Radiomesse
»Die Radiodays ist die größte Hörfunkmesse Europas. Sie findet seit 2010 jedes Jahr in einer anderen europäischen Metropole statt.«
Jessi saß in unserem Wohnzimmer am Fenster, trank eine Tasse Tee und hatte das kleine, spritzwassergeschützte Radio aus dem Badezimmer neben sich liegen, das mir meine Eltern vor Jahren zu Weinachten geschenkt hatten. Einer dieser Grabbelkistenartikel von Conrad, die meine Mutter aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen immer in einer Schublade parat hat. Keine Ahnung, wem sie spontan mal ein Thermo-Hydrometer, ein Knopfzellenset oder LED-Teelichter zu schenken gedenkt, vielleicht sind das aber auch nur auf Vorrat für mich erstandene Weihnachtsbaumfüllgeschenke, mit denen sie Jahr für Jahr gegen die große Freifläche unter dem Baum ankämpft.
Jedenfalls hat Jessi mir auf diesem Gerät zugehört, war Ohrenzeugin des Beginns meiner großen Radiokarriere. Zumindest schloss ich im Studio zur gleichen Zeit nicht aus, eine Sendung mit einem deutlich messbaren Zugewinn an Hörern hinlegen zu können. Denn, und das war meine ehrliche Meinung, wozu soll man diejenigen bespaßen, die so oder so zu einer Party, in einen Club, auf jeden Fall zu einem geilen Freitagabend unterwegs sind, anstatt diejenigen anzusprechen, die alleine, einsam oder mit gebrochenen Herzen zu Hause vor dem Radio sitzen.
Fest im Sattel dieser Überzeugung begann ich um Punkt acht Uhr im Studio von Hip FM meine Sendung. Rene hatte es geschafft, mich bis zur letzten Sekunde davon abzuhalten, mir irgendwas bereitzulegen, also musste ich improvisieren. Nicht meine Stärke, doch die Idee, die ich verfolgte, war meines Erachtens groß genug, um das zu kaschieren.
Ich zog die Musikregler nach unten, startete ein sanftes Musikbett, also Hintergrundmusik für meine Moderation, und begann. Jessi drehte zur gleichen Zeit das mickrige Radio auf.
»Guten Abend, ich bin Jens Fischer, und springe heute für, äh, Markus ein, der leider, keine Ahnung, krank ist, schätze ich mal. Markus, gute Besserung. Und falls du tot sein solltest, kann ja auch sein, dann dreh dich jetzt bitte nicht im Grab um, weil ich deine Stammhörer heute auf eine Reise einladen will. Ach, Scheiße, das klang jetzt blöd. Nee, ich hab vielmehr vor, die kommende Stunde zu nutzen, um eine Geschichte zu erzählen, die alles andere als alltäglich ist. Mehr davon nach dem nächsten Hit, äh, verdammt, ich kann gerade nicht sehen, was da jetzt kommt, egal. Müsste aber so gehen …«
Ich drückte auf den Knopf unter dem Regler für Musik, hörte jedoch nichts, bis mir klar wurde, dass ich den verdammten Regler ja auch wieder hochschieben musste.
»Scheiße«, war das Letzte, was von mir über den Äther ging, da ich das Mikrofon nicht geschlossen hatte. Anfängerfehler, konnte man verzeihen; der nun endlich laufende Euro-Trash-Hit würde die Hörer schon darüber hinwegtrösten. Wie ich den ins Studio stürmenden Rene jedoch beruhigen sollte, wusste ich nicht. Er meinte, dass Jerry am Telefon sei und ich mit der Scheiße sofort aufhören solle.
»Mit der Musik?«
»Nein, mit dem Kack, den du da erzählst.«
»Hey, er hat mich hier reingestellt, und ich mache jetzt das Programm.«
»Aber nicht so. Ich bin –«
»Du bist jetzt still, oder ich häng dich!«
Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass eine von Hondo übernommene und von mir geäußerte Drohung derart einschlagen könnte. Gut, mir hatte sie damals auch gehörig zugesetzt, aber da war sie von einem Typen gekommen, der mich mit seinem kleinen Finger auf den Teppich hätte schicken können. Da Rene sich nun zurückzog, hielt ich es für angemessen, etwas nachzulegen, nur so, zur Sicherheit.
»Und mach die Tür zu, du alte Scheiße!«
Gesagt, getan. Den Vogel, den er mir anschließend durch das Fenster zwischen Studio und Redaktion zeigte, fand ich schon wieder drollig. Weniger, dass er sich sofort ans Telefon setzte und vermutlich Jerry anzurufen versuchte. Ich musste mich also beeilen. Im Handumdrehen war das Kacklied abgewürgt und ich wieder auf Sendung. In meiner Hektik vergaß ich sogar das Musikbett wieder laut zu machen, Hip FM war ab jetzt eine musikfreie Zone, mein Talk-Radio.
»Genug von diesem Tss-tss-Scheiß, es gibt Wichtigeres zu hören. Und zwar die Geschichte eines Typen, der von Idi Amin kastriert wurde.«
Das hat sich in der Vergangenheit als sicherer Lacher beim Einstieg in meine Erzählung erwiesen. In weniger als vier Minuten berichtete ich von Svens missglücktem Frettchenzuchtversuch. Und wie jedes Mal, wenn ich davon spreche, spürte ich einen Phantombiss in meinem Schritt.
Ich musste mich beeilen, weil Rene vor dem Studio wie ein Tiger auf und ab streifte. Meine Erzählung schien ihn nicht im Geringsten zu berühren. Was für ein unfassbarer Feigling dieser Kerl war, dass er es sich nicht zutraute, mich in einer handfesten Auseinandersetzung überwältigen zu können. Stattdessen signalisierte und gestikulierte er wild in meine Richtung, um schlussendlich eine schnell auf Papier gekritzelte Nachricht ans Fenster zu klatschen: »JERRI KOMMT!«
Ich streckte als Antwort meine Arme in die Höhe, wie beim Y von YMCA, war aber nicht sicher, ob Rene diese geniale Mischung aus Korrektur und mimischer Gleichgültigkeitsdarstellung verstehen würde. Außerdem musste ich mich auf das konzentrieren, was ich zu sagen hatte.
»Jetzt steht dieser kastrierte Mann hier im Studio und verscheißt es sich offenbar gerade mit dem Programmchef. Jerry, falls du das hörst: Es tut mir leid, aber es geht um alles, für das es sich für mich zu leben lohnt. Das klingt pathetisch – und so meine ich es auch.«
Kaum hatte ich diesen Satz gesprochen, fiel mir zu meinem Schrecken ein, dass Jessi womöglich gar nicht zuhörte. Ich konnte nicht mal mit Sicherheit sagen, ob wir ein funktionstüchtiges Radio im Haus hatten. Ich musste sie anrufen!
»Um meine Geschichte zu bestätigen, möchte ich nun die Frau in die Leitung holen, die gerade schwanger zu Hause sitzt und das hier hoffentlich hört. Jessi, mit weichem J, nicht Tschessi. Warum das so ist, fragen wir sie gleich. Ich hoffe, ich bekomme das hin. Sekunde.«
Statt einfach ein Lied zu starten und mich mit der Telefontechnik zu beschäftigen, nahm ich Hip FM einfach mal vom Sender. Zumindest musste es so für alle wirken, die mir lauschten, denn da war nichts mehr zu hören. Ich hob das Studiotelefon ab, wählte unsere Festnetznummer und war extrem erleichtert, als Jessi dranging.
»Ich höre es, Jens. Und es ist schrecklich«, waren ihre ersten Worte. Ihr Lächeln kam jedoch ganz deutlich rüber, auch wenn ich mir der Peinlichkeit meiner ganzen Aktion durchaus bewusst war.
»Ich weiß. Und es wird noch schlimmer. Warte, ich schalte uns wieder live«, antwortete ich. Und dann: »So, da bin ich wieder, und bei mir ist nun meine Verlobte.«
»Glaubst du?«
»Jessi, mit weichem J, äh, warum eigentlich?«
»Ich war mal für so einen Sprachkurs in Perugia. Und da meine Sprachkenntnisse schlecht und der Rotwein exzellent waren, habe ich mich eigentlich immer mit einer Mischung aus Englisch und den paar Brocken Italienisch durchgeschlagen, die ich mir merken konnte. In meiner Unsicherheit habe ich dann für Ja immer Yes und si gesagt. Das wurde mein Spitzname.«
Ich konnte nicht glauben, dass ich sie noch nie danach gefragt hatte. Noch weniger, wie sie mir die Geschichte so lange hatte vorenthalten können.
»Und wie ist der Spitzname dann nach Deutschland getragen worden? Du hast doch sicher nicht allen Freunden hier erzählt, dass du jetzt Jessi genannt werden möchtest.«
»Nee. Aber da ich erst danach nach München gezogen bin und meinen damaligen Freund in Perugia kennengelernt hatte.«
Ralf. Damit wusste ich nun auch, wo und wie sich die beiden begegnet waren.
»Aber wolltest du nicht mit mir darüber sprechen, warum ich dich vor die Tür gesetzt habe?«
»Doch, wollte ich. Obwohl es eher ich war, der daran schuld war.«
»Aber muss das im Radio sein? Reicht es nicht, wenn ich dich zu uns nach Hause einlade, um das zu bereden?«
»Nein. Wir beide haben diesen verdammten Sender gekapert, jetzt lass es uns ausnutzen.«
»Du spinnst.«
»Und du stehst auf diese ekligen Kuppelshows im Fernsehen, weinst, wenn ein Fernsehteam einem jungen Mann ein Herz aus Rosen und Kerzen bastelt, das er dann seiner Freundin zeigt, als hätte er es alleine gebaut. Weil aber ich kein Fernsehteam habe, von dem ich so was erwarten könnte, muss ich eben von den Mitteln Gebrauch machen, die mir zu Verfügung stehen. Also, ich bin schuldig. Richtig?«
»Ja.«
»Eine Sekunde.«
Ich unterbrach kurz, weil Jerry in den Redaktionsraum gestürmt kam und ich die Studiotür von innen verbarrikadieren musste. Das gelang mir gerade noch rechtzeitig unter Zuhilfenahme der Hocker für Studiogäste. Ich klemmte einen davon unter die Türklinke und huschte dann schnell zurück ans Mikrofon. Jerry sah inzwischen wütender aus als all die gefährlichen Typen, die mir diese Woche begegnet waren.
»Jessi, pass auf. Ich mach eine Agentur für Messejobs auf. Ich fange klein an, von zu Hause aus, damit du den Job bei Leo annehmen kannst. Wenn du willst. Ich kümmere mich um Matilda, du bringst das Geld ins Haus, und es tut mir leid, dass ich nicht früher kapiert habe –«
Meine Übertragung war jäh von Jerry gekappt worden. Mittels Sicherungskasten. Studio 1 war off air, Rene übernahm in Studio 2 mit einer kurzen Entschuldigung. Ein Irrer habe sich in den Sender geschlichen und den Sendebetrieb übernommen. Und dann ging es, keine Ahnung, ob aus Ironie, mit Will Smith und den Men in Black weiter, ganz »Friday Night Old School«.
Das ist zumindest die Zusammenfassung der Ereignisse bei Hip FM, auf die ich mich mit Jessi nach langen Verhandlungen am Telefon auf dem Weg zu ihr einigen kann. Sie besteht zwar noch darauf, dass ich wesentlich dämlichere Dinge von mir gegeben habe, vor allem unverzeihbar viele »Ähs«, ich leugne das jedoch (obwohl sie recht hat), um die Peinlichkeit der ganzen Sache überhaupt irgendwie ertragen zu können. Wenigstens hat sich meine erste Befürchtung und anfänglich stille Hoffnung nicht bestätigt: Es haben nicht besonders viele Hörer zugeschaltet. Im Gegenteil, knapp die Hälfte hat nach ein paar Minuten den Sender gewechselt. Und da ich einen Werbeblock nicht gespielt habe, hat mir Jerry sogar noch mit einer Schadenersatzklage gedroht. Ich bete, dass er das nicht durchzieht, denn das könnte teuer werden.
Jetzt liegen wir im Bett, und ich halte sie in meinem Arm, damit sie auf meiner magischen Einschlafschulter einschlafen kann. Will sie aber gar nicht. Sie will vielmehr wissen, was ich mir sonst noch alles überlegt habe.
Also hole ich aus und setze zu einem Monolog an, der sie hoffentlich schnell müde werden lässt. Ich beginne bei meinem veralteten Rollenbild, in dem der Vater des Kindes auch die Aufgabe des Ernährers übernimmt. In dem eine Mutter zu Hause beim Kind ist, während ihr Mann irgendwo Geld verdient. Was absolut keinen Sinn mehr macht, wenn die Frau ein Jobangebot auf dem Tisch liegen hat, das ihr ein Jahreseinkommen verspricht, von dem ich nur träumen kann. Klar, meine Mutter hat drei Jahre nicht unterrichtet, sondern ist bei mir geblieben, bis ich alt genug für den Kindergarten war. Krippen und Kindertagesstätten waren zu der Zeit eben noch unpopulär, der Generation meiner Eltern ging es schließlich verdammt gut, besser als es je einer gegangen ist und jemals einer gehen wird. Unter anderem ein exzellenter Grund, unfassbar alt zu werden.
Die andere Frage ist, ob ich es gerne sähe, wenn Matilda in eine Krippe geht, ob Jessi das befürworten würde, oder ob ich nicht gleich meine kommenden drei Jahre als Vater planen sollte. Immerhin bin ich dafür, ein Kind mindestens die ersten zwei Lebensjahre nicht dem Stress auszusetzen, den der Alltag in einer entsprechenden Einrichtung mit sich bringt. Und wenn wir uns das leisten können, würde ich mir auch zutrauen, Vollzeitvater zu werden.
»Ich könnte die Kleine jeden Tag mit in Svens Wohnung nehmen, mit ihr die Frettchen füttern, kontrollieren, ob die Fahrraddeppen nichts kaputt gemacht haben, hey, ich hätte immer was zu tun.«
Jessi schmiegt sich an mich.
»Was ich an dir liebe, ist deine Blauäugigkeit. Ich meine, ich glaube dir, dass du alles tun würdest, um nicht arbeiten zu müssen, aber nach dem, was ich weiß, wünscht sich jede normale Mutter spätestens nach achtzehn Monaten nichts sehnlicher, als endlich mal wieder alleine das Haus verlassen zu können.«
»Echt?«
»Vierundzwanzig Stunden am Tag auf ein Kind aufpassen soll ganz schön krass sein.«
»Krass krass?«
»Krasser.«
»Krass.«
»Und bevor du jetzt weiterredest, habe ich noch eine Frage. Eine wichtige.«
Bevor sie diese stellen kann, beantworte ich schon mal die naheliegendsten: Nein, ich bin nicht in Leo veliebt, da muss sie sich keine Sorgen machen. Nein, ich habe nicht wieder vor, durchzudrehen und mich als Gesamtpaket infrage zu stellen, da ist einfach nichts, was sich infrage stellen lässt. Und, ja, ich würde ihr sofort noch ein Kind machen, wäre ich dazu in der Lage und sie nicht momentan schwanger. Ich lobe sie noch, die extrem gute und wirksame Verhütungsmethode Schwangerschaft gewählt zu haben, dann gehen mir die doofen Witzchen aus, und ich muss mich der schweren Frage stellen.
»Warum willst du mich heiraten?«