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BEI DER LETZTEN BEGEGNUNG JURYS mit Brian Macalvie hatte Brian Macalvie eine dieser Musikboxen eingetreten. Heute ließ er sie wenigstens nur spielen. Für einen Mann, der wie Birnam Wood dazu neigte, Verdächtige anzubrüllen und seine Männer zu verschleißen, zeigte der Divisional Commander eine bemerkenswerte Vorliebe für alte Songs und sanfte Stimmen. Es war wohl ein von Macalvie ausgewähltes Stück, das jetzt den Running Footman mit seiner geflüsterten tristesse erfüllte.

Während er sprach, hob er kaum einmal den Blick von der Liste der Songs. «Hi, Jury. Hat ja ganz schön gedauert.» Macalvie steckte eine weitere Zehnpencemünze in die Jukebox und versetzte ihr einen Schlag in die Seite, als sie nicht gleich reagierte.

Jury hätte den ganzen Weg vom Präsidium herlaufen können wie der Kurier auf dem riesigen Gemälde, das dem Pub seinen Namen gegeben hatte. Wie schnell er auch immer wäre, nie wäre er schnell genug. Die Zeit tanzte auf eigentümliche Weise um Macalvie herum. Er griff den Faden stets dort wieder auf, wo er ihn hatte fallenlassen. Ob vor zwei Jahren oder zehn Minuten machte keinen Unterschied. Genauso wie der Mord vom letzten Jahr für Macalvie immer noch aktuell war. Er gab niemals auf.

Jury lächelte. «Die Welt bewegt sich in drei Zeitläuften, Macalvie: der göttlichen, Ihrer und der Greenwicher Zeit.»

Macalvie machte wohl gerade einen kurzen Zeitvergleich; denn er sah prüfend auf seine Armbanduhr und schüttelte sie, ehe er nickte. «Ja. Trinken Sie doch ein Bier. Aber nehmen Sie sich vor dem Gopher in acht; bei dem fallen sogar ’nein Brontosaurier die Schuppen ab.» Er nahm sein Glas von der Musikbox und ging zu einem der Tische unter dem Gemälde.

Als Jury mit seinem halben Liter zurückkam, stand Macalvie mit dem Glas an den Lippen da und betrachtete das Bild. «Genau das sind wir, Jury, Boten. Ob gute Nachrichten oder schlechte Nachrichten – die Leute beschweren sich immer, egal was wir bringen.» Er setzte sich hin. «Wo ist Wiggins?»

Für einen Divisional Commander, der seine eigene Einmann-Truppe bildete, weil er bei den geringsten Anzeichen von Bummelei oder Drückebergerei ausrastete, überraschte es, daß er mit Wiggins so gut auskam. So gut Wiggins auch war, er konnte ziemlich langsam sein. Und Krankheit beeindruckte Macalvie nicht mehr als eine Fliege einen Geparden.

Macalvie holte eine Zigarre hervor. Das Zellophan blitzte wie seine Augen. Er war wie eine Feuersbrunst auf zwei Beinen, festverwurzelt in seiner schottisch-irischen Herkunft, der durch seine ausgeprägte Vorliebe für amerikanische Polizeifilme noch die Krone aufgesetzt wurde..

«Warum sind Sie eigentlich noch nicht Chief Constable, Macalvie?»

«Fragen Sie nicht mich», sagte er ohne eine Spur von Ironie. «Ich wäre früher hier gewesen, aber dieser Zug, der von Dorchester abgeht, hält an jedem Hühnerstall.»

«Sie sind ohnehin schnell gekommen, wenn man bedenkt, daß wir das Mädchen erst heute früh gefunden haben. Sie sehen da vermutlich eine Verbindung …»

«Natürlich. Sheila Broome, die auf einem Straßenabschnitt außerhalb von Taunton gefunden wurde. Zehn Monate hab ich drauf gewartet, daß er seinen zweiten Schuh verliert.»

«Waren Sie sich dessen so sicher? Und Ivy Childess ist der Schuh?»

Macalvie schoß einen Blick zu ihm hinüber. «Ja.»

«Ich will Ihre Theorie ja nicht anzweifeln, Macalvie …»

Als wenn Sie das könnten, sagte sein Blick.

«… aber Mörder sind nicht unbedingt Serientäter, und jeden Tag werden Frauen überfallen. Ich glaube nicht besonders an solche verblüffenden Übereinstimmungen.»

«Also, ich bitte Sie. Sie glauben doch genausowenig daran wie ich, daß das ein Raubüberfall werden sollte.»

Das stimmte allerdings. «Ich bin bloß konservativer, Macalvie.»

«Kein Wunder, daß Sie Superintendent geworden sind, Jury.»

Jury ging über die Bemerkung hinweg. «Also, erzählen Sie mir von dieser Sheila Broome.»

«Sie zog am Abend des 29. Februar los, um nach Bristol zu fahren. Sagt ihre Mum, nur daß sie Mum erzählt hat, sie hätte eine Mitfahrgelegenheit. Nach Bristol, wohlgemerkt. Da keiner ihrer Freunde etwas von der Reise wußte und niemand aus der Gegend sie mitgenommen hat, nehmen wir an, daß sie sich an die Straße stellte und per Anhalter fuhr. Sie war nicht zimperlich und hatte nichts Ungewöhnliches an sich. Schnupfte Koks und ging durch die Betten, wie ihre Freunde erzählten. Alter sechsundzwanzig, also kaum mehr ein Schulmädchen, nie verheiratet. Hübsch auf so ’ne trotzige Art, nicht gerade liebenswert, in der Schule nicht besonders und mit sechzehn abgegangen, also auch nicht ehrgeizig. Sie hat in einem Pub im neuen Teil von Exeter gearbeitet und dem Wirt nichts davon gesagt, daß sie abhauen wollte. Ein bißchen erinnert sie mich an eine alte Zeitung: Der Wind hätte sie bis nach Bristol wehen können, und keiner hätte es bemerkt.»

«Und was an diesem Mord veranlaßt Sie zu der Annahme, daß da mehr dahinterstecken könnte und Sheila Broome nicht einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war?»

«Weil sie weder ausgeraubt noch vergewaltigt wurde. Und sie sind ausgestiegen, beide, und haben im Wald Marihuana geraucht. Wenn Sie so rumgondeln und sich die Anhalterinnen ausgucken würden, was würden Sie bei denen suchen? Sex oder Geld oder beides. Aber bei Sheila war es weder noch. Ich glaube, daß es jemand war, der sie kannte. Könnte ein Mann, könnte aber auch eine Frau gewesen sein. Ich glaube, es war jemand, der sie gesucht hat …»

«Eine aussichtsreiche Methode, an sein Opfer zu kommen – einfach warten, bis es den Daumen rausstreckt.»

«Wenn man’s nicht eilig hat, ist das eine großartige Methode. Beide von ihrer gewohnten Umgebung entfernt.»

«Aber der Schal. Der sieht nicht nach vorsätzlicher Planung aus, Macalvie. Er hat einfach das benutzt, was sich gerade anbot.»

Macalvie stand auf und nahm die beiden Gläser. «Oh, ich vermute, er hatte noch was anderes dabei, einen Strumpf oder einen Revolver.» Er verschwand, um die Gläser wieder füllen zu lassen und, während er wartete, die Jukebox in Gang zu setzen.

Der Running Footman war nicht voll: einige Paare, ein halbes Dutzend Singles, die nett aussahen, als ob sie einer Fliege nicht mal für Geld etwas antun würden. Jury nahm an, daß man das sowieso nicht tat, wenn man in Mayfair wohnte.

Macalvie kam zum Tisch zurück, wo sie einen Augenblick lang nur dasaßen, tranken und der honigsüßen Stimme von Elvis Presley lauschten. Elvis war Macalvies Lieblingssänger.

«Wie ich schon sagte, sie wurde nicht ausgeraubt. Sie hatte ungefähr siebzig Pfund im Rucksack und noch mal zehn oder elf in ihrer Jacke. In ihrem Gepäck war auch eine goldene Uhr mit kaputtem Armband, und an den Fingern hatte sie zwei Ringe.»

«Was ist mit den Autos und den Fahrern? Hat man einen von denen gefunden?»

«Da war ein Lastwagenfahrer. Den hab ich bloß durch eine Kellnerin vom Little Chef gefunden, die sich an Sheila Broomes Gesicht zu erinnern glaubte, das heißt, nicht so sehr an das Gesicht als vielmehr an die Weste, die sie anhatte und die der Kellnerin gefiel, weshalb sie gefragt hatte, wo sie die her habe. In Stahlblau. Und sie erinnerte sich auch noch an den Sattelschlepper, weil er so groß war, daß er fast die Hälfte des Parkplatzes einnahm. Ein Glück für den Fahrer, daß die Kellnerin Mary die beiden beim Weggehen beobachtet hat. Sie sagte, daß er wohl mit Sheila losgefahren sein muß, aber als sie wieder zum Fenster hinausguckte, sei Sheila aus dem Führerhaus gestiegen. Durch den Nebel konnte sie kaum etwas sehen. Aber sie erkannte diese neonblaue Weste. Und dann versuchte Sheila vor der Tankstelle neben dem Café, von einem anderen Wagen mitgenommen zu werden.»

«Und hat sie sonst noch was gesehen? Hat einer angehalten?»

Macalvie schüttelte den Kopf. «Als sie wieder hinaussah, war Sheila nicht mehr da. Erzählen Sie mir jetzt was von Ivy.»

Jury berichtete Macalvie das wenige, das er wußte. Er nickte in Richtung der Seitenstraße und sagte: «Sie haben es sich wohl schon angesehen.»

«Natürlich.»

«Man hat sie zwei oder drei Stunden später gefunden.»

«‹Stunden›? Sie müßte ich in meiner Truppe haben.»

«Vielen Dank.»

«Keine Ursache. Ich bin ein Denkmal der Geduld, Jury. Erzählen Sie weiter.» Ehe seine Geduld jedoch auf die Probe gestellt werden konnte, wandte sich Macalvie an den Nebentisch und sagte zu den Gästen, sie sollten den Tisch festhalten. Sie starrten ihn nur erstaunt an.

«Prinzessin auf der Erbse trifft es wohl besser. Auf wie vielen Matratzen schlafen Sie eigentlich, Macalvie? Als ihr Freund sie zum letztenmal sah, stand sie da drüben im Eingang» – Jury nickte zur Tür hinüber – «und kochte innerlich.» Jury erzählte ihm von seiner Unterhaltung mit David Marr.

«Der Taxifahrer hat gesagt, sie hätte ihm gewinkt und sich’s dann anders überlegt?»

Jury nickte.

«Taxifahrer sind blind. Man muß nur mal versuchen, ein Taxi anzuhalten, um das zu wissen.»

«Nehmen wir mal an, der hier nicht», sagte Jury trocken. «Ist trotzdem kein tolles Alibi.»

«Wie wahr. Macht also schon zwei.»

«Aber Überfälle passieren doch jeden Tag, ein Mord hier und ein Mord in Devon …»

«Aber ich bitte Sie. Das hatten wir doch schon. Keine Vergewaltigung, kein Raub.»

«Das sind unsere Unbekannten, Macalvie. Das einzig bekannte Detail ist die Art, wie beide erdrosselt wurden.»

«Was wollen Sie denn mehr? Einen Stiefelabdruck auf ihrer Stirn? Es ist so, wie ich gesagt habe.»

Wie er gesagt hat, dachte Jury. Der Fall ist offen. Die theoretischen Erwägungen sind abgeschlossen.