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OBEN IM ZWEITEN STOCK HOLTE Carole-anne Palutski die Slips ein, die sie auf einer zwischen Fensterbrett und einem nahen Ast aufgespannten Leine aufgehängt hatte. Die Reihe bunter Bikinihöschen blähte sich im Wind wie Fähnchen auf einer Yacht. Sie lebten nur zu dritt in diesem Haus in Islington – Mrs. Wasserman im Tiefparterre, Jury im Erdgeschoß und Carole-anne zwei Stockwerke höher, wo die Miete billiger war. Die Wohnung dazwischen stand leer, und Carole-anne hatte den Hauseigentümer dazu überredet, daß sie sie Interessenten zeigen durfte. Sie machte das nicht nur wegen des Mietnachlasses, den er ihr dafür einräumte, sondern auch, um sicherzugehen, daß niemand einzog, der ihre traute Dreisamkeit gefährdete.
«Hi, Super!» rief sie und winkte aufgeregt mit der freien Hand, als sähe sie ihn nicht jeden Tag. Die Unterhöschen schossen in die Fensteröffnung, der Kopf verschwand.
Jury stieg die Stufen zu seiner Islingtoner Wohnung hinauf und sah als erstes nach, ob Mrs. Wasserman zu Hause war. Jetzt, wo Carole-anne hier wohnte, hatte Mrs. Wasserman nicht mehr soviel Angst auf den Londoner Straßen, ging wieder öfter in die Läden und zum Schlachter und zum Gemüsehändler.
Während Jury die Treppe hochstieg, kam Carol-anne heruntergerannt, ließ ihre Espadrilles, schlapp schlapp, über die Stufen schlappen und hielt ein Fläschchen korallenroten Nagellack in der Hand. Fünf Finger und einen Fuß hatte sie schon fertiglackiert. Sie konnte gerade noch einen Zusammenstoß vor seiner Tür verhindern, was Jury nicht überraschte. Draußen auf der Straße hatte sie schon öfter Zusammenstöße verursacht. Carole-anne war der einzige Mensch, den er kannte, der nonstop über den Piccadilly Circus schlendern konnte. Heute trug sie Shorts und Oberteil in grellem Pink, was zusammen mit ihrem rotgoldenen Haar eine erstaunliche Kombination ergab. Bloß daß ein Teil des Haars, seit er sie vor fünf Tagen zum letztenmal gesehen hatte, noch intensiver rot getönt war. Warmes Korallenrot, verwegenes Rosa, metallisches Orange, feurig züngelndes Haar.
«Hallo, Carole-anne. Sie sehen ja aus wie ein mexikanischer Sonnenuntergang.» Als sie in seine Wohnung traten, fragte er sie, was sie denn mit ihren Haaren gemacht habe.
«Jetzt geht das wieder los», sagte sie ärgerlich, plumpste auf sein gefedertes Sofa und trug den Nagellack auf die restlichen Zehen auf. Dann meinte sie nachlässig «Oh», entknäulte ihre Gliedmaßen und zog einen Zettel aus dem Bund ihrer Shorts. «Hier. Von SB-Strich-H.»
Carole-anne weigerte sich, Susan Bredon-Hunt bei ihrem Namen zu nennen, gerade so als könne die Genannte durch eine solche magische Beschwörung aus einer Feuer-und-Rauch-Wolke vor ihnen auftauchen. Jury blickte auf den Zettel und die knappe Botschaft: acht Uhr.
Nun denn, Jury wußte nur zu gut, daß Susan Bredon-Hunt keine Frau weniger Worte war. Er wedelte mit dem Zettel. «Ist das alles? Kein blumiger Tribut an New Scotland Yard und seine Lakaien, deren erster ich bin? Keine Schnörkel und Umschreibungen? Nicht mal ‹herzliche Grüße, Susan›?» Er setzte sich hin, zog seine Zigaretten aus der Tasche und fragte sich, ob er noch Bier da hatte.
«Sie brauchen sich gar nicht so aufzuregen», sagte Carole-anne, ja, stieß es geradezu heraus. Sie lag jetzt schon fast auf dem Sofa, streckte die Beine in die Luft und hatte die Hände ins Kreuz gestützt. «Ich bin doch bloß der Scheiß-Anrufbeantworter hier, aber echt.»
Jury lächelte. Es stimmte schon. Carole-anne kam gerne herunter, um seine Anrufe entgegenzunehmen und ihre Platten auf seinem alten Plattenspieler zu spielen. Manchmal kam er nach Hause und hörte das klagende Wimmern von Tiny Rudy, ihrem Lieblingssänger, oder die Küchenchaos-Klänge (zerschepperndes Glas und Porzellan) von Ticket to Hell, ihrer Lieblingsrockgruppe. Nachdem sie einmal Zutritt zu seiner Wohnung besaß, hatte Carole-anne vor drei Monaten beschlossen, daß ihr Lieblingspolizist sich neu einrichten sollte, und (selbstverständlich ohne sein Wissen) bei Decors, einem der protzigsten Einrichtungshäuser Londons, angerufen, damit sie mit ihren Musterbüchern vorbeikämen.
Ihren großzügigen Umgang mit imaginären finanziellen Mitteln hatte sie inzwischen schon längst wieder vergessen, aber die Musterbücher waren trotzdem aufgetaucht, und zwar in den Händen von Susan Bredon-Hunt – groß, Mannequinfigur, hochmodisches Outfit und Messerschnitt …
Es klang allmählich richtig hart. Alles Carole-anne zu verdanken mit ihren zahlreichen Beschreibungen Susans. Ihre Kleider seien flach wie Backbleche. Aber wenn man da oben schon nichts hatte (die Beschreibung wurde allmählich anschaulich), mußte man ja auch nicht noch extra darauf hinweisen. Und dann diese Backenknochen. Sie sieht aus wie ein Kinderdrachen, besteht nur aus Flügeln – die Hüften, das Gesicht … Eines schönen Tages gucken Sie noch mal hoch zu meinen Höschen und sehen sie vorbeifliegen.
«Sie brauchen jemanden mit ein bißchen mehr Schwung», sagte sie und hielt die Beine wieder in die Höhe.
«Sie sind mir gerade schwungvoll genug. Kommen wir doch bitte noch mal auf den Job in diesem Schmuddelladen zurück. Sie können diesen Job einfach nicht …»
«Warum sind Sie bloß so ein alter Stockfisch, Super. Ist doch ein Aufstieg, oder?» Langsam ließ sie die Beine sinken.
«Aufstieg, daß ich nicht lache. Vom King Arthur’s nach Soho, das ist wie vom Regen in die Traufe.»
Sie keuchte jetzt vor Anstrengung, als sie die Füße über dem Kopf langsam wieder senkte. «Der Q. T. Club will nur, daß die Hostessen drauf achten, daß die Kunden immer was zu trinken und Chips haben. Sie wissen schon, zum Spielen.»
«Oh, und ob ich das weiß. Die ganze Sitte weiß es. Sie sehen aus wie eine Brezel.»
Sie wandte ihm den Kopf zu und streckte die Zunge heraus.
«An der verrenkten Takelage könnten Sie glatt noch ein Großsegel hissen.» Carole-anne seufzte und setzte sich auf. «Sie sollten erst mal das Kleid sehen, das ich anhabe …»
«Nein, danke.»
Sie hatte die Hände in die Hüften gestützt. «Mein Gott, Sie sind ja schlimmer als ’ne alte Mutti.» Sie warf den Kopf zurück. Ein erfolgloser Versuch, sich mit dem ganzen Schwall rotgoldener Locken über ihrem Gesicht hochmütig zu geben.
Jury seufzte. Er hatte größtes Verständnis für die alten Muttis dieser Welt, die ihre Kinder davon zu überzeugen versuchten, daß sie nicht tun sollten, was sie sowieso nicht tun wollten. Aber er nahm an, daß die Kinder eben auf irgend jemanden eindreschen mußten, weil sie eine solche Wut auf sich selber hatten und nicht den Nerv, etwas zu unternehmen, das gewöhnlich mit Schmerzen und Gefahr verbunden war.
«Um in diesem Lokal zu arbeiten, müssen Sie einundzwanzig sein. Und Sie sind unter.»
Es war schlimmer, als ihr zu sagen, sie sei häßlich. «Bin nicht unter, sogar schon drüber. Zweiundzwanzig.»
«Ach, tatsächlich? Letzte Woche, als Sie sich um diesen Steno-Job bemüht haben, waren Sie fünfundzwanzig. Weil fünfundzwanzig das gewünschte Alter war. So schwindet das Alter von Deinem göttlichen Antlitz.»
Sie wechselte das Thema. «Wie lange werden Sie denn weg sein?»
«Fünf Minuten. Lang genug, um den Q.T. Club zu schließen.»
«Mein Gott! Hören Sie doch endlich damit auf!» Sie packte ein Kissen.
Jury fühlte einen weichen Schlag an seiner Stirn. «Und was ist mit dem Theater? Sie können ja schlecht nachts arbeiten und Ihren Job dort ebenfalls behalten.»
Sie warf sich wieder auf die Couch. «Ist ja nicht mal West End. Sondern Camden Scheiß-Town! Und das nennen Sie Theater?»
«Rufen Sie einfach im Club an und erzählen ihnen, es täte Ihnen leid, aber sie müßten verreisen. Ihre alte Mutti liege im Sterben.»
Sie lag jetzt auf der Seite und machte mit den Beinen schnelle Scherenbewegungen. «Dann kommt SB-Strich-H also vorbei?»
«Sie heißt Susan. Ja, auf einen Sprung.»
Carole-anne setzte sich wieder auf und warf ihm aus ihren ägäisblauen Augen einen vernichtenden Blick zu. Zumindest bildete Jury sich ein, daß die Ägäis so blau sein mußte, von einem dunklen, schimmernden Blau, das in einen purpurnen Horizont überging. «Heute abend wollten wir in den Angel gehen.» Sie ließ sich zurückplumpsen wie eine Tote.
«Tut mir wirklich leid, Carole-anne. Ich hätte Susan eigentlich gestern abend treffen sollen und hab’s versäumt.»
Es waren Pluspunkte für ihn, daß er Susan versetzt hatte. Carole-anne ließ sich ein wenig erweichen, spielte die Gelangweilte und ließ eine Espadrille von ihren Zehen baumeln. «Wenn Sie mit ’nem Eis am Stiel ins Bett gehen wollen, von mir aus.»
Jury schloß die Augen, nicht so sehr vor Carole-annes Gemecker, als vielmehr, um das Bild von Susan, das sie gerade heraufbeschworen hatte, ein wenig aufzutauen. «Mit wem ich ins Bett gehe, ist doch wohl meine Sache, meinen Sie nicht auch?»
Nein, meinte sie nicht. Sie begann, den neuen Lack von ihrem Daumennagel zu schälen, und sagte: «Sie sollten lieber aufpassen und nicht mit jeder X-Beliebigen ins Bett hüpfen …»
«Carole-anne.» Es klang gefährlich.
Und irritierte Carole-anne nicht mehr als die Sandale, in die ihr weißes Füßchen gerade probehalber und sozusagen aschenputtelmäßig schlüpfte. «Wie spät ist es eigentlich?»
Jury war mißtrauisch. Carole-anne kümmerte sich nie um die Uhrzeit, wenn sie sich, aus welchem Grund auch immer, in seiner Wohnung aufhielt. Ihm war es so, als hätte er nur einen Teilzeitmietvertrag abgeschlossen. «Halb fünf. Warum?»
Sie stand auf und streckte sich, eine echte Augenweide, das sah selbst ein Blinder. «Oh, ich hab bloß gedacht, ich geh ein bißchen spazieren.» Sie drehte sich mit gestreckten Armen in der Taille. «Wann kommt SB-Strich-H denn?» Rechts herum, links herum …
Als ob sie das nicht wüßte. «Um acht. Warum?»
Sie setzte ihre Freiübungen fort. Jetzt waren tiefe Kniebeugen dran. Gleichzeitig zuckte sie mit den Achseln. «Nur so.» Sie beendete das Ganze mit einem Spagat.
«Sie können den Haus-Cheerleader spielen. Könnten Sie sich nicht ein bißchen um Mrs. Wasserman kümmern, während ich weg bin? Gehen Sie doch zum Beispiel mal mit ihr zum Bingo in der Upper Street oder so was.»
Carole-anne hielt auf halbem Wege zum Fußboden inne. «Bingo?» In einem Ton, als hätte er sie gebeten, ein Kloster zu besuchen.
«Natürlich. Sie hat Busenfreundinnen, die jede Woche hingehen.»
«Na schön …»
«Als Belohnung hab ich auch eine Überraschung für Sie.»
Carole-anne liebte Überraschungen. «Klar, ich geh mit ihr zum Bingo. Seh ich denn nicht sowieso ständig nach Mrs. W.?»
Das tat sie wirklich. Jury sagte. «Ich habe einen Job für Sie gefunden.»
Noch immer mißtrauisch, nahm sie die Karte, die er ihr hinhielt. «Ist das die Überraschung? Was ist das denn?» Sie blickte auf die Karte.
«Sie werden begeistert sein. Sie dürfen ein Kostüm tragen, Carole-anne.»
Damit hatte er ihre Aufmerksamkeit geweckt. Carole-anne würde im Untertagebau arbeiten, wäre es mit einem Kostüm verbunden. Es war einer der Gründe, warum sie eine begeisterte und gute Schauspielerin war.
«Was für ein Kostüm?» Ihre Augen leuchteten, als sie sich vom Boden hochrappelte.
«Oh, so eine Art Satin-Turban gehört dazu. Mit lauter Sternen drauf. Sie dürfen wahrsagen.» Er mußte lächeln, als er ihr breites Lächeln sah. Carole-anne hatte schon eine Menge Spaß daran, Jurys Zukunft vorherzusagen. Und dann erst die Vorstellung, sie auf völlig fremde Menschen loszulassen, von deren tatsächlichem Leben sie nicht die Bohne wußte. Sie würde die Planeten herumschieben, wie es ihr gerade paßte. Auf dem Weg zum Angel hatte sie ihn einmal davon zu überzeugen versucht, daß das funkelnde Licht auf dem Postamt der Halleysche Komet sei.
«Ist das so eine Art Kirmes? Hab ich einen Stand?»
«Eigentlich ist es ein Laden. Was den Stand angeht, bin ich mir nicht so sicher.» Er reichte ihr die kleine Karte. «Der Besitzer möchte, daß Sie sofort vorbeikommen. Madame Zostra sollen Sie da heißen», fügte er hinzu. «Madame Zostra, berühmte Hellseherin …» Wo hatte er das nur gelesen?
«‹Starrdust›, na so was», sagte sie und studierte die Karte. «Was verkaufen die denn da?»
Jury lächelte. «Oh, Verschiedenes. Träume vielleicht.»
Carole-anne seufzte und steckte die Karte in den Bund ihrer Shorts. «Wenn SB-Strich-H kommt, haben Sie auch so einen Traum nötig, Super.»
Ihre Espadrilles schlappten in den Flur und die Treppe hinauf.
SUSAN BREDON-HUNT, DIE BARFUSS und im Seidenteddy im Zimmer herumspazierte, sprach über eine Zukunft, von der sie offensichtlich glaubte, daß sie sie gemeinsam verbringen würden. Sie redete in der Tat eine Menge. Sobald sie in seine Wohnung kam, zog sie sich stets aus, aber nicht, wie er merkte, um sofort mit ihm ins Bett zu gehen oder gar, um auf sympathische Weise wollüstig zu wirken. Anscheinend mußte sie ausgezogen sein, um nachdenken zu können. Hin und her tänzelnd (irgend etwas Pferdehaftes hatte Susan, die an Fuchsjagden teilnahm, schon an sich) zog sie an ihrer Zigarette und trank ihren Wein. Das ballonförmige Glas hielt sie in beiden Händen wie eine kleine Kristallkugel, aus der sie ihre gemeinsame Zukunft las.
«… und es wird Zeit, daß du Daddy mal kennenlernst, Richard. Ich hab erst heute mit ihm im Claridge’s zu Mittag gegessen, und er möchte, daß du mal auf einen Drink vorbeikommst …»
Und so weiter. Eigentlich deprimierte es ihn, nur daran zu denken. Das Herrenhaus irgendwo in Suffolk. Eine mit Orden gespickte Familie, die aus allen möglichen Variationen von höchsten Ordensträgern des Britischen Empire bestand. Hier ein Befehlshaber, dort ein paar Offiziere, aber selbstverständlich keine gewöhnlichen Ordensmitglieder. Daddy, erinnerte er sich, war Knight of the Thistle. Jury vermutete, daß er selber irgendeine verwegene Seite in Susan ansprach, den Wunsch, etwas Schockierendes zu tun, wie etwa einen Beamten, einen Polizisten, zu heiraten.
Er wünschte, sie würde mit ihrem Auf- und Abmarschieren, dem Pläneschmieden und all dem Gerede über eine Zukunft aufhören, die sie mit Sicherheit nie gemeinsam verbringen würden. Sogar ein Streit wegen seines plötzlichen Verschwindens an einem der letzten Abende wäre befreiend gewesen und hätte sie ihm nähergebracht. Doch als er darauf zu sprechen kam, wischte sie die Sache einfach nur beiseite und redete weiter über die Zukunft, ihre gemeinsame Zukunft, als dekoriere sie ein Schaufenster mit irgendwelchen großartig harmonierenden Sekretären und türkischen Teppichen.
Als sie an seinem Sessel vorbeikam, griff er nach ihr und zog sie auf seinen Schoß, wobei er ein wenig Wein über die pfirsichfarbene Seide verschüttete, die ihre kleinen Brüste bedeckte. Er ließ die Hände über ihre Seiten wandern, von den eckigen Schultern bis zu den knochigen Hüften, während sie am Weinflecken rubbelte.
«Der war nagelneu, Richard», sagte sie und zog ein Gesicht.
«Ich kauf dir einen neuen.» Er vergrub das Gesicht an ihrem Hals …
Es klopfte an der Wohnungstür.
Er wußte, wer es war.
«Oh, hoffentlich störe ich nicht …», sagte die Mieterin aus dem zweiten Stock. Carole-anne Nouveau trug ein feuerwehrrotes Kleid, über dessen Vorderseite jeder Mann mit Vergnügen ein Faß Wein verschüttet hätte. Am Hals war es rautenförmig ausgeschnitten, und der chinesisch wirkende Stehkragen wurde von irgendeinem glitzernden Modeschmuck zusammengehalten. Die Hautenge des Kleides machte echte Diamanten auch überflüssig. Er konnte es kaum fassen, aber sie trug tatsächlich eine Kasserolle in den Händen, die herrliche Düfte verbreitete. «Dein Lieblingsgericht.» Sie lächelte lieb.
Er hatte zwar keine Ahnung, was sein Lieblingsgericht war, aber plötzlich verspürte er einen Wahnsinnshunger. Auf Alkohol, Essen, Sex. «Danke», sagte er mit unbewegtem Gesicht.
«Und hier ist dieser Song …» Süßes Lächeln. Sie tänzelte zum Plattenspieler hinüber, stellte die Kasserolle ab und zog die Platte aus der Hülle. Sie drückte auf den Knopf, wandte sich an Jury und blinzelte ihm zu, falls man eine so schläfrige Bewegung der Wimper blinzeln nennen darf. «Kannst du dich erinnern … ach ja …»
Mit einem langgezogenen Seufzer lauschte sie ein paar Takten. «Of all the girls I LOVED before …» Verträumt fixierte sie Jury so lange, daß es für den Countdown auf einer Raketenabschußrampe gereicht hätte. «Das ist Julio. Erinnerst du dich noch an Spanien?»
Das einzige Spanien, das er je mit Carole-anne erlebt hatte, hatte zwanzig Minuten gedauert und war das Foyer des Regency Hotel gewesen. Er funkelte sie an, während Julio sich all der Mädchen erinnerte, die durch seine Tür gekommen und wieder gegangen waren.
Carole-anne tat, als bemerkte sie Jurys finsteren Blick nicht, als sie Susan die Kasserolle an den aprikosenfarbenen Busen drückte und (mit völlig anderer Stimme) sagte: «Zehn Minuten auf dem Herd, meine Liebe. Tja.»
Der Dampf, der aus der Kasserolle stieg, war nichts im Vergleich zu dem, den Susan Bredon-Hunt abließ.
AM NÄCHSTEN MORGEN VERSTAUTE Jury seine Sachen im Wagen und stieg die Stufen zur Wohnung im Tiefparterre hinab. Er war erstaunt, als er sah, daß die Tür einen Spaltbreit offen stand und die schweren Vorhänge zurückgezogen waren. Mrs. Wasserman besaß genügend Schlösser, um die Auslage eines Schlossers zu bestücken, und normalerweise brauchte sie fünf Minuten, um die Tür zu öffnen. Heute allerdings nicht. Seit Carole-anne vor einem Jahr die Wohnung im obersten Stock übernommen hatte, hatte Mrs. Wasserman die Zugbrücke ihrer Festung herunter- und auch ein wenig Licht hereingelassen.
«Ich wollte nur kurz fragen, ob Sie gerne was aus Brighton hätten», sagte Jury, als sie aus der Küche kam. Sie trug eine Schürze über dem marineblauen Kleid. Das Haar hatte sie straff nach hinten gekämmt und zu einer Spirale verdreht, die einer gespannten Uhrfeder glich.
«Ah! Mr. Jury, schön, daß Sie mal ein bißchen Urlaub machen. Warten Sie, ich hab was für Sie.»
«Kein Urlaub, Mrs. Wasserman», rief er ihr nach. «Schön wär’s.»
Während er wartete, sah er sich in der Wohnung um. Jetzt, wo die Sonne die Fensterscheiben wärmte und Lichtpunkte auf den kräftig gemusterten, noch aus Polen stammenden Teppich warf, sah es hier schon ganz anders aus als in dem finsteren Raum von damals mit vorgezogenen Gardinen und der Panzertür. Aber Jury verstand ihre Ängste. Mrs. Wasserman hatte ihr jetziges Alter von gut sechzig über diverse Fluchtrouten erreicht – Seitengassen, Tunnels, gesperrte Straßen, Stacheldrahtzäune. Das war in ihrer Jugend gewesen, in einer Zeit, die sie immer als den großen Krieg bezeichnete. Es war etwas, das sie trotz ihres Altersunterschieds gemeinsam hatten – den Verlust ihrer Familien.
Sie kam herein und trug ein kleines, mit Bindfaden verschnürtes Paket. «Ich hab das für Ihre Reise gemacht. Sandwiches. Feinste Putenbrust und eines mit Käse und Essiggurken.»
Er dankte ihr und nahm das Paket. «Passen Sie bitte ein bißchen auf Carole-anne auf. Vielleicht könnten Sie sie ja mal zum Tee einladen. Vielleicht könnten Sie sie auch zu Ihrem Bingo-Abend mitnehmen. Sie läßt sich’s ja nicht anmerken, aber ich glaube, sie fühlt sich manchmal einsam.»
«So ein süßes Kind, Mr. Jury.» Sie stiegen die drei Stufen zu ebener Erde hinauf. «Ist es nicht schön, daß sie jetzt diese neue Stelle hat.»
Jury war mißtrauisch. Er glaubte nicht, daß Carole-anne Mrs. Wasserman schon vom Starrdust erzählt haben konnte. Und sie würde doch weiß Gott nie über den Job reden, den sie im Q. T. Club annehmen wollte. «Eine neue Stelle?»
«Sie wissen doch, in dem Tag-und-Nacht-Waschsalon. Carole-anne sagt, sie muß Spätschicht arbeiten und kommt erst in den frühen Morgenstunden nach Haus. Ich hab ihr schon gesagt, sie soll aufpassen und ein Taxi nehmen.»
«Der Waschsalon. Ja, das hatte ich ganz vergessen.»
«Ist ja soviel besser als ihre alte Arbeit.»
Die alte Arbeit war Oben-ohne-Tanzen im King Arthur gewesen. «Ja, viel besser.»
«In der Bibliothek.»
Jury betrachtete eingehend den Boden zu seinen Füßen und blickte erst wieder auf, als die Haustür aufsprang und die Bibliothekarin in ihren hautengen Jeans und der unechten Pelzjacke heraustrat. «So verrückt sie auch nach Büchern ist, wurde wohl einfach zu schlecht bezahlt.»
«Ah ja, es ist verdammt schwer, heutzutage Arbeit zu finden. Und im Waschsalon kann sie auch noch gratis ihre Sachen waschen.»
«Hi, Mrs. W.!» rief Carole-anne fröhlich.
«Hallo, meine Gute», sagte Mrs. Wasserman. «Wie hübsch Sie wieder aussehen!»
«Danke, Mrs. W. Bin unterwegs zu einem Vorstellungstermin.» Sie blickte überallhin, bloß nicht in Jurys Richtung: straßauf, straßab, zum Himmel hinauf, um zu sehen, ob es schneite, regnete oder die Sonne schien – alles interessierte sie, nur nicht Jurys Gesichtsausdruck.
«Hallo, meine Gute», sagte Jury in einem gespielt – freundlichen Ton, den er selten an sich hatte. «Wenn Sie mit dem Turban und den Sternen fertig sind, können Sie gerne meine Wäsche waschen.»
Carole-anne sah ihn schief und frech an, als sei ihr dieser ungewaschene Fremde an der Türschwelle nicht ganz geheuer. Ihre weiße Stirn runzelte sich; die Tropfenohrringe zitterten. «Hä? Ich muß los. Bis dann.» Sie hauchte ein Küßchen in die Luft und schwang sich die Tasche über die Schulter.
Sie sahen, wie sie die Straße hinunterging. Erst wandte sich einer, dann noch einer der ihr entgegenkommenden männlichen Anwohner um. Auf der anderen Straßenseite verriegelte ein kleiner Mann mit Melone sein Gartentor, machte einen Quickstepschritt und schloß sich den beiden anderen an. Auch der Postbote ging gleich munterer an die Arbeit und stopfte die Briefe kreuz und quer durch die Türschlitze entlang Carole-annes Route.
«Tja, Mrs. Wasserman, jetzt sehen Sie sich bloß mal unsere Nachbarschaft an», sagte Jury mit einem Lächeln.