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ALS DER MORRIS SCHLITTERND vor dem Steeples zum Stehen kam, hätte Melrose, falls er irgendwelche Anteile an Shrewsbury Pickles and Fine Relishes besessen hätte, sofort seinen Börsenmakler angerufen, so grimmig waren St. John St. Clairs Prognosen für sein Unternehmen ausgefallen. Vielleicht verleiteten ihn die nun bevorstehenden düsteren Monate (der Gastgeber hatte sie so geschildert) zum ständigen Liebäugeln mit der Gefahr im Straßenverkehr. Dem Zusammenstoß mit einem Lieferwagen, einer auf die Fahrbahn hängenden Weide und einer Steinmauer waren sie nur knapp entronnen. Und eben gerade hatte der Wagen den Schnee von einer Ligusterhecke geschüttelt und beinahe eine Vase mit gefrorenen Stengeln, die am Rand der breiten Freitreppe stand, umgestoßen. Wirklich eine Warboyssche Fahrt, dachte er, als er sich ein Stückchen Buchsbaumholz vom Mantel und einen Zweig von den Schuhen schnippte und St. John St. Clair die große und lebensgefährlich vereiste Treppe hinauf folgte.
Sybil St. Clair erhob sich mit ausgestreckten Armen und – wenn man sich ihr Kleid so betrachtete – mit fliegenden Fahnen, um ihn zu begrüßen. Das Kleid schien zum Großteil aus losen Enden und Tüchern zu bestehen, die aussahen, als würden sie gleich durch das lange Wohnzimmer davonflattern. Melrose sah, daß es ein sehr schöner Raum mit Rosenholzvertäfelung und einer Adam-Decke war. Vielmehr «gewesen war», denn Sybil, die sich etwas auf ihre innenarchitektonischen Fähigkeiten zugute hielt, hatte es völlig im Art-déco-Stil umgestaltet. Es gab einfach viel zuviel blaues Glas und grünen Marmor. Jetzt erinnerte er sich auch, daß sie eine recht umfangreiche Klientel hatte, die ganz versessen darauf war, daß Sybil für sie arbeitete. Er konnte sich allerdings kaum vorstellen, daß jemand, der auch nur ein Fünkchen Geschmack besaß, ihr Kunde würde. Sie brachte es fertig, Räume derart zu verschandeln, daß sie einen an alte Kinosäle erinnerten. Mit ihrem Flatterkleid und der fliegenden Haartracht, die überhaupt nicht zu ihrem rundlichen Gesicht paßte, erinnerte sogar sie selber an einen Filmstar von gestern.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihre beringten Hände zu ergreifen und sich den warmen Händedruck gefallen zu lassen, als sei er ein alter und lieber Freund. Mit ihrer flüsternden Art zu sprechen verstand es Sybil St. Clair, auch aus der kürzesten Bekanntschaft eine enge Beziehung zu machen.
Glücklicherweise teilten die St. Clair-Töchter den Hang ihrer Mutter zu Gefühlsergüssen nicht. Lucinda war einfach zu wohlerzogen und schüchtern, und die anderen waren abwechselnd zu hochnäsig oder erhaben. Die mittlere Tochter hieß Divinity und saß blaß und aufrecht auf einem harten Stuhl am Kamin. Die jüngste hieß Pearl und stellte sich auf einem vergoldeten Fauteuil zur Schau. Melrose fragte sich, ob die Mutter wohl einen Preis auf den Kopf der einen und einen Schleier auf den der anderen hatte setzen wollen. Pearl spielte mit einer sehr langen und kostspieligen Haarsträhne, und Divinity bot ihm eine schlaffe Hand und schenkte ihm ein schiefes Lächeln, das wahrscheinlich besagen sollte, daß sich diese kleine Zusammenkunft weit unter der Würde ihres himmlischen Auftrags befand.
Ein Jammer, daß die freundliche und aufrichtige Lucinda das lange Gesicht und die traurigen Augen ihres Vaters geerbt hatte. Und das Kleid schmeichelte ihr auch nicht gerade, möglicherweise aber dem Geschäft ihres Vaters, denn es hatte einen häßlichen Gewürzgurkenton, der durch das Kaminfeuer auf ihr Gesicht zurückgeworfen wurde und seine fahle Blässe noch verstärkte.
Sybil wandte sich an Melrose: «Wir wollten eigentlich unbedingt, daß auch unsere Nachbarn, die Winslows, kommen. Aber sie haben es nicht geschafft. Wir versuchen wirklich alles, um ihnen zu helfen.» Sybil seufzte und nahm sich ein raffiniert dekoriertes Canapé von einem Art-nouveau-Tablett.
Ehe Melrose noch fragen konnte, warum ihre Nachbarin denn Hilfe brauchte, sagte St. John St. Clair: «Es wäre schön, wenn sie etwas näher wohnen würde.» Er überflog mit kritischem Blick die Canapés und wählte schließlich zwei, die er auf seinen kleinen Teller legte. «Oder wenn wir überhaupt Nachbarn in der Nähe hätten. Ich weiß nicht, wozu wir dieses ganze Land eigentlich brauchen.» Er seufzte.
«Mein Gott, Sinjin, du wolltest dich doch hier einkaufen. Du hast doch immer gesagt, daß du Land willst.»
«Gutes Land, ja», sagte St. Clair.
«Wie meinst du das? Das Land ist doch völlig in Ordnung.» Sybil schenkte Melrose ein unangenehmes kleines Lachen, als wolle sie ihm versichern, daß ihr Land nicht schlechter als jedes andere sei.
«Wir können im Grunde doch überhaupt nichts anbauen. Peters sagt mir ständig, daß auf diesem Boden nichts wächst.»
«Mach dich nicht lächerlich. Unser Garten ist doch wirklich wunderschön. Marion hat es erst vorgestern gesagt.»
«Der Garten der Winslows ist wunderschön, meine Liebe. Nicht unserer. Und natürlich sagt die arme Marion das, sie ist die Liebenswürdigkeit in Person. Mit ihren Buschrosen könnte sie Preise gewinnen. Bei uns gedeihen doch nur Kletterpflanzen, weil sie dem Mehltau und den Pilzkrankheiten offensichtlich am ehesten widerstehen, die wiederum großartig bei uns gedeihen.» Er sagte dies mit einer Resignation, die langjährige Vertrautheit mit den Wechselfällen von Trockenfäule und Pilzerkrankungen verriet. Dann biß er in sein Gurkensandwich, betrachtete es stirnrunzelnd und legte es kopfschüttelnd wieder auf den Teller zurück.
«Mein Gott! Ihr seid mir zwei», sagte Pearl und rückte sich das kleine Kissen im Kreuz zurecht. «Ich bezweifle, daß Mr. Plant sich für unseren Garten und unser Land interessiert!» Was vernünftiger klang, als er es von Pearl erwartet hätte. Bis sie dann hinzufügte: «Ich bin mir allerdings sicher, daß Mr. Plant auch einen Garten hat.»
«Ich bin auch davon überzeugt, daß er einen hat, einen schöneren», sagte St. John etwas traurig. «Darf ich Ihnen nachschenken, Mr. Plant …?»
«Bitte.»
«… wenn ich auch sehr bezweifle, daß Sie noch mehr Gin mögen. Er ist wirklich nicht gut. Vielleicht ist der Whisky besser. Ein kleines bißchen?» Er hob die Whiskykaraffe.
«Der Gin scheint mir ganz in Ordnung, danke.» St. Clair hob verwundert die Augenbrauen. «Tatsächlich? Na denn …» Ein wenig zweifelnd machte er sich ans Nachschenken, während er weiter über die Gärten hier und anderswo sprach. «Natürlich sind Ihre Gärten in Northants erheblich besser als unsere …»
Melrose lachte. «Also da täuschen Sie sich sehr, Mr. St. Clair. Sussex ist die Gartengegend. Immer gewesen.»
Während er Melrose das Glas reichte und sich wieder hinsetzte, sagte er: «Oh, ja, in der Tat. Bestimmte Gegenden von Sussex. Aber hier in Somers Abbas läßt die Nässe alles absaufen, was ihr in den Weg kommt.» Er probierte seinen frischen Drink und runzelte die Stirn.
«Das ist einfach lächerlich, Sinjin. Hören wir doch endlich mit diesem dummen Gartengeschwätz auf …»
«Du lieber Himmel», sagte Divinity, als sei der Ausdruck von dort oben herabgeschwebt.
«Wir wollten wirklich, daß die Winslows heute abend kommen …» Eine Malzwhiskyflasche musternd, sagte St. John: «Ich verstehe schon, warum die arme Marion nicht unter Leute gehen wollte …»
«Arme Marion?» sagte Lucinda. «Ich finde, daß man eher vom armen David sprechen sollte.»
Sybil beugte sich nach vorn und fragte Melrose nachdrücklich: «Haben Sie gehört, was passiert ist?»
«Also wirklich, Mutter», sagte Divinity. «Wir sollten uns nicht mit diesem dummen Klatsch abgeben.»
Stirnrunzelnd stellte St. John die Flasche wieder an ihren Platz zurück und sagte: «Ich habe gar nichts gegen Klatsch oder Gerüchte, solange an ihnen nichts dran ist und durch das Weitererzählen deshalb auch kein Ruf ramponiert werden kann.» Er seufzte. «Aber dieser Fall macht einen allerdings schon stutzig. David Marr hat ja schon immer Pech gehabt – na ja, haben sie das nicht alle? Die unglücklichste Familie, die ich kenne, glaub ich, sogar unglücklicher als meine eigene. Edward war schließlich unglücklich verheiratet, stimmt’s, meine Liebe? Hieß sie nicht Rose? Und hat sie ihn nicht mir nichts, dir nichts sitzenlassen? Doch, ich glaub, so war’s. Und dann war da noch das kleine Mädchen, die arme kleine Phoebe, die bei diesem Unfall ums Leben kam. Und nicht zu vergessen Hugh. Hugh ist Marions Mann. Aber wir sehen ihn selten. Hugh lebt ganz allein in diesem Haus in Knightsbridge und kommt eigentlich nie.» St. John saß da, wurde noch ein bißchen trübsinniger und hielt schließlich inne wie einer, der in einer Höhle ein Streichholz nach dem anderen anreißt, nur um dann zusehen zu müssen, wie eins nach dem anderen und schließlich das letzte erlischt.
«Hugh lebt ja nicht direkt alleine», sagte Sybil. «Ich glaube auch nicht, daß Marion ihn wiederhaben will …»
«Ach, dazu sollten wir wirklich nichts sagen, meine Liebe. Wir wissen gar nicht genau, ob Hugh andere Frauen hat. Bestimmt nicht mehr als eine. Und dann gibt es noch den armen David, dem man die Verlobte ermordet hat.»
«Er war nicht mit ihr verlobt, Daddy», sagte Lucinda.
«Woher weißt du das denn?» fragte ihre Mutter.
«Marion hat es mir erzählt. Sie hat sie auf einer Cocktailparty kennengelernt. Im Londoner Haus. David und ein paar andere Leute waren da.»
«Dann war das Mädchen also schon im Haus?»
«Und was ist daran so komisch?» fragte Lucinda zornig. «Er hat sie eben mitgebracht.»
St. John warf einen prüfenden Blick auf den Teller mit den Canapés. «Es ist wirklich schade um die Jungs. Die beiden sollten sich endlich irgendwo häuslich niederlassen. Ich mag diese Fischpaste nicht. Ist jedenfalls nicht die Marke, die wir sonst immer nehmen.»
Pearl hatte ihren Platz verlassen, um sich vor das Feuer zu setzen, wo sie etwas von dem überschüssigen Licht, das von Divinitys Gestalt ausstrahlte, abbekommen konnte. «Edward wollte eigentlich heute abend vorbeikommen. Er wollte mir sein neues Buch bringen.»
«Aber ich habe es doch schon, meine Liebe», sagte ihr Vater. «Ich glaube, es ist im Auto.»
Sie verzog das Gesicht. Wenn schon nicht Edward Winslow das Buch brachte, wollte sie es offensichtlich gar nicht haben. Jetzt hatte sie keinen Vorwand mehr, um zum Haus der Winslows zu laufen und es selber abzuholen. «Ist Mr. Winslow Schriftsteller?»
«Dichter», sagte St. John. «Aber leider verkauft sich Lyrik ja nicht.»
Sybil lachte. «Das ist auch nicht nötig bei all ihrem Geld. Nun, Mr. Plant, ich bin mir sicher, Sie überlegen es sich noch mal und wohnen hier bei uns.»
Es kam so überraschend, daß Melrose keine Zeit fand, ihr in die Parade zu fahren, ehe sie weitersprach.
«Es gibt einfach keinen Grund, warum Sie im Mortal Man wohnen sollten, wo wir doch ein halbes Dutzend wirklich schöner Zimmer haben.»
«Er möchte aber dort wohnen, Mutter», sagte Lucinda. Sie blickte unglücklich zu Melrose hinüber, als ihre Mutter, völlig taub gegenüber jedem Versuch, ihren Plan zu vereiteln, schon fortfuhr: «Ach, Lucinda, mach dich nicht lächerlich. Sie glauben, daß Sie uns Umstände machen. Aber das tun Sie doch gar nicht, und ich weiß wirklich nicht, warum Lucinda nicht darauf bestanden hat, daß Sie hier bei uns wohnen.»
«Mutter, er will nicht.»
«Lucinda, bitte. Ich habe ein Zimmer mit einem wirklich herrlichen Kamin herrichten lassen …»
«Er qualmt», sagte St. Clair und stellte seinen Whisky beiseite.
Melrose wurde schon langsam unruhig, als er sah, daß Sybil St. Clair nach dem Diener läutete. «Der Gasthof ist vorzüglich, Mrs. St. Clair, bitte machen Sie sich …»
«Er qualmt keineswegs, Sinjin. Parkins hat erst diesen Sommer nach ihm gesehen.»
«Parkins ist ein alter Pfuscher, meine Liebe.»
«Mutter …»
«Das Mortal Man ist ein architektonisches Juwel», sagte Melrose rasch, als der Diener Peters durch die Flügeltür trat. «Und wie ich Lucinda schon erzählt habe …»
«Wir können Peters hinschicken, damit er Ihre Sachen abholt. Er kann den Wagen nehmen.»
«Ich habe Lucinda erzählt» – Melrose strangulierte sein Whiskyglas geradezu –, «daß ich ein persönliches Interesse an Gasthöfen habe, und der Mortal Man ist ein bemerkenswertes Beispiel alter Postwirtshäuser …»
«Das glaube ich nicht», sagte St. Clair, der zur Decke hochstarrte. «Ich glaube nicht, daß der Mortal Man ein besonderes Exemplar von irgend etwas sein kann.»
«Es macht uns wirklich überhaupt keine Umstände, Mr. Plant. Und es dauert nur einen Augenblick. Peter …»
Melroses Lobrede auf das englische Wirtshaus würde (so hoffte er) Peters’ Abfahrt doch noch vereiteln. «Sehen Sie, ich übernachte immer, wenn ich die Gelegenheit dazu habe, in Gasthöfen. Um die Wahrheit zu sagen, ich arbeite an so einer Art Studie über englische Wirtshäuser. Schließlich hat nur die Kirche eine reichere Geschichte …»
«Oho!» sagte St. Clair und kräuselte die Lippen zu einem kleinen Lächeln. «Nicht unsere St. Mary, das versichere ich Ihnen …»
«… vor dem offenen Feuer zu sitzen und zu sehen, wie das Kupfergeschirr aufleuchtet, durch den Torbogen in den kopfsteingepflasterten Hof zu fahren und sich die herumspazierenden Spielleute der elisabethanischen Zeit vorzustellen …»
«Nicht beim Mortal Man. Das glaube ich nicht. Der Milchwagen hat schon einen Kotflügel verloren, und die Trittbretter sind ihm abgerissen. Und was die herumspazierenden Spielleute angeht, tja … es sei denn, man sieht die Warboys als solche an. Man hat mir wirklich schon berichtet, daß er singt …»
Nur das nicht auch noch, hoffte Melrose. «Die Fachwerkfassade, die Erker, die Keller, die Holzschnitzereien, die Dachsparren und Balken …»
«Fäule und aufsteigende Feuchtigkeit», sagte St. Clair liebenswürdig.
In die sich überlappende Konversation mischte sich aus der Tiefe des Hauses das Läuten eines Telefons, und Peters, dessen Pflicht ihn rief, nickte und bat, das Gespräch entgegennehmen zu dürfen.
Melrose lehnte sich zurück und war so außer Atem, als sei er eine Meile gelaufen. Zwischen den Warboys und den St. Clairs fühlte er sich wie ein Objekt, das man mit Sack und Pack hin- und herschob, stehenließ und wieder aufhob, wegwarf und knuffte und gewöhnlich für ein Linsengericht verkaufte.