jury gabelte sich ein paar Kartoffeln.

«Der Anruf verschafft auch Marion Winslow ein Alibi. Ich habe nur einen flüchtigen Eindruck von ihr bekommen. Doch auch der hinterließ bei mir das Gefühl, als sei sie eine resolute Frau. Und Edward findet das offensichtlich auch, loyal wie er ist. Loyal, wie sie ja alle sind. Natürlich habe ich sie nur einen Augenblick auf der Treppe gesehen.» Melrose stellte sein Weinglas ab, inspizierte seine Bombay-Ente und stocherte so hier und dort mit seiner Gabel. Einen Augenblick später sagte er: «Ist Ihnen das Porträt von Edwards Frau aufgefallen?»

Jury nickte. «Mrs. Winslow sagte, sie behält es wegen Phoebe. Sie und die Ex-Frau hatten offensichtlich nichts füreinander übrig.» Jury zog eine halbe Wurst aus dem Teigmantel.

Melrose beugte sich hinüber, um auf Jurys Teller zu sehen: «Ich verstehe nicht, warum Mrs. Warboys den Yorkshire-Pudding an den Wiener im Schlafrock verschwenden mußte.»

«Es scheint Sie ja richtig mitzunehmen. Wie ist Ihre Bombay-Ente?»

«Ist von Bombay zu Fuß gekommen. Wissen Sie, Roses Verschwinden ist sicherlich nichts, für das man sich begeistern könnte. Aber für diese Ente hier auch nicht.» Er hielt ein Stückchen in die Höhe.

«Zurück zum Anruf. Wann hat sie die Dienstboten weggeschickt?»

«Ich hab mir ausgerechnet, daß es am Mordtag gewesen sein muß.»

«Aber sie konnte ja nicht wissen, daß ihr Bruder anrufen würde. Wegen eines nicht vorhersehbaren Anrufs hätte sie die Dienstboten kaum weggeschickt.»

«Vielleicht hatte sie die Absicht, nach London zu fahren, ohne daß es jemand erfuhr. Natürlich hätte sie dann den Anrufbeantworter eingeschaltet. Mit Sicherheit wollte sie in dieser Nacht keinen Anruf verpassen. Natürlich nur, wenn sie nach London geflitzt ist. Und da sie das Gerät auch häufig benutzt, wenn sie sich in einem anderen Teil des Hauses aufhält oder ein Nickerchen macht, würde sich niemand wundern, wenn sie nicht ranginge. Klar?»

«Da haben wir wieder das alte Problem, die Frage nach dem Motiv. Warum sollte sie Ivy Childess denn umbringen?»

«Vielleicht, um einen der beiden zu schützen – David oder Edward. Das wäre vielleicht das einzige, das sie dazu bringen könnte, jemanden zu töten.»

«Aber vor was denn beschützen?»

Melrose seufzte. «Mit Ihnen macht es wirklich keinen Spaß.»

«Aber das hier ist einer. Wie die Münze im Weihnachtskuchen.» Er spießte die zweite Hälfte der Wurst auf und hielt sie auf den Gabelzinken hoch. «Ihre Theorie gefällt mir ziemlich gut, bis auf eine Sache, die ziemlich offensichtlich ist.»

«Ich hoffe, Sie sind nicht so tollkühn, derlei bei Divisional Commander Macalvie vorzubringen. ‹Offensichtlich›, was Sie nicht sagen!»

«Nehmen Sie zum Beispiel die Beedles da drüben …»

«Wen?» Melrose folgte Jurys Blick. Der Herr am Tisch auf der anderen Seite bezahlte gerade seine Rechnung. «Woher kennen Sie denn ihren Namen?»

«Von Nathan Warboys. Haben Sie ihm denn nicht zugehört? Ich habe sie beobachtet und gesehen, wie lange sie schwiegen. Eine Ehe kann sehr entspannend sein, denke ich. Schließlich verlangt niemand von einem, daß man bei Tisch kluge Konversation macht …»

«Warum heiraten Sie denn nicht?» Melrose holte sein Zigarettenetui hervor, nahm eine dünne, handgerollte Zigarre heraus und ließ das Etui wieder zuschnappen.

«Ich spreche davon, wie es von außen betrachtet erscheint. Der Anschein kann oft stimmen. Man muß ihr Schweigen nicht als Ärger deuten oder sonst was außer dem Wunsch, sich nicht unterhalten zu müssen. Sheila Broome und der Lkw-Fahrer beispielsweise. Warum nicht annehmen, daß Sheila und der Fahrer sich ganz natürlich verhielten? Daß sie die typische Anhalterin war, die keine Lust hat, sich mit der Person, die sie mitnimmt, zu unterhalten? Und dann der Anruf, der tatsächlich gemacht wurde, von David, und entgegengenommen von Marion? Und die Dienstboten sind weg, um einen Krankenbesuch zu machen, weil an diesem Wochenende wirklich jemand krank geworden ist? Der Mörder könnte eine Frau gewesen sein, ja, natürlich, und es könnte auch Marion Winslow gewesen sein. Aber wie ich schon sagte, wir haben noch kein Motiv.»

Melrose zog Edward Winslows Gedichte aus der Tasche und reichte sie Jury. «Er ist ziemlich gut. Sie meinen ja, daß diese zwei Morde eins gemeinsam haben: nämlich die Methode. Die Opfer wurden mit ihren eigenen Schals, die sie sich um den Hals geschlungen hatten, erdrosselt. Es erinnert mich an Porphyria.»

«Porphyria?»

«Brownings Porphyria: ‹… Da glitt herein Porphyria.› Ihr Liebhaber erdrosselte sie mit ihren Haaren.»

«Das ist ja interessant. Die Porphyria-Morde. Das würde Macalvie gefallen. Für Wiederholungsdelikte ist er Experte.» Jury sah auf die Uhr. «Ich werde in Kürze bei den Winslows erwartet und fahre dann nach London zurück. Warum kommen Sie nicht mit?»

Melrose schüttelte den Kopf. «Nein, ich glaube nicht.» Er hielt eines der beiden kleinen auf dem Tisch liegenden Fotos in die Höhe, legte es wieder hin und hielt das andere hoch. Er hielt es auf Armeslänge von sich entfernt, zog es wieder heran und streckte erneut den Arm aus. Er kratzte sich am Kopf und schnitt eine Grimasse. «Diese Kellnerin im Little Chef. Was genau hat sie noch gesagt, als Sie ihr den Zeitungsausschnitt mit dem Foto von Marr zeigten?»

«Macalvie hat ihn ihr gezeigt. Mary Higgins sagte, er – das heißt David – sehe irgendwie bekannt aus. Also schickte Macalvie einen gutaussehenden, dunkelhaarigen Polizisten zum Kaffeeholen rein, einen Mann von Marrs Größe und Statur, und sie meinte, er käme ihr auch irgendwie bekannt vor. Macalvie glaubt, daß sie einfach zu bemüht war.»

Melrose griff wieder nach dem Foto der Winslows. «Trotzdem ist die Sache irgendwie komisch.»

«Komisch, warum?»

«Na ja, es ist doch unwahrscheinlich, daß die Person, die Sheila Broome umbrachte, ins Café gegangen ist. Aber angenommen, er hat es gemacht. Diese Kellnerin, haben Sie gesagt oder vielmehr Macalvie, war sehr aufmerksam. Sah den Lkw, den Fahrer, das Mädchen im Regen.» Er zuckte die Achseln. «Es kommt mir nur merkwürdig vor, daß sie, was die Identifizierung des Bildes angeht, dann so vage geblieben ist, immer vorausgesetzt natürlich, daß es da etwas zu identifizieren gab. Vielleicht ist das für sie alles ein bißchen schleierhaft … Ich wollte morgen nach Northants zurückfahren. Aber ich könnte ja vielleicht auch nach Exeter fahren, wenn Ihnen das recht ist.»

«Natürlich ist es mir recht. Aber wozu?»

Melrose schüttelte den Kopf. «Ich weiß nicht. Nur so ein Gedanke. Meinen Sie, ich könnte ein paar Abzüge davon mitnehmen?» Er hielt die Fotos in die Höhe.

«Klar. Ich lasse sie machen, wenn ich heute abend wieder im Yard bin, und kümmere mich drum, daß Sie morgen die Abzüge haben.» Jury wandte sich um. «Oh, hallo, William.»

William Warboys stand neben Jurys Ellbogen und guckte angespannt. Als sei das plötzliche Auftauchen seines Herrn das Signal zu einem Überfall, stürzte sich Osmond mit einem Hechtsprung auf Melroses Fuß.

Melrose zuckte zusammen. «Gütiger Gott, kann man diesen Hund nicht an die Leine nehmen?» Er machte mit dem Fuß einen Schlenker, um Osmond abzuschütteln.

William ignorierte es und sagte: «Ich habe rausgekriegt, wer Weldon getötet hat.»

«Weldon? Wer Osmond getötet hat, wäre ein befriedigenderer Krimi.»

«Sidney war’s.»

«Sidney? Sidney? Ich dachte, Sidney ist Weldons bester Freund.»

«Muß ja nicht sein, sonst hätte er ihn ja nicht umgebracht», sagte William sehr vernünftig. Dann wandte er sich an Jury. «Haben Sie Lust, hinten rauszugehen?»

«Und was ist da zu sehen?» fragte Jury.

«Gräber. So eine Art Friedhof. Wenn hier bei uns was stirbt, begrab ich es immer.» William sah auf sein Notizheft. «Da finde ich meine Anregungen.»

Melrose entgegnete: «Da findet ihr ja alle eure Anregungen.»