15

DAS HAUS SELBER HATTE keinen Namen. Durch die Dämmerung und den fallenden Schnee erfaßten Jurys Scheinwerfer nur eine kleine Bronzetafel, die als Aufschrift lediglich das Wort Winslow trug und in eine Steinsäule am Ende der gewundenen Auffahrt eingelassen war. Einige Augenblicke blieb er noch im Wagen sitzen, rauchte und blickte zu dem kleinen Wald hinüber, wo heruntergefallene Äste und verfaulende Stämme verrieten, daß der Parkwächter – falls es einen gab – sich um alles kümmerte, nur nicht um den Park. Er schlug die Tür seines Ford zu und löste dadurch eine kleine Lawine aus, die von der Kühlerhaube zu Boden fiel.

Jury zog an der Glocke und sah an der glatten grauen Hausfront hoch. Er hätte das Haus sicher nicht als Zufluchtsstätte erwählt, wenn es auch bestimmt sehr ruhig war. Oder vielmehr trostlos, dachte er. Aber vielleicht steigerte gerade das noch seine baroneske Pracht.

Ein bäuerlich wirkender Mann, dessen Gesicht von den winzigen Aderchen des starken Trinkers durchzogen war, öffnete die Tür und steckte den Kopf durch den Spalt. Er musterte Jury mit einem Mißtrauen, das noch zunahm, als Jury ihm seinen Dienstausweis zeigte und sagte, er wolle Mrs. Winslow sprechen.

Der Mann öffnete die Tür etwas weiter und winkte ihn heran, als wolle er einen Zaudernden über die Schwelle locken. «Kommen Se rein. Ich sach Bescheid.» Sicher war er kein richtiger Butler, wahrscheinlich der Parkwächter oder Gärtner.

Die Eingangshalle war riesig und kalt und verstärkte mit den Rüstungen an der einen Wand und den Nischen mit Gipsbüsten von Heiligen oder Göttern an der anderen den Eindruck aristokratischer Pracht. Eine auf Hochglanz gewienerte Mahagonitreppe führte in der Mitte des Raumes hinauf zur Galerie im ersten Stock. Er ging zum Endpfosten des Geländers und blickte hinauf. Das Gemälde, das Plant am Telefon erwähnt hatte, zeigte eine blonde junge Frau und ein kleines Mädchen von vielleicht sieben oder acht Jahren.

Zu beiden Seiten des Eingangs gestattete ein Bogenfenster spärliche Aussicht auf den Wald. Langsam schwebte der Schnee herab und legte einen Schleier vor die schwarzen Buchen und Eiben, so daß sie eher wie Baumgespenster wirkten. Es erinnerte ihn wieder an die Straße nach Bristol und das Gehölz, in dem man Sheila Broome gefunden hatte. Er runzelte ein wenig die Stirn; irgend etwas irritierte ihn, etwas, das er über Sheila Broome gehört hatte, ein winziger Abdruck in seinem Gedächtnis wie eine dunkle, zarte Vogelspur. Eine Misteldrossel landete schaukelnd auf einem dünnen Zweig der nächststehenden Buche; kleine Schneeklumpen rieselten herunter.

«Entschuldigen Sie, Superintendent, daß ich Sie habe warten lassen.»

Es war David Marr. Jury hatte ihn nicht kommen hören und war, nachdem er die ganze Zeit auf die hypnotisierende Szenerie hinausgestarrt hatte, einen Moment lang verwirrt.

Marr lächelte schwach. «Wir sind uns schon begegnet.»

«Ich weiß.» Jury lächelte ebenfalls. «Ihr Wald hat mich wohl ein wenig verzaubert. Ich liebe Schnee.»

Marr hob mit gespieltem Erstaunen die Augenbrauen. «Sie gehen wohl auch im Schnee spazieren, wie?»

«Gelegentlich. Ich habe mich ein wenig verspätet wegen der Straßenverhältnisse.»

Sie gingen durch eine Flügeltür auf der rechten Seite der Halle. «Sie müssen sich nicht entschuldigen. Wir haben Sie warten lassen. John ist eigentlich kein richtiger Butler. Eigentlich auch kein richtiger Verwalter, wenn man’s genau nimmt. Wir sind hier im Salon, bereit für Ihre Fragen.»

 

 

 

DIE WINSLOWS WIRKTEN tatsächlich wie gestellt. Meisterhaft gestellt, gewissermaßen. Sie standen beziehungsweise saßen herum wie Schauspieler, die man gerade unterbrochen hatte und die sich jetzt mit ihren Drehbüchern beschäftigten. Marion Winslow, die ein Hauskleid aus schwarzem Samt trug, saß in einem Mahagonisessel mit hoher Lehne, der mehrere Meter von einem gewaltigen Marmorkamin entfernt stand. Ein Weihnachtsbaum, der bis auf die nicht brennenden elektrischen Kerzen und einen winzigen Engel aus Glasgespinst auf der Spitze nicht geschmückt war, stand ziemlich düster rechts neben dem Kaminsims. Edward Winslow stand rauchend vor dem Kamin. David Marr steuerte den lässigen Touch bei; genau den passenden Touch, um alles so überzeugend und improvisiert wirken zu lassen. Er schenkte für sich und Jury einen Whisky Soda ein. In der Haltung Marion Winslows und ihres Sohnes konnte man fast eine Nachahmung der Posen auf dem Porträt über dem Sims entdecken. Allerdings schienen sie sich dessen überhaupt nicht bewußt zu sein. Nachdem er Jury seinen Drink gereicht hatte, setzte sich David auf ein schönes Queen-Anne-Sofa und streckte die Beine von sich.

Jury hatte vor, sich jeden einzeln vorzunehmen, aber noch nicht jetzt. Er wollte die Familienversammlung nicht sprengen; sie interessierte ihn.

Einige Augenblicke lang unterhielten sie sich höflich über den Zustand der Straßen und die unerwarteten Schneefälle. Jury zündete sich eine Zigarette an und ließ den Blick über den runden, klauenfüßigen Tisch neben sich wandern, auf dem eine ganze Sammlung von Fotografien stand: kleine, große, schlicht oder aufwendig gerahmte. Als das Gespräch verebbte wie der langsamer herabschwebende Schnee, griff Jury nach einem kleinen, in getriebenem Silber gerahmten Bild des Kindes aus dem Gemälde über dem Treppenabsatz. Es war sehr hübsch, hatte große, feuchtglänzende Augen und hellblondes Haar. Edward Winslows kleine Schwester sah aus, wie Edward selber wohl in diesem Alter ausgesehen haben mochte, dachte Jury.

Jury bemerkte, daß Marion Winslow ihn beobachtete und die Bewegung des Rahmens vom Tisch zum Stuhl und wieder zurück genau verfolgte. «Das war meine Tochter, Phoebe.» Ihre Stimme klang angenehm tief, aber so flach und ruhig und kalt wie die Winterlandschaft, durch die er heute gefahren war.

«Ich habe von dem Unfall gehört. Es tut mir sehr leid.»

Sie nickte flüchtig. Ihr Bruder war aufgestanden, um sein Glas wieder zu füllen. Er stand jetzt mit der Hand in der Jackentasche da und starrte abwesend ins Feuer. Dann drehte er sich um, als wolle er etwas sagen, doch Edward kam ihm zuvor: «Ich hatte Phoebe sehr gern.» Er seufzte. «Tja, wir alle.» Er trat noch näher an den Sessel seiner Mutter heran und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie schien ins Leere zu starren.

Jury machte sich Gedanken über das schwarze Kleid. Das Mädchen war vor über zwei Jahren verunglückt, sicherlich nicht lange her. Wie gestern, was die Trauer anging, aber ein bißchen zu lange, um immer noch Trauerkleidung zu tragen. Auch wenn Jury bezweifelte, daß Marion Winslow mit diesem einfachen, elegant geschnittenen schwarzen Gewand daran gedacht hatte.

«Das Familienalbum ist faszinierend, finden Sie nicht?» sagte David und nahm seinen Platz auf dem Sofa wieder ein. «Haben Sie denn etwas gefunden, das mich entlastet?»

Trotz der unpassenden Bemerkung über das Familienalbum tat Marr Jury ziemlich leid. Ließ man die zufälligen Umstände einmal beiseite, gab es keinerlei Beweis für die Hypothese, daß er Ivy Childess getötet hatte. Aber es gab diese Umstände nun einmal. «Ich fürchte, nichts Bestimmtes, Mr. Marr.»

«Zum Teufel, dann geben Sie sich doch mit was Unbestimmtem zufrieden.»

Jury lächelte, schüttelte aber den Kopf. Er war froh, daß das Thema von einem von ihnen angesprochen worden war. «Es wäre gut, wenn ich alleine mit Ihnen sprechen könnte, Mr. Marr. In der Tat …»

Marr unterbrach ihn: «Sie haben mich schon alleine gesprochen, Superintendent.»

«Ich wollte eben sagen, daß ich mich eigentlich mit jedem von Ihnen alleine unterhalten möchte. Falls Ihnen das keine zu großen Unannehmlichkeiten bereitet.»

Als Marion Winslow lachte, war er ein wenig überrascht. «Irgendwie denke ich, daß wir die Zeit dafür schon erübrigen können, Mr. Jury.» Sie erhob sich aus ihrem Sessel und verließ zusammen mit Edward den Raum.

 

 

 

«DAS WIRD DER HÖHEPUNKT des heutigen Tages», sagte David und goß sich wieder einen Whisky ein, hielt die Karaffe in die Höhe und blickte Jury an.

Jury schüttelte den Kopf. «Ich bin froh, daß wir Sie nicht langweilen.»

«Ganz und gar nicht. Wie viele Möglichkeiten gibt es eigentlich, Erkundigungen über einen Telefonanruf einzuholen? Zumindest können Sie jetzt meine Schwester persönlich fragen.»

«Ich frage mich, Mr. Marr, ob Sie wohl je in Exeter waren.»

David Marr blickte überrascht von seinem Glas auf. «Nanu! Ein neuer Versuch.» Er lehnte seinen Kopf an die Sofalehne zurück. «Exeter, Exeter, Exeter. Ja, das ist schon lange her. Hab eine Tour zur Kathedrale gemacht. Und dann durch die Pubs.»

«Wie lange ist das her?»

David zuckte die Achseln. «Zehn Jahre vielleicht.» Er sah Jury an. «Ich sehe schon, daß sich da ganz neue Fragen eröffnen. Was ist denn in Exeter passiert?»

«Sheila Broome. Sie kannten sie nicht zufäl…?»

«Nie von ihr gehört.» Seine Antwort kam schnell und überschnitt sich mit dem Ende von Jurys Frage. «Dieses ‹kannten Sie nicht› heißt doch wohl, daß ihr was zugestoßen ist.» Er starrte wieder zur Decke hinauf. «Großer Gott.» Er seufzte. «Ich hoffe wirklich, Ihre nächste Frage lautet nicht: ‹Wo waren Sie in der Nacht zum …?›»

Jury lächelte. «29. Februar.»

Marr drehte sich rasch zu ihm um und sah ihn an. «Das ist zehn Monate her, Superintendent.»

«Ich weiß.»

«Wenn sich mir die Daten meiner aufregenden Affären mit jungen Damen auch ins. Hirn gebrannt haben, so kann ich mich wahrhaftig nicht an diese spezielle erinnern. Sheila, sagen Sie?»

«Broome. Wirklich schade. Versuchen Sie’s bitte, wenn Sie ein bißchen Zeit haben.»

David stöhnte. «Wollen Sie mir etwa erzählen, Superintendent, das noch eine Frau um die Ecke gebracht worden ist? Und zwar von mir, wie Sie offenbar glauben?» Er ließ sich noch ein Stückchen tiefer ins Sofa sinken und rollte das kühle Glas über seine Stirn.

«Nein, das wollte ich damit nicht sagen.» Jury rutschte auf die Sesselkante. «David, meinen Sie nicht, daß Sie sich für jemand in Ihrer Lage ein bißchen lässig geben?»

«Danke für den Rat. Aber es ist nun mal so, daß ich mit dem Tod von Ivy oder einer anderen nicht das geringste zu tun habe.» Er trank seinen Whisky aus und starrte mürrisch ins Feuer.

«Okay. Ich würde mich jetzt gern mit Edward unterhalten.»

David drehte sich überrascht um. «Sie meinen, das ist schon alles, Superintendent? Ich war überzeugt, Sie würden mich ausquetschen wie ’ne Zitrone. Ich könnte ja jetzt ganz entzückt sein, aber es hat sicher nichts Gutes zu bedeuten. Sie haben ja noch nicht einmal ein interessanteres Objekt als mich gefunden. Aber ich bezweifle, daß ich noch sehr ergiebig für Sie sein werde.»

«Ich werde mir Mühe geben.»

 

 

 

KEIN GEMÄLDE ODER FOTO konnte Edward Winslow wirklich gerecht werden. Der Schnappschuß, den Jury gerade David Marr zurückgegeben hatte, vermittelte nur eine Ahnung von der Attraktivität seines Neffen, wahrscheinlich, weil die Kamera die Anmut, mit der er sich bewegte, nicht festhalten konnte. Und doch, dachte Jury, hatte der Porträtist die aristokratische Statur und Haltung zu ernst genommen; denn wenn Edward auch schön und elegant war, so war er dennoch auch nachlässig, als stamme sein Verhalten anders als seine Kleidung von der Stange. Ein Modedesigner hätte ihn sicher am liebsten mit breiter Krawatte und sportlichem Doppelreiher gesehen. Edward aber bevorzugte Pullover und offene Hemdkragen.

Er betrat das Zimmer irgendwie schlurfend und unsicher lächelnd. Dann setzte er sich in die Sofaecke, die David gerade geräumt hatte, und stützte den Kopf in die Hand. «Wenn es Sie nicht stört, daß ich das sage, aber es ist alles ziemlich merkwürdig – zum Beispiel, daß Scotland Yard nach Somers Abbas kommt. Oh, tut mir leid …» Edward errötete ein wenig, als hielte er es für ungehörig, die weiteren Nachforschungen von Scotland Yard in Frage zu stellen.

Hielten die das alle für ein Spiel, fragte sich Jury. Cricket oder so was? «Sie leben doch abwechselnd in Somers Abbas und London, nicht wahr?» Als Edward nickte, fuhr Jury fort: «Gibt es einen besonderen Grund, warum Sie sich hier lieber aufhalten als in London?»

Edward lachte. «Sie klingen wie meine Mutter. Mutter sagt, sie will nicht, daß ich hier rumhänge, um sie aufzumuntern.»

«Ihre Mutter sieht mir gar nicht danach aus, als müßte sie aufgemuntert werden, Mr. Winslow.»

Edward stand auf, wie David es getan hatte, und schenkte sich einen allerdings sehr kleinen Whisky ein. «Doch.» Er leerte das Glas auf einen Zug. «Obwohl sie das ziemlich gut überspielt, muß man schon sagen. Seit dem Tod meiner Schwester hat Mutter sich ziemlich zurückgezogen. Sie – Phoebe – wurde von einem Auto erfaßt. Sie rannte direkt in den Wagen hinein. Er sah sie erst, als er sie schon fast überfahren hatte. Hat er zumindest behauptet. Es war eigentlich auch keine Fahrerflucht; denn offenbar hielt der Bursche drei Straßen weiter an einer Telefonzelle und rief die Polizei an.» Er sah Jury traurig an. «Ich habe Phoebe gefunden. Hugh war im Haus.» Er machte eine Pause. «Er kam später rausgerannt.»

Jury nickte, sagte jedoch nichts. Er beobachtete nur den herumspazierenden Ned Winslow, der jetzt vor der Fichte stehenblieb, um den Engel aus Glasgespinst zurechtzurücken, worauf dieser, als Ned ihn wieder auf dem obersten Zweig befestigt hatte, im Licht aufglänzte. Da Ned Winslow ja dabeigewesen war – Wie sah sie aus? Was hatte sie an? Hat sie noch etwas gesagt? –, war er vielleicht dazu verdammt, die Last zu tragen, als sei er das Gedächtnis seiner Sippe.

«Es tut mir leid», sagte Jury. «Ihr Onkel sagte, Sie seien Dichter, und ein veröffentlichter noch dazu. Sie müssen sehr gut sein.»

Er lachte. «Na ja, da haben Sie wohl recht – ich meine, daß Veröffentlichung und Wert etwas miteinander zu tun haben. Und Gedichte schreiben klingt ja bestimmt nicht nach einer ordentlichen Arbeit, vor allem nicht für jemanden, der stempeln geht.»

«Ich habe mich gefragt», sagte Jury, «warum Sie sich eine eigene Wohnung in Belgravia leisten, wo Sie doch das Haus in Knightsbridge haben.»

«Das ist ganz einfach. Mein Vater lebt dort.» Er sah Jury an. «Ich versteh mich nicht besonders mit ihm.» Ned beugte sich nach vorn, um im Feuer zu stochern. Ein großes Scheit brach auseinander und zerfiel, und eine sägeblattähnliche bläuliche Flamme schoß hoch und warf ein Schattengewebe auf sein Gesicht. Als er Jury ansah, veränderte sich die Farbe seiner Augen wie bei einem Karneol von Braun zu Gold.

«Als Ihr Onkel am Montag abend anrief, waren Sie da zu Hause?» Jury beobachtete Ned Winslow, der nicht sofort antwortete.

«Nein.»

«Aber Ihre Mutter hat Ihnen von dem Anruf erzählt.»

«Oh, natürlich. Schließlich ist das doch wohl das einzige, das David vor der Anklagebank bewahren kann, oder?»

 

 

 

MARION WINSLOW WANDTE KEIN AUGE von Jury, als sie zu dem Sessel mit der hohen Lehne hinüberging.

Auch Jury rührte sich nicht. Er blieb auf dem Sessel neben dem mittleren Tisch sitzen, fast zehn mit einem Kermanteppich ausgelegte Meter von ihr entfernt.

Ihre Hände ruhten auf den Enden der Mahagonilehnen. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, so daß sich über ihren Schuhspitzen eine Welle schwarzen Samtes bildete. Sie trug keinen Schmuck und wenig oder gar kein Make-up. Von irgendwelchem Aufputz schien sie nicht viel zu halten.

«Ich kann Ihnen wirklich nicht mehr sagen, als ich Ihnen schon erzählt habe, Superintendent. Auch wenn es mir durchaus nichts ausmacht, es Ihnen noch einmal zu erzählen.» Sie lächelte kühl. «Der Anruf interessiert Sie vermutlich am meisten?»

«Unter anderem, ja.»

«David rief mich, ich würde sagen so um elf herum, am Montag abend an.»

«Und Sie können die Zeit nicht genauer eingrenzen?»

«Nein. Tut mir leid. Manchmal nimmt der Anrufbeantworter meines Mannes Gespräche entgegen und fragt nach der genauen Zeit. Wenn ich außer Hörweite bin und die Dienstboten nicht da sind, stelle ich auf den Anrufbeantworter um. Aber an diesem Abend war ich zum Lesen in der Bibliothek.» Sie dachte einen Augenblick nach. «Ich würde sagen, zwischen Viertel vor und ein paar Minuten nach elf.»

«Ein bißchen spät für einen Anruf.»

Sie lachte. «Nicht für David. Nicht bei uns.»

«Was wollte er von Ihnen?»

Mit einem kleinen Lächeln sagte sie: «Geld. Und eine Brust, an der er sich ausweinen konnte, nehme ich an. Wie ich Ihnen schon erzählte: Er hatte Ivy Childess gerade sitzenlassen. Er hatte ihr ständiges Drängen, sie zu heiraten, allmählich satt.»

«Hatte er denn nie die Absicht, sie zu heiraten?»

«Das bezweifle ich sehr.»

«Ihr Bruder scheint ja allgemein von der Ehe nicht viel zu halten?»

Sie schüttelte den Kopf. «Nein, nur im besonderen. Und ganz speziell hatte er etwas gegen eine Ehe mit Ivy Childess.»

«Sie kannten sie?»

Ihre Augenbrauen wölbten sich in gelindem Erstaunen. «Nein. Ich bin ihr wohl begegnet. Aber das ist ja etwas anderes. Es war in unserem Haus in London. Wir hatten ein paar Freunde auf einen Drink eingeladen. Mein Sohn und mein Bruder waren da. Und David brachte Ivy mit.» Sie zuckte die Achseln und fügte hinzu: «Und Lucinda St. Clair, wie ich mich noch erinnere.»

«St. Clair.»

«Ja. Sie wohnen am Nordrand von Somers Abbas. Ein ziemlich barockes Haus, das sie The Steeples nennen. Lucinda ist die älteste Tochter, und wir kennen sie schon lange.» Marion legte den Kopf an die hohe Rückenlehne des Sessels und sah zur Decke hinauf. «Eigentlich glaube ich, daß Sie sich mal mit Lucinda unterhalten sollten. Sie hat David sehr gern.» Sie streckte die Hand aus, griff nach einem kleinen Notizbuch und einem goldenen Stift und schrieb rasch etwas auf. «Verstehen Sie mich bitte richtig, ich will damit nicht gerade sagen, daß Lucinda Ihnen einen unbefangeneren Bericht liefern wird. Hier ist ihre Telefonnummer und Adresse. Obwohl Ihnen jeder im Dorf sagen kann, wo die St. Clairs wohnen.» Sie riß eine Seite heraus und legte sie auf den Tisch. Sie saßen zu weit auseinander, als daß sie sie ihm hätte reichen können.

Marion Winslow war eine praktische Frau, dachte Jury. Verschwendete keine überflüssigen Worte, beschönigte nichts. Eigentlich hatte sie Ähnlichkeit mit einem Fischer. Alles wurde eingeschätzt und gewogen, bevor sie vom Gedanken zur Tat schritt. Behutsam holte sie die Angelschnur ein und wickelte sie auf. «Meinen Sie mit ‹sehr gern haben›, daß sie in ihn verliebt ist?»

Sie nickte. «Ja, und das ist wirklich ein Jammer. David erwidert ihre Gefühle nicht.» Sie starrte wieder auf die Feuerschatten an der Decke und fügte – doch so, als habe das weiter keine Bedeutung – hinzu: «Ich mag Lucinda.»

«Sie sind dann also gewissermaßen die Vertraute Ihres Bruders?»

Wieder nickte sie. «Deswegen war ich ja auch gar nicht überrascht, als er am Montag noch so spät anrief.»

«Sie erwähnten, Sie hätten etwa zwanzig Minuten miteinander gesprochen. Können Sie das noch genauer sagen?»

«Nein. Zwanzig Minuten bis eine halbe Stunde.»

Es würde bedeuten, daß Marr von etwa zweiundzwanzig Uhr fünfzig bis dreiundzwanzig Uhr zehn oder zwanzig in seiner Wohnung war, falls er das Pub genau um Viertel vor elf verlassen hatte und nach Wiggins’ Schätzung in etwa zehn Minuten nach Shepherds Market gegangen war. Wobei ja die meiste Zeit für Ivy Childess’ Ermordung draufging. Kein hieb- und stichfestes Alibi, aber besser als nichts. Natürlich hätte er innerhalb der zwanzig Minuten zwischen der Schließung des Pubs und dem Vorbeikommen der Frau mit dem Hund zum Running Footman zurücklaufen, sie erdrosseln und dann wieder nach Shepherd Market laufen können. Obwohl, zwanzig Minuten, ziemlich schwierig. Bei dreißig wäre es überhaupt kein Problem. Diese zusätzlichen zehn Minuten könnten entscheidend sein. Doch dann bliebe noch die Frage, warum Ivy zwanzig Minuten lang in Hay’s Mews hätte herumhängen sollen.

«Ihr Mann lebt meistens in London?» fragte Jury behutsam.

Marion zuckte zusammen. «Ja, das ist richtig.»

«Aber Sie fahren nicht oft nach London?»

«Nein.»

«Mr. Winslow hat eine Art Büro hier?»

«Ja. Er ist Anlageberater. Ich nehme an, er muß mit den Kunden Kontakt halten.»

Jury fand, daß dieses «ich nehme an» ganz gut die Beziehung der Winslows charakterisierte. Marion und Hugh waren mit Sicherheit nicht die oder der Vertraute des anderen. Dennoch fragte er: «Mochte Ihr Mann Ivy Childess denn auch nicht?»

«Ich kann mich nicht erinnern, daß er sich jemals über sie geäußert hätte, wie auch immer.» Sie zuckte die Achseln.

«Ihr Mann verbringt also die meiste Zeit in London, nicht wahr?»

«Ja.»

«Auch wenn er selten kommt, kommt er – sagen wir, regelmäßig?»

«Nein. Unregelmäßig.»

«Und Sie, übernachten Sie manchmal dort in Ihrem Haus?»

Sie schien nachzudenken. «Selten. Häufiger im Claridge. Ich fahre einzig und allein nach London, um David und Ned zu besuchen. Ich will nicht, daß sie sich immer verpflichtet fühlen, hierherzukommen.»

Jury lächelte. «Falls es zwei Männer gibt, die nicht so aussehen, als erfüllten sie damit eine unangenehme Pflicht, dann sind das David und Ned, würde ich sagen.»

«Danke. Das klingt ja fast wie ein Kompliment.» Sie schien in die Betrachtung ihrer Hände vertieft. «Sehen Sie – ich bin sicher, Sie verstehen das –, ich habe eine tiefe Abneigung gegen das Haus in Knightsbridge.» Sie sah auf. «Phoebe ist dort gestorben.» Ihr Blick löste sich von Jury und wanderte zum Tisch neben ihm und zu den gerahmten Fotos.

«Das kann ich durchaus verstehen.» Er folgte ihrem Blick, der zum mittleren Tisch schweifte. In einem altmodischen Walnußrahmen stand da das Foto eines kleinen lächelnden Mädchens, dem der Wind die hellblonden Strähnen ins Gesicht blies. Jury betrachtete es eingehend. «Mir ist da ein Gemälde aufgefallen, ein Porträt über dem Treppenabsatz oben. Ist es von ihr?»

«Ja. Phoebe und Rose.» Sie sah weg. «Rose war Edwards Frau. Sie ist weggelaufen. Ich wünschte, er würde wieder heiraten. Vielleicht hätte er dann mehr Glück. Wie eine Frau Ned wegen seines Geldes heiraten kann, übersteigt meine Phantasie. Aber sie hat es getan. Sie brachte es fertig, das Konto abzuräumen, ehe sie ohne ein Wort verschwand. Und doch haßt vor allem David das Porträt und nicht Ned. Er sagt mir ständig, ich soll es abhängen. Aber es ist das einzige, das wir von Phoebe haben, und man geht ja nicht her und schneidet irgendwelche Leute aus einem Porträt heraus.»

Aber man enterbt sie, dachte er. «Sie sagten, Ihr Bruder wollte Geld. War es viel?»

Sie lachte. «Das tut er ständig. David ist entsetzlich verschwenderisch. Wie er all das Geld ausgeben konnte, das er in den letzten Jahren gekriegt hat, ist mir schleierhaft.»

«Wie steht es denn mit dem Familienvermögen? Wer erbt was?»

«Es wurde gleichmäßig auf uns drei verteilt. Es sind so um die fünf Millionen, nehm ich an.» Sie zuckte mit den Achseln, als handle es sich um fünf Pfund. «Allerdings gibt es da einen Zusatz zum Testament: David erbt erst, wenn er heiratet. Unser Vater dachte, er bringt seinen Anteil in einem Jahr durch, wenn er keine Frau hat, die ihm ein bißchen Vernunft beibringt.» Ihre Augen blitzten auf. «Also hätte er doch allen Grund gehabt, Ivy Childess am Leben zu halten, finden Sie nicht?»

Ihr Blick verweilte auf einem weiteren Foto, das wie eine Vergrößerung des Schnappschusses aussah, den er sich aus Marrs Wohnung ausgeliehen hatte. David und Edward, lauthals lachend. Sie trugen Tennispullover, und Neds Hand umklammerte den Griff eines Schlägers, der hinter seiner Schulter verschwand. Aus der Haltung der beiden erriet Jury, daß sie sich vorher den Arm auf die Schulter gelegt hatten. Einer hatte gewonnen, einer verloren, beide waren zufrieden.

«Edward mag David sehr, nicht wahr?»

«O ja. Und, ob Sie’s glauben oder nicht, das beruht auf Gegenseitigkeit.»

Jury stellte das Foto wieder zurück. «Warum ‹ob Sie’s glauben oder nicht›?»

«Nur, weil David sich so gerne als Zyniker ausgibt. Nehmen Sie ihm das bloß nicht ab.»

«Tu ich ja gar nicht.»

«Weil er leidenschaftlich genug ist, einen Mord zu begehen?»

«Das habe ich damit nicht sagen wollen.»

Jury hatte die Fotografie wieder hingestellt. Sie griff nach dem Zettel aus dem Notizbuch. Schweigen. Er fühlte sich irgendwie verlegen, wie er so dasaß und die letzten Tropfen seines Whiskys trank – er kam sich wie ein Dummkopf vor, wußte aber nicht warum. Er blickte von seinem Glas auf die seidige Oberfläche eines belgischen Wandteppichs, der sich im Licht, das durch die hohen Fenster drang, wie die Schaumkronen herannahender Wellen zu kräuseln schien. Durch die Scheiben erkannte er im Dämmerlicht, daß es nicht mehr schneite. Die Buchen standen in einer dunklen Kolonne, doch waren sie jetzt aschbraun. Durch den Schleier des fallenden Schnees hatten sie schwarz gewirkt. So konnte einen die Oberfläche der Erscheinungen täuschen.

«Mr. Jury?»

Jury sah auf. Sie war zum Fenster gegangen, um es fest zu verschließen und die schweren Vorhänge zuzuziehen, fast so, als solle er nicht die Metamorphose der Dämmerung mitbekommen. Sie hielt den Kopf ein wenig schräg, als ob sie seine Augen sehen wolle. «Entschuldigen Sie. Ich habe wohl ein bißchen geträumt.»

Sie lächelte. «Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich tue das ständig.»

Ihr Versuch, sich zwanglos zu geben, wirkte auf ihn sehr gewollt.

«Ich versuche nicht, Ihnen auszuweichen. Ich dachte mir nur, Sie hätten vielleicht keine Fragen mehr.»

«Stimmt genau.» Wie sie so vor dem Fenster stand, die Hände locker ineinander geschlungen, mit ihrem dunklen Haar und der blassen Haut, vermittelte Marion Winslow den Eindruck eines Menschen, den großes Unglück sehr still, aber auch sehr sicher gemacht hatte. Und vielleicht zu allem fähig. Lügen, um jemanden zu schützen, fiele ihr leicht, weil die alten Regeln nicht mehr galten, der Wind moralische Bedenken wie Sand verweht hatte. Auch er war nun aufgestanden: «Vielen Dank, Mrs. Winslow. Ich würde mich gern noch ein wenig umsehen, falls es Sie nicht stört.»

Sie nickte. «Ich schicke Ihnen Ned, er wird Ihnen alles zeigen, was Sie sehen wollen.»

Er nickte ebenfalls. Wie sie so in ihrem Trauergewand aufrecht zur Tür schritt, erschien ihm Marion Winslow wie eine Frau, die sich von der Gesellschaft nicht mehr beeindrucken läßt. Sie hatte die Fenster verriegelt, die Vorhänge zugezogen, die Tür geschlossen.