2

Dezember

RICHARD JURY MUSSTE AN Susan Bredon-Hunt vorbeifassen und gleichzeitig versuchen, sich aus ihren langen Armen zu befreien, die sich jedesmal, wenn das Telefon klingelte, noch mehr verknäuelten und Ähnlichkeit mit Schlingpflanzen bekamen.

Sie klebte buchstäblich am Telefon. Sie ließ ihre Finger auf seiner Brust auf- und abmarschieren, zog Kreise um seine Ohren, streifte sein Gesicht mit den Wimpern, als ob sie Fingerabdrücke nähme, und machte so ein schlagfertiges Reagieren unmöglich.

Glücklicherweise war gar keine schlagfertige Antwort nötig. Chief Superintendent Racer, den man gerade aus dem Bett gescheucht hatte, war entschlossen, Jury ebenfalls aus seinem zu jagen. «Viermal hab ich’s schon klingeln lassen, Jury! Was zum Teufel haben Sie denn getrieben?»

Gut, daß es nur eine rhetorische Frage war, da Susan Bredon-Hunts Lippen gerade sein Gesicht liebkosten. Er hob die Hand, doch es war, als versuche man, Spinnweben wegzuschieben. Überall blieben winzige Fetzen von ihr hängen.

«… störe Sie sehr ungern», sagte Racer, dessen Sarkasmus etwas genauso Bohrendes hatte wie Susan Bredon-Hunts Finger. «Könnten Sie sich vielleicht aus Ihrem Bett losreißen und nach Mayfair rüberkommen?»

Sich losreißen mußte er sich allerdings schon, um sich von Susan Bredon-Hunt zu befreien. Als er schließlich auf der Bettkante saß, fragte er: «Wo in Mayfair?»

«Charles Street. Berkeley Square. Hay’s Mews.» Racer bellte die Namen heraus wie ein Lokomotivführer der britischen Eisenbahn. «Eine Frau ist ermordet worden.» Der Hörer am anderen Ende krachte nieder.

Jury entschuldigte sich bei Susan und war innerhalb von fünfzehn Sekunden angezogen.

«Einfach so.» Sie schnalzte mit den Fingern. «Du verschwindest einfach so!»

Er war müde. «So werden auch Leute umgebracht, mein Schatz. Einfach so.»

Als er sich hinunterbeugte, um sie zu küssen, wandte sie das Gesicht ab. Jury nahm seinen Mantel und die Autoschlüssel und ging.

 

 

 

DIE POLIZEIAUTOS KAMEN aus allen Richtungen und peilten den Bordstein der Charles Street und den Bürgersteig vor dem Pub an. Unter dem beleuchteten Schild des I Am the Only Running Footman kritzelte Detective Sergeant Alfred Wiggins etwas in sein Notizbuch und stellte der kleinen molligen Frau, die die Leiche gefunden hatte, Fragen.

Die surrenden, kuppelförmigen Blinklichter der letzten beiden Wagen, die in prekärer Schräglage vor das Pub gerollt waren, warfen blaue Streifen aufs nasse Trottoir und blaue Schatten auf die Gesichter von Wiggins und der Frau. Sie habe noch nachts ihren Hund auf den Platz ausgeführt, und jetzt seien sie beide völlig durcheinander, sagte sie. Der Schäferhund beschnüffelte Wiggins’ Füße und gähnte.

Jury versicherte ihr, man werde sie nicht länger als absolut notwendig auf dem Revier behalten, wenn man sie mit dorthin nehme. Sie könne jeden gewünschten Anruf machen, sie schätzten ihre Hilfe wirklich ganz außerordentlich, und sie habe mit ihrem Anruf bei der Polizei etwas getan, das durchaus nicht selbstverständlich sei. Das hatte sie beruhigt, und im Moment beantwortete sie Wiggins’ Fragen. Überall in der kurzen Straße und um die Ecke herum stellten uniformierte Polizisten Fragen an die Bewohner von Hay’s Mews, die aus ihren schicken kleinen Häusern gekommen waren und jetzt im Nieselregen standen. Am Ende der Mews, der ehemaligen königlichen Marställe, hatte man Absperrgitter aufgestellt, damit die Schaulustigen nicht allzuviel zu sehen bekämen.

Während die Leichenbeschauerin ihre Befunde auf einen Kassettenrecorder diktierte, stand Jury dabei und blickte auf den Leichnam der jungen Frau, die mit dem Gesicht nach unten, fächerförmig ausgebreitetem blondem Haar und gespreizten Beinen auf der Straße lag. Wiggins war neben ihn getreten.

«Fertig damit?» fragte Jury den Mann, der für die Fingerabdrücke zuständig war, und deutete auf die kleine schwarze Handtasche, deren Riemen noch immer über ihre Schulter geschlungen war und sich mit dem langen Schal verheddert hatte. Der Mann nickte Jury zu, und Jury nickte Wiggins zu. Die Leichenbeschauerin sah genervt zu Jury hinüber. Sie mochte es nicht, wenn jemand mit seinen Fragen ihre Angaben unterbrach, die sie ihrem Assistenten wie ein Messerwerfer über die Schulter zuwarf. Jury blickte in ihre wachsamen grauen Augen und lächelte strahlend. Sie murrte.

«Ivy Childess», sagte Wiggins und hielt den Führerschein hoch, den er aus der Tasche der toten Frau genommen hatte und mit Hilfe eines Taschentuchs festhielt. «Ihre Adresse ist 92, Church Street, Bayswater. Das ist so ziemlich alles, Sir, außer einem Scheckbuch, Scheckkarte und etwas Kleingeld. Mit dem bißchen Geld könnte sie vielleicht einen trinken gewesen sein, meinen Sie nicht?» Er steckte den Führerschein wieder in die Handtasche und ließ sie zuschnappen.

«Kann schon sein», sagte Jury, während er darauf wartete, daß die Leichenbeschauerin ihre Arbeit beendete. Er wußte, sie haßte Störungen.

Nachdem er sein Taschentuch schon wegen der Handtasche verwendet hatte, benutzte Wiggins es jetzt, um sich zu schneuzen. «Es ist verdammt feucht. Ich merk schon, es geht abwärts. Irgendwann liege ich flach.» Er klang nachdenklich.

«Wo Ivy Childess definitiv schon gelandet ist.» Der Regen fiel stetig und ausdauernd, aber die Leichenbeschauerin schien überhaupt nicht darauf zu achten. Die ständigen Krisenfälle hatten ihr hübsches Gesicht so glattgescheuert wie einen Stein unter Wasser.

«Kann außer am Hals keinerlei Spuren feststellen. Mit ihrem eigenen Schal erdrosselt. Manche Frauen lernen’s nie.»

Jury lächelte ein wenig. Dr. Phyllis Nancy hatte so eine Art, alles, sogar Leichen, auf geschlechtsbedingte Kriterien hin zu untersuchen. Jury hätte ihr gerne gesagt, daß solche Vorlieben in der Polizeiarbeit inzwischen wohl mehr oder weniger den Weg allen Fleisches, ob männlich oder weiblich, genommen hätten. Doch schien sich Dr. Nancy ihre abwehrende Haltung ebenso zu eigen gemacht zu haben wie ihren Beruf.

«Wann können Sie die Autopsie vornehmen, Phyllis?»

Niemand nannte sie Phyllis. Gerade deshalb tat Jury es.

«Sie warten, bis Sie an der Reihe sind, Superintendent. Ich habe auch einen Terminkalender.»

«Ich weiß. Ich wäre Ihnen nur dankbar, wenn Sie es vielleicht ein kleines Stückchen nach oben rücken könnten. Wir wissen, wie sie getötet wurde, und es sieht nach Routine …»

Routine gehörte nicht zu den Worten, die Phyllis Nancy schätzte. Und seine Bemerkung bot ihr, wie Jury genau wußte, eine Gelegenheit, einen kleinen Vortrag zu halten, wozu sie sonst kaum und schon gar nicht vor Superintendents die Möglichkeit hatte. «Die Frau besitzt immerhin noch Haut, Haar, Fingerspitzen, Leber, Bauchspeicheldrüse, Knochen, Gewebe. Sogar ein Herz.»

«Genau wie Sie, Phyllis.» Er lächelte sie an. Jury hatte Dr. Nancy einmal beim Schaufensterbummel in der New Bond Street entdeckt, als sie vor Dickens and Jones stand und hingerissen die prächtige Auslage der Braut- und Brautjungfernkleider betrachtete. Er hatte gewartet, bis sie weiterging, um sie dann einzuholen und zu einem Drink einzuladen. Phyllis Nancy hätte es entsetzlich gefunden, wenn man sie tagträumend vor der Dickens and Jones-Schaufensterhochzeit – komplett mit Braut, Bräutigam, Spitze und Blumen – erwischt hätte. Er wandte sich von ihr ab, um einem Polizeiinspektor Anweisungen zu geben. Man würde die Straße Zentimeter für Zentimeter absuchen müssen. Dann wandte er sich wieder an Dr. Nancy. «Wann immer es Ihnen möglich ist, Phyllis. Und danke.»

Sie wandte sich ab, damit er ihr Lächeln nicht sah. Das Ganze war ein kleines Ritual. Wenn er jovial zu ihr war, wie eben ein Mann gegenüber einer Frau, wußte er, daß sie das wahnsinnig genoß. Unter all ihrem Expertentum und dem Panzer steckte eine sehr nette Person, die gerne essen und ins Kino ging oder schöne Kleider kaufte. Sie packte ihre Tasche und schnappte sich ihren Assistenten, sagte, sie würde die Autopsie so schnell wie möglich machen, stieg in einen Wagen und flitzte durch den Regen davon.