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DAS FRÜHSTÜCK WAR EINE mit den üblichen Gefahren verbundene Angelegenheit. Er hätte wissen müssen, daß der Saft überlaufen, der Porridge umkippen und die Makrele vom Teller rutschen würde und er sich vorsichtshalber ein Lätzchen hätte umbinden sollen.

Während Melrose die von seinem Schoß gerettete Makrele verzehrte, lauschte er dem durchdringenden Geräusch, das aus der Küche erklang. Jedesmal wenn Sally Warboys die Tür aufstieß, um ihm ein weiteres Gericht zu bringen, schwoll es an und dann wieder ab. Vielleicht kratzte jemand in einem Topf, den man auf dem Herd vergessen hatte, vielleicht war es aber auch das jüngste Warboyskind (sie hatten auch noch ein Baby), das eigensinnig nach etwas verlangte. Vorher war schon das Scheppern zerbrechenden Steinguts und, während die Warboys ihre Gefechtsstellungen einnahmen, das übliche Durcheinander wütender Stimmen aus der Küche gedrungen.

Sally Warboys kam in einem Waschbrettgrau aus der Küche getrabt, um Melroses Teekanne abzustellen, die sie dabei gegen die Tischkante stieß, so daß das heiße Wasser über die ganze Tischdecke spritzte und seine Hand nur um wenige Zentimeter verfehlte. Die Warboys unfallträchtig zu nennen, hieße, ihnen Unrecht zu tun, fand er. Sie hatten etwas an sich, das nach tiefverwurzeltem Stammesverhalten roch.

Als er einen Fettfleck von seiner Manschette tupfte, bemerkte er, daß der Bursche, der ihm Portiersdienste geleistet hatte und seine Reisetasche hatte fallen lassen, in den Speiseraum gekommen war. Der Raum wurde nun einer Warboysschen Umwandlung unterzogen, und Bobby schwang oben auf der Leiter seinen Hammer.

William setzte sich an den Tisch am anderen Ende. Bei einem anderen wäre dies vielleicht ein «respektvoller Abstand» gewesen, doch bei einem Warboys wirkte es wie die erste Bewegung in einem Feldzug, aus dem als Sieger hervorzugehen Melrose bezweifelte. Der Junge saß steif da und starrte ihn mit einem so eindringlichen Blick an, daß er Melrose damit die Augen wie mit einem Brecheisen aufstemmte. In dieser wachsamen Haltung wurde er noch von Osmond unterstützt, der mit dem Kopf auf den Pfoten und unverwandten Blickes auf dem Fußboden lag. Melrose nahm an, daß dem Hund aus rein taktischen Gründen nichts anderes übrigblieb, da sich auch Truppen vor einem Überraschungsangriff erst einmal zurückziehen müssen. Er fragte sich, ob überhaupt schon jemals Gäste im Mortal Man abgestiegen waren, ehe er zufällig hier vorbeikam; denn keiner von den Warboys schien zu wissen, was man mit einem Gast überhaupt anfangen sollte – ob man ihn nun am besten als Geisel nehmen oder doch lieber gleich umbringen sollte.

«Guten Morgen», sagte Melrose vergnügt. «Du bist doch sicherlich William?»

Der Junge reagierte sofort und kam zu ihm an den Tisch. Er setzte sich und legte ein kleines Notizheft und einen Bleistift beziehungsweise Bleistiftstummel neben den Teller mit Hörnchen und Butter, die Melrose gar nicht bestellt hatte. Als Melrose ihm anbot, sich eines zu nehmen, zog er den Teller und den Marmeladentopf mit einem Eifer zu sich heran, daß man den Eindruck bekam, er habe bis jetzt von Gefängnisrationen gelebt.

Melrose deutete auf das Heft. «Schreibst du etwas?»

Den Mund voll Marmeladenhörnchen nickte William heftig. Die Warboys hatten es sich offenbar antrainiert, keine Zeit auf überflüssige Gesten zu verschwenden.

«Was denn?»

«Eine Geschichte.» Er häufte Johannisbeergelee auf ein weiteres Hörnchen. «Ich hab schon mal eine geschrieben und damit einen Preis gewonnen.»

«Tatsächlich?»

«Zehn Pfund. Mum hat sich ein neues Kleid gekauft.»

«Das war sehr großzügig von dir, ihr dein Preisgeld zu überlassen.»

«Hab ich gar nicht. Sie hat’s genommen.»

Da er keinerlei Groll aus dieser Bemerkung heraushören konnte, nahm Melrose an, daß dies bei den Warboys üblich war. «Wovon handelt die neue Geschichte denn?»

«Chillington hat einen Wettbewerb ausgeschrieben, und das Preisgeld sind fünfzig Pfund …»

Melrose runzelte die Stirn. «Der einzige Chillington, den ich kenne, ist eine Brauerei.»

William nickte. «Das sind die, die diese Pubs mit den Eichhörnchen drinnen haben …»

Während William schwieg, um einen weiteren Marmeladenbatzen auf seinem Hörnchen zu plazieren, versuchte Melrose sich ein Pub voller Eichhörnchen vorzustellen.

Der Junge fuhr fort: «Das Squirrel and Pickle, das Squirrel and Mouse, Sie wissen schon … in jedem ist ein Eichhörnchen. Deswegen wollen sie eine Geschichte über ein Eichhörnchen, damit sie jeden Monat ein kurzes Stück daraus auf ihre Bierdeckel drucken können. Hier …»

Er griff in seine Hosentasche und brachte ein schon etwas verschmutztes Pappdeckelquadrat zum Vorschein. Man sah darauf die Abbildung eines Eichhörnchens, das, in ein kariertes Badetuch gewickelt, behaglich in seiner Baumhöhle saß, und darunter stand: «Fünfzig Pfund Preisgeld. Mum will eine Heizung in der Toilette haben. Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich noch verschlafen bin und auf die Toilette runter muß. Heute morgen war die Kette vereist.»

«Klingt ja ziemlich seltsam.»

«Kann ich einen Tee haben?»

«Was? Oh, ja. Ich glaube, er ist noch heiß.» Vorsichtshalber übernahm Melrose das Einschenken. «Wie weit bist du denn bis jetzt?» Er wies auf Williams Notizheft.

William hörte auf, den Tee zu schlürfen, und öffnete das Heft. «‹Sidney fiel nach hinten. An seinem Anorak klebte Blut. Die seltsame Gestalt verschwand im Gebüsch.› Sidney ist das Eichhörnchen.»

«Eine spannende Geschichte. Und woher kommt das Blut?»

«Ich weiß nicht.»

«Ist er tot? Oder stirbt er gerade?»

«Ich weiß nicht.»

Melrose überlegte, ob Polly Praed vielleicht auf diese Weise ihre Krimis schrieb.

«Sein Freund Weldon ist vielleicht tot», sagte William und leckte die Marmelade vom Messer.

«Wer ist Weldon?»

«Ein Wiesel.»

Allmählich klang das nach einer nicht ganz jugendfreien Version von Der Wind in den Weiden. «Ist Weldon umgebracht worden?»

«Wer weiß. Vielleicht mit einem Messer», sagte er und benutzte sein eigenes zu Demonstrationszwecken.

Melrose rückte seinen Stuhl ein wenig zurück. «Was soll denn die Leiche im Gebüsch?»

«Ich weiß nicht.»

War schon besser, wenn ein Warboys seinen angeborenen Zerstörungswahn so abreagierte, auch wenn die Geschichte noch einige Lücken aufwies. «Ich finde, du hast da noch keine rechte Ausgangsbasis. Vielleicht wirst du trotzdem eines Tages noch mal reich, wenn du beim Geschichtenschreiben bleibst.»

William meinte, er mache sich nichts aus Reichtum. Er hätte bloß gern eine Heizung auf dem Klo.

«Das klingt vernünftig. Mir wär’s lieber, du würdest aufhören, mit diesem Messer rumzuspielen.»

«Ich hatte mal ein Wiesel. Jetzt ist es wieder da draußen. Bei den anderen.»

«‹Den anderen›?» Melrose fragte sich allmählich, ob dies vielleicht doch kein Wirtshaus, sondern ein hitchcocksches Motel war.

«Genau. Auf dem Friedhof. Sie sterben, und ich begrab sie.» William wischte sich den Tod und die Krümel von den Händen und rüttelte Osmond wach. «Eine Dame und ein Herr wollen Sie übrigens sprechen.» Er wies mit dem Kopf nach hinten. «Draußen im Gang.»

«Heißt das, sie warten schon die ganze Zeit?»

«Sagten, ich soll Ihnen was ausrichten.» William war aufgestanden. Offensichtlich langweilte er sich und blinzelte schon nach der Küche, die viel interessanter zu sein schien.

Melrose sprang auf. «Was denn?»

William studierte seine Notizen. «Kann mich nicht mehr erinnern. Aber Sie können sie ja selber fragen.» Und schon war er weg, gefolgt von Osmond, der noch einmal nach Melroses Knöchel schnappte, bevor er tapptapp davontrottete.

 

 

 

DER MANN WAR EDWARD WINSLOW, und Melrose hörte gerade noch den Schluß seiner Unterhaltung mit Nathan Warboys, der jetzt mal nachsehen wollte, was das Dröhnen und Hämmern in der Schankstube zu bedeuten habe.

Sie seien hergekommen, sagte Lucinda, um Melrose zum Morgenkaffee abzuholen. David sei aus London eingetroffen.

Der Gesichtsausdruck, mit dem sie von David sprach, bestätigte erneut Melroses Überzeugung, daß Liebe mit Sicherheit blind macht. Er mußte David Marr gar nicht mehr kennenlernen, um sich darüber zu wundern, wie eine junge Frau diesem Edward Winslow noch einen anderen Mann vorziehen konnte.

Er war äußerst attraktiv: Haare in der Farbe von hellem Portwein, Augen wie feuriger Brandy. Vielleicht war es die Nähe des Tresens und Nathans Fixierung auf seinen schönen Vorrat von Bieren und Spirituosen, die Melrose diese hochgeistigen Metaphern eingab. Dennoch waren das die Farben Winslows. Und der Rest von ihm war dieser Pracht durchaus ebenbürtig. Er war der Typ, der jedem Mann einen Spiegel vorhielt: Man konnte ihn nicht ansehen, ohne daß man das Gefühl bekam, seinen Schlips zurechtrücken und seinen Schneider verfluchen zu müssen. Winslow hatte überhaupt nichts Modisches an sich und erst recht nichts Trendmäßiges. Mit seiner goldockerfarbenen Kaschmirjacke und der unibraunen Seidenkrawatte war er ein Muster lässiger Eleganz. Er würde bestimmt, ohne sich etwas dabei zu denken, einen Trenchcoat über einem Abendanzug tragen.

Und daß der Mann in einem Warboys-Monolog potentielle Anknüpfungspunkte für ein Gespräch entdeckte, war ein Zeichen außerordentlicher Phantasie, sogar für einen Dichter, der schon etwas publiziert hatte.

Als Edward ihn anlächelte und ihm die Hand schüttelte, verstand Melrose, warum sich Pearl fast mit ihrer Halskette stranguliert hatte, weil Edward nicht persönlich sein Buch gebracht hatte.

Wenn der Gedanke an Strangulation auch nicht gerade von gutem Geschmack zeugte, ging Melrose durch den Kopf, als sie in die Kälte und Nässe hinaus zu Edwards Wagen gingen – einem schwarzen BMW selbstverständlich, dem Savile Row unter den Automobilen. Nicht protzig, lediglich solide gebaut und unverwüstlich. Melrose glitt auf den Rücksitz, und die Türen klonkten ein. Er dachte an seinen Flying Spur, seinen Silver Ghost. Vielleicht konnten sie sich ja über Gedichte unterhalten.