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DIE FRAU, DIE ZUR TÜR KAM, war groß und attraktiv und hatte toffeefarbenes langes Haar, das von der Kopfmitte aus glatt herabfiel. Früher mochte es so hell wie das des Mädchens auf dem Zeitungsausschnitt gewesen sein. Ihre Bluse war senffarben, die Seide von guter Qualität, aber weder der Farbton noch der Schnitt standen ihr. Sie besaß die schüchterne Ausstrahlung einer Frau, die nicht weiß, wie gut sie aussieht, oder es nicht oft genug gesagt bekam. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie zweifellos im Schatten ihrer schönen Schwester gestanden.
«Kate Sandys?» fragte Jury und zeigte ihr seinen Dienstausweis. Als sei sie sich nicht sicher, ob sie sich zu ihrem Namen bekennen solle, blickte sie schweigend von Jury zu Macalvie und dann wieder auf den Dienstausweis. «Wir müssen mit Ihrer Schwester sprechen, Miss Sandys. Ist sie da?»
«Dolly? Nein. Nein, sie ist nicht da. Worum geht’s denn?» Sie blickte über die Schulter in den hinter ihr liegenden Flur. Sie machte den Eindruck, als gehöre das Haus jemand anderem.
Macalvie stand links neben Jury und lehnte sich gegen den Türpfosten. «Erst mal hereinkommen.» Er legte seine Hand flach gegen die Tür und stieß sie auf.
Sie riß die Augen auf. «Warum? Was ist passiert? Ist Dolly etwas passiert?»
«Das wissen wir noch nicht.»
Mit einer nervösen Geste forderte die Frau sie auf hereinzukommen. Sie schob den einen Ärmel ihrer Seidenbluse hoch, fuhr sich mit der Hand über das hellbraune Haar, das ebenso seidig schimmerte wie die Bluse. Macalvie schob sich an ihr vorbei, pflanzte sich in der Diele auf und sah sich, die Hände in den Taschen vergraben, um, als betrachte er den Schauplatz eines Verbrechens.
Kate Sandys führte sie in einen großen, kalten Salon. Jury registrierte ein Fotoalbum, das aufgeschlagen auf einem Tisch lag, einen Mantel und einen Schal, die über einer Sofalehne hingen, und einen Brief auf dem Sims über dem nichtbeheizten Kamin. Über die Jahre hatte Jury ein immer feineres Gespür dafür entwickelt, wie manche Häuser, manche Räume von etwas zu Ende Gegangenem zeugten – einem Tod, einem überhasteten Aufbruch. Vielleicht war es die Nähe des Meeres, die den Eindruck hier noch verstärkte. Das Meer, die Fotos von Alt-Brighton an der Wand, das Aquarell vom Deck eines Ozeandampfers, verschwommene Figuren, die an der Reling winkten und, umgeben von flatternden bunten Wimpeln, fröhlich und unbeschwert zu wirken versuchten. Er blickte sich um und erwartete fast, daß die Möbel unter Schonbezügen steckten, der Überseekoffer gepackt bereitstand und vor der Haustür das Taxi im Nebel wartete.
Auf eine Frage Macalvies entgegnete Kate: «Sie ist ausgegangen.»
«Wohin?»
«Weiß ich nicht.»
«Denken Sie nach.»
Sie antwortete nicht. Statt dessen wandte sie kein Auge von Jurys Gesicht, als ob es das einladendere von beiden wäre. «Sie haben mir immer noch nicht gesagt, warum Sie sie sprechen wollen und was passiert ist.»
«Ihre Schwester Dolly befindet sich möglicherweise in großen Schwierigkeiten und in erheblicher Gefahr», sagte Macalvie.
«Was für einer Gefahr denn?» Ihre Hand fuhr zum Hals, die Finger spielten nervös mit der dünnen Goldkette auf ihrer Brust.
Jury erzählte ihr vom Hay’s-Mews-Mord. «Wir glauben, Ihre Schwester könnte etwas gesehen haben, vielleicht sogar den Mörder …»
Kate setzte sich plötzlich hin. «Sie meinen, er ist hierher gekommen, nach Brighton? Aber wie soll er denn wissen, wer …?»
«Ganz einfach», sagte Macalvie. «Dolly Sandys kommt jeden Abend in sein Wohnzimmer spaziert. Vor drei Tagen meldet sie sich krank, packt ihren Koffer und kommt hierher. Für den Notfall hatten sie aber im Studio Ihren Namen und Ihre Adresse. Und wir waren nicht die einzigen, die sich nach ihr erkundigt haben. Also denken Sie besser mal scharf nach.»
«Deswegen war sie also so niedergeschlagen. Seit ihrer Ankunft hab ich mich gefragt, warum sie eigentlich gekommen ist und was mit ihr los ist.»
«Haben Sie jemanden in der Gegend herumlungern sehen, Miss Sandys? Irgendwelche Fremden?»
Sie blickte besorgt auf. «Nein. Hmm, eigentlich doch. Da war ein Mann im Spotted Dog, das ist ein Pub hier in der Nähe. Wir sind ins Plaudern gekommen. Er sagte, daß er ein Zimmer sucht …» Sie spreizte die Finger. «Ich habe ihm von unserem Haus erzählt.» Sie klang angespannt. «Später, als ich darüber nachdachte, fragte ich mich, ob er der Mann war, den ich schon einige Stunden früher gesehen hatte, als ich zum Pavillon ging. Als ich herauskam und den Castle Square überqueren wollte, sah ich ihn am Ende stehen. Es war schon etwas enervierend. Er schien mich zu beobachten. So als ob er mir folgen würde.»
«Und was hat Ihre Schwester gesagt, als Sie ihr davon erzählten?»
«Ich habe es ihr ja nicht erzählt, wissen Sie. Dolly hat das Haus am frühen Nachmittag verlassen, um zu Pia Negra zu gehen. Das ist eine Wahrsagerin, eine Hellseherin mit einem Büro in den Lanes. Ich weiß, daß sie zurückgekommen sein muß, denn sie hat den Mantel gewechselt – hat den Pelz dagelassen und statt dessen den Regenmantel genommen. Aber ich habe sie nicht gesehen.»
«Sie sagen, sie ist zu dieser Wahrsagerin gegangen. Wo genau in den Lanes?»
«Black Horse Lane.»
Macalvie notierte es sich. «Okay, wohin hätte sie noch gehen können? Lieblingspub? Laden? Restaurant?»
Kate schüttelte den Kopf.
«Sie sollten sich lieber was einfallen lassen, Miss Sandys. Ihre Schwester ist mit einem Killer da draußen.»
Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. «Ich bemühe mich ja.» Sie rollte die goldene Halskette zwischen den Handflächen. «Ich dachte, es wäre ein Mann, daß sie wegen einem Mann Probleme hat.»
«Die hat sie auch. Sogar ganz gewaltige.»