Singlemesse
»Die Single World 2001 stand unter dem Motto ›Genieße Dein Single-Leben‹ und war ein Total-Flop.«
Zwei Stunden später sitze ich im Wohnzimmer meiner Eltern und lasse die erste Predigt über mich ergehen: die meiner Mutter. Entgegen meinen Erwartungen echauffiert sie sich jedoch weniger über mein Versagen auf ganzer Linie als über Jessis Befindlichkeiten.
»Wenn deine Verlobte jetzt schon so durchdreht, meine Güte, wie will sie dann die Strapazen durchstehen, die nach der Geburt auf sie warten?«
»Ich glaube, dass das jetzt nicht an Jessi liegt, sondern dass sie einfach berechtigte Zweifel an der Tragfähigkeit meines Einkommensmodells hat.«
»Junge, jetzt redest du schon wieder so, dass deine Mutter dich nicht versteht«, mischt sich mein Vater in gewohnt kränkender Art ein, was bei uns zu jeder gesunden Familiendiskussion gehört. Dass seine erste Beleidigung so früh gesetzt wird, ist allerdings neu, normalerweise dürfen wir mindestens zehn Minuten wirre Theorien aufstellen und Halbgehörtes mit unserem Viertelwissen mischen.
»Außerdem geht es Jessi bestimmt nicht um dein Einkommensmodell. So einen Quatsch habe ich schon lange nicht mehr gehört«, watscht er verbal in meine Richtung weiter.
»Dann erleuchte mich mit deinem Wissen, Vater.«
»Ach, geh.«
Damit erhebt sich der Herr und verschwindet in sein Zimmer im Dachgeschoss. Meine Mutter erklärt, dass er im letzten halben Jahr unausstehlich geworden ist. Genauer gesagt, seit er weiß, dass er Großvater wird. Sie geht davon aus, dass er sich einen zweiten Frühling wünscht, sein spätherbstliches Alter ihm aber einen Strich durch die Rechnung macht. Natürlich ist auch mir aufgefallen, wie ungeniert er meine Verlobte angeflirtet hat. Ich hatte das als schwiegerväterliches Freundschaftsgebaren abgetan. Jetzt erfahre ich, dass er Mama gegenüber immer verschlossener und mürrischer wird, mindestens einmal die Woche einen Abend unterwegs ist und sogar beim Friseur war. Dieser Affront setzt ihr wohl am meisten zu, hat er sich doch über dreißig Jahre seine Haare von ihr schneiden lassen und immer über die unverschämten Preise der Haar- und Halsabschneider geschimpft, bei denen sie sich die Frisur machen ließ, um ihm zu gefallen.
»Soll ich mal mit ihm reden?«, biete ich ihr an, obwohl mir kaum etwas unangenehmer sein könnte, als mit meinem Vater über eine eventuelle Lebenskrise zu sprechen, da er so oder so alles auf mich projizieren wird.
»Das wäre ganz lieb. Ich mach dir auch einen Scheiterhaufen«, bietet sie im Gegenzug an, und ich bringe es nicht übers Herz, ihr zu verraten, dass ich diese Nachspeise schon als Kind ekelhaft fand. Diese erwärmte Pampe aus gammligen Semmeln, grenzwertigen Äpfeln, ausgetrockneten Trauben, Milch und Ei, die Mama nie süß oder vanillig genug hinbekommen hat, um sie halbwegs genießbar zu machen. Schon der Gedanke an diese Belohnung lässt mich bedauern, ihr etwas Gutes tun zu wollen. Allerdings hätte ich damit rechnen müssen, da sie sich auf freundlich gemeinte Angebote zuverlässig mit etwas revanchiert, das dem gebrachten Opfer auch nicht im Geringsten das Wasser reichen kann. Insofern werfe ich mir nun schon zwei Dinge vor: dass ich mich in die Eheprobleme meiner Eltern einmischen möchte und dass ich meiner Mutter mit fünf Jahren gesagt habe, wie lecker ich ihren Scheiterhaufen finde, weil sie so traurig darüber war, dass Papa seinen Teller nach dem ersten Bissen kommentarlos weggestellt hatte. So richtig top-harmonisch war’s bei uns zu Hause eigentlich nie.
Bevor ich mich jedoch ins Dachgeschoss verdrücken kann, will Mama natürlich noch die pikanten Details meiner Krise mit Jessi erfahren. Ich bemühe mich, möglichst ausweichend zu antworten und sage ihr, dass ich halt meinen Scheiß geregelt bekommen muss.
»Was meinst du mit deinem Scheiß?«
»Na, alles halt.«
»Ah, geh. Die Jessi wird doch nicht von heute auf morgen alles an dir schlecht finden.«
»Nein, das nicht. Aber zum Beispiel die Sache mit dem Job. Ich versuch ja, da ein neues Konzept zu erarbeiten, aber das ist nicht so leicht.«
»Dann ist die Idee nicht gut. Und vielleicht auch nicht das, was ihr als Grundlage für eure Familie braucht’s. Vielleicht hat sie einfach keine Lust mehr drauf, dich immer wieder daran zu erinnern, dass deine Tochter geboren wird und dass es daran nichts mehr zu rütteln gibt. Du wirst Papa.«
»Ich weiß.«
»Warum handelst du dann nicht entsprechend? Warum brauchst du überhaupt ein Konzept für deinen Job? Warum kannst du nicht einfach arbeiten?«
»Ich kann ja, also …«, stammle ich, und kann eigentlich gar nichts, was ich meiner Mutter aber jetzt nicht unter die Nase reiben will. Denn dann müsste ich auch damit beginnen, mich zu rechtfertigen, was am Ende dazu führen würde, dass ich sie und Papa beschuldige, mich nicht zur rechten Zeit an der Hand genommen und mir erklärt zu haben, wie das mit dem Arbeiten in unserer Gesellschaft funktioniert. Da ist es besser, einfach nichts mehr zu sagen und die Küche zu verlassen.
»Hat dich deine Mutter geschickt, oder kommst du aus eigenen Stücken hier hoch?«, meckert mein Vater mich an, als ich sein Refugium unter dem Dach betrete. Dies ist sein Reich, hier darf er mürrisch sein. Ich muss ihn eigentlich in Schutz nehmen, weil er wirklich ein äußerst großzügiger und guter Kerl ist – nur, wenn er genervt oder überreizt ist, wird er ausfallend und unausstehlich.
»Ist das so wichtig?«
»Nein. Magst ein Bier?«
»Bitte.«
Er steht von der Ausziehcouch auf, die ihm inzwischen auch als Bett dient, da Mama angeblich schnarcht, geht zu dem kleinen Kühlschrank, den ich ihm vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt habe, und nimmt zwei kleine Tegernseer Helle heraus.
»Die Partyflaschen, nicht schlecht«, lobe ich, was er ignoriert. »Prost.«
Nachdem er sein Bier in ein Glas geschenkt hat, stoßen wir an, trinken und schweigen. Erst als Papa zur Fernbedienung greift, um den LCD-Fernseher einzuschalten, breche ich die Stille.
»Was hast du eigentlich in letzter Zeit?«
»Was soll ich haben?«
»Keine Ahnung. Aber warum bist du so fies zur Mama?«
»Ich bin nicht fies.«
»Ich finde dich kalt, abweisend und verletzend ihr gegenüber.«
»Aha.«
»Altersmilde ist es auf jeden Fall nicht.«
»Jetzt red nicht so gescheit daher. Bei uns ist alles in Ordnung.«
Damit wenden wir uns dem Fernseher zu. Es läuft der Testosteronkanal DMAX, auf dem entweder Autos gepimpt oder zerstört werden, Männer in unwegsamem Gelände Würmer, Wurzeln oder Wild fressen, falls nicht gerade eine Doku über gigantische Maschinen läuft. Jetzt soll eine Brücke gesprengt werden, ein »Monster aus Stahl«, wie der Sprecher sie nennt. Mich wundert es ein wenig, dass mein Vater sich diesen Mist ansieht. Da ich aber keinen Sinn darin sehe, weiter mit meinen Gesprächsversuchen zu scheitern, starre ich ebenfalls auf das schlecht eingestellte Bild und halte den Mund.
Nach zwanzig Minuten ist die dämliche Brücke endlich kaputt und der Sprengmeister zufrieden, mein Vater offenbar auch, denn er steht auf und verlässt das Zimmer. Ich sehe mich im Raum um. Auf dem Tisch steht ein relativ neu wirkender Laptop, im Fernsehen beginnt die nächste Sendung, irgendwas mit Männern, die in Badehosen Haien, Krokodilen und Schlangen auf die Nerven gehen, während ich mich an den Rechner setze. Eigentlich nur, um mir diesen Quatsch nicht anschauen zu müssen.
Ich klappe den Laptop auf und nehme noch einen Schluck Bier, nicht ahnend, dass ich gleich halb daran ersticken werde. Denn mein Vater hat den Internetbrowser offen gelassen und in vier Tabs Seiten von Online-Dating-Services geladen. Bei friendscout24 ist er als »eisenvater« unterwegs, bei love.de nennt er sich »Aporie« und auf dating.com »bazooka_joe«, was ich absolut nicht verstehen kann. Selbst bei der neuen Bumsbörse gibsmir.de ist mein Papa offenbar angemeldet. Dort wird damit geworben, mehr willige Singles als sämtliche Mitkonkurrenten zu haben. Was eine Lüge sein muss, hinter der nicht mehr als eine große Halde von Fakeprofilen steckt. Fest steht jedoch, dass mein Vater auf der dringenden Suche nach einem Seitensprung ist, eine Idee, die mich ratlos macht und die ich möglichst schnell wieder verdrängen möchte.
Dass er überhaupt Bedürfnisse in diese Richtung hat, so etwas wie körperliches Verlangen oder sexuelle Lust verspüren könnte, habe ich eigentlich mein Leben lang ausgeschlossen, beziehungsweise aktiv aus meinem Gedankengut ausgeblendet. Er ist mein Vater. Der Mann, der gerade im Bad nebenan pinkelt. Dass er vor meiner Geburt mit meiner Mutter geschlafen hat – geschenkt. Ich habe auch kein Problem damit, dass zwischen den beiden vermutlich nicht alles rein missionarisch stattgefunden hat. Aber dass er nun, stramm auf die Siebzig zugehend, noch versucht, eine Frau zu finden, um sich mit ihr im Bett zu vergnügen – das geht einfach nicht.
Vor ein paar Jahren musste ich mir mit meiner damaligen Freundin Natascha einen »sehr mutigen« Film über Senioren ansehen, die noch mal die Lust zwickt. Der Höhepunkt war eine Sexszene, bei der ich beschlossen habe, meine horizontale Aktivität in Würde mit meinem fünfzigsten Geburtstag einzustellen. Vorausgesetzt, dass man beim Thema Sex überhaupt irgendwas würdevoll machen kann.
»Was tust denn da an meinem Computer?«
»Wer? Ich? Nichts.«
Mit einem schnellen Alt-F4 ist der Browser geschlossen, ein Tastaturkürzel, das ich blind beherrsche, seit ich mit Jessi zusammenwohne und nicht beim Prokrastinieren erwischt werden will. Ich stammle etwas von Virenschutz prüfen und nach Updates schauen. Eine reichlich dumme Entschuldigung, da sich mein Vater mit PCs bedeutend besser auskennt als ich, wie er mir auch, seinen Gürtel schließend, mitteilt: »Dir ist schon klar, dass ich mich mit Computer bedeutend besser auskenne als du.«
Mein Papa war einer der Lehrer, die schon in den Achtzigern einen Computer hatten, damals einen Schneider CPC 6128, mit dem man einfach mal gar nichts machen konnte. Es gab zwar ein paar Spiele, doch an die kam ich damals nicht, da es in meinem Freundeskreis keine anderen Schneider-Besitzer gab. Wobei mich mein Vater wahrscheinlich so oder so nicht zum Spielen an den Rechner gelassen hätte. Und sein Angebot, mir Basic beizubringen, schlug ich dankend aus. Gott weiß, was für ein milliardenschweres IT-Unternehmen ich sonst heute leiten müsste. Für meinen Vater steht seitdem auf jeden Fall fest, dass ich in Sachen Computer ein Versager bin.
»Dann lass die Finger davon, sind eh keine Spiele drauf.«
»Ja, stimmt. ’tschuldige.«
»Musst dich nicht entschuldigen.«
»Na ja, hätte ja sein können, dass du da Programme offen hast oder Dokumente, die mich nichts angehen.«
»Wieso?«, fragt mein Vater und setzt sich dann schweigend wieder auf die Couch. Ich starre weiter auf den Monitor, denn ich weiß, dass er weiß, was ich gesehen haben muss. Eine Hitzewelle fährt durch meinen Körper. Die Frage ist, ob ich es ansprechen werde oder einfach auf sich beruhen lasse. Er wartet förmlich darauf, dass ich resigniere und ihn sein kleines Flirtspielchen in Ruhe weitertreiben lasse. Im Grunde sollte ich das auch. Ich könnte mich damit trösten, dass er wenigstens nicht altersgeil Seiten wie youporn oder pornhub aufgerufen hat. Das hätte mich wirklich gegraust.
»Und sonst? Alles gut bei euch?«, versuche ich die unangenehme Stille zu brechen.
»Sicher.«
»Bei mir auch.«
Mit einem Mal ist mir wieder klar, warum ich hier nicht wohnen kann. Es ist diese vollkommene Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren, die fischerinterne Small-Talk-Behinderung. Sie hat mich damals nach dem Abitur dazu bewogen, schnellstmöglich auszuziehen. Und sie schlägt mir auch jetzt schon wieder auf den Magen, nach nicht mal zwanzig Minuten bei meinen Eltern.
Ich drehe mich zu meinem Vater herum und greife zeitgleich mit meiner rechten Hand nach dem Laptop, um ihn zu schließen, wobei ich leider zunächst gegen meine Bierflasche schlage, die umkippt und ihren Inhalt über die Tastatur des Rechners kippt. Der Computer ist offensichtlich keinen Alkohol gewohnt, gibt nur ein leises »bzzt« von sich und macht sich dann auf in die ewigen Datengründe.
»Oh, Scheiße!«
»Sag amal …?«
»Ich wollte nur …«
»Spinnst du?«
»Nein.«
Mit drei großen Schritten ist mein Vater neben mir und starrt auf das Desaster. Mir steigt die Schamröte ins Gesicht, genau wie damals, als ich mit meinem frisch erstandenen Führerschein sein Auto statt aus der Garage in die Garagenwand gesetzt habe.
»Man stellt doch kein Bier neben einen Computer!«
»Wieso?«
»Ja, deswegen!«
Papa hat den biertriefenden Computer inzwischen hochgehoben und hält ihn schräg, um die Flüssigkeit ablaufen zu lassen.
»Jetzt hol halt ein Handtuch.«
Ich verlasse das Zimmer, hadere für einen Augenblick an der Badezimmertür mit mir, und beschließe dann, dass es keine gute Idee war, bei meinen Eltern aufzuschlagen. Statt mit einem Handtuch zurück zu meinen Vater zu gehen, laufe ich die Treppe runter und verlasse das Haus.