Kampfsportmesse
»Die fit4fight Messe Freiburg fand erst- und letztmals am 31.10.2010 von 15:00 bis 18:00 Uhr auf dem Großparkplatz am EDEKA-Markt statt.«
Mir war nicht bewusst, dass »das Beste der Welt« derart präsent im eigenen Leben wird, sobald man ein Baby erwartet. Genauer gesagt das beste Baby der Welt, für das von allem nichts Geringeres gut genug ist. Weshalb der beste Papa der Welt der besten Mutter der Welt die teuersten Wünsche der Welt von den schönsten Lippen der Welt abliest. Da er sie aber nicht in der besten Entbindungsklinik der Stadt angemeldet hat, die garantiert auch die beste der Welt ist, befindet er sich nun in der beschissensten Welt der Welt. Und alles nur, weil er nicht in Kenntnis darüber gesetzt wurde, dass man dort schon in der achten Schwangerschaftswoche vorstellig werden muss. Ihm war das immer so vermittelt worden, dass überhaupt erst ab der zwölften Woche offiziell vom Vater- beziehungsweise Mutterglück gesprochen werden darf.
»Ja, aber das gilt nicht für Ärzte!«
»Wer meldet denn bitte sein Kind so früh zur Geburt an? Ich dachte immer, dass so was Unglück bringt.«
»Fang bloß nicht mit Unglück an, Jens. Wir haben uns darauf geeinigt, dass es in unserer Schwangerschaft das Wort Unglück nicht gibt.«
»Ich meine ja nur …«
Womit die Diskussion auch schon wieder beendet ist. Für mich zumindest, denn ich bin eh gerade auf dem Weg zum Rechner und kann mir nicht vorstellen, dass Jessi sich noch weiter wegen einer solchen Lappalie streiten möchte.
»Wenn du dich jetzt vor deinen Computer hockst, drehe ich durch«, schreit sie mir hinterher. Das mit dem Ende der Diskussion sieht sie wohl anders als ich.
»Ich bring nur meinen Teller weg und hol Wasser. Willst du irgendwas? Tee oder so?«
Schweigen. Ich klimpere mit etwas Geschirr in der Küche, weil ich gar keinen Teller hatte, gehe an den Kühlschrank, nehme einen Schluck Milch aus der Packung und mache mich dann auf den Weg zurück in die Ungemütlichkeit der verbalen Auseinandersetzung. Als ich das Wohnzimmer betrete, weint Jessi, und ich fühle mich schlagartig wie ein Schwein, ein Schuldreflex, der mir garantiert in meiner frühen Kindheit antrainiert worden ist – und an dieser Stelle möchte ich dann gerne meine Mutter und meinen Vater grüßen.
Jessi heult eigentlich nie, und wenn, dann nicht vor mir. Ich werde angeschwiegen oder laut beschimpft, wobei es mir relativ gleichgültig ist, für welche der beiden Streitvarianten sie sich entscheidet, ich leide so oder so wie ein Hund. Ich brauche Harmonie wie andere Schokolade, dafür bin ich auch bereit, sehr viel einzustecken. Jessi darf mich beschimpfen und zurechtweisen – solange sie danach wieder glücklich und zufrieden ist, stecke ich das weg. Ich verdränge es wie alles, was irgendwie meine Grundharmonie in einem beliebigen Lebensbereich stören könnte. Steuern, zum Beispiel. Oder Schulden. Und aktuell natürlich die Jobsache.
»Mann, Jessi«, versuche ich ein vernünftiges Gespräch zu beginnen, »das ist doch nicht so gemeint.«
»Mann mich nicht an!«
»Entschuldige. Ich finde es nur krass, dass diese ganzen Supereltern schon ihre Geburtstermine buchen, wenn andere noch mit ein bisschen Restrealismus die kritische Phase der Schwangerschaft abwarten.«
»Das Problem sind nicht die anderen Eltern, sondern du. Und kritisch ist bei uns schon lange nichts mehr, höchstens deine Einstellung.«
Eigentlich hatten wir uns auf Jessis Initiative hin im Stillen darauf geeinigt, dass alle anderen werdenden Eltern Idioten sind. Vornehmlich die Frauen, klar, denn die beginnen sich größtenteils schon während der Schwangerschaft über die Existenz ihres noch ungeborenen Babys neu zu definieren. Wir hatten vereinbart, dass ein Umdenken, eine Neuorientierung und -ausrichtung der eigenen Lebenshaltung und -philosophie sicherlich angebracht und nicht verwerflich sind. Nur das komplette Hohldrehen verurteilen wir, beziehungsweise haben wir verurteilt, denn meine Verlobte macht nun schon seit einigen Wochen Anstalten, selbst in die Rolle der leicht gestörten Übermutter zu fallen. Im sechsten Monat kann ich das allerdings als hormonbedingte Bewusstseinsveränderung verzeihen.
»Außerdem waren wir uns doch sicher, dass wir in die Taxisstraße gehen, und da hat die Frau am Telefon gesagt, dass es reicht, sich acht Wochen vor dem Termin anzumelden«, versuche ich meine Untätigkeit zu rechtfertigen.
»Da wusste ich aber noch nicht, wie gut der Dritte Orden ist.«
»Nur weil die Zicken in deiner Geburtsvorbereitungsgruppe, die du übrigens hasst, das behaupten. Wenn du mich fragst, sind die komplett geisteskrank, wenn sie ihr inoffizielles Kind quasi mit dem Weglegen des Schwangerschaftstests dort einbuchen. Und nur weil diese Tanten dort ihre Handtücher auf die Spreizliegen schmeißen, heißt das nicht, dass es das bessere Krankenhaus ist. Ich habe zumindest nicht mitbekommen, dass in anderen Kliniken irgendwas schlechter läuft und reihenweise die Mütter und Neugeborenen sterben.«
»Du hast ja auch keine Ahnung.«
Das ist ihr neustes Totschlagargument, das stets von einem Totschlagblick begleitet wird. Das Schlauste ist, sich daraufhin erst mal tot zu stellen. Ich setze mich also neben sie auf die Couch, auf der sie nun die Tage verbringt, lege ihre Füße auf meinen Schoß und schweige vor mich hin. Darin bin ich beängstigend gut. Zum Glück ist es nicht dunkel, sonst würde ich einschlafen, was meine Lieblingsstrategie ist, um einen gerade aufkeimenden Streit frühzeitig zu beenden. Tagsüber schaffe ich dasselbe oft mit einer kleinen Fußmassage, die ich auch diesmal einzuleiten versuche.
»Und was machen wir jetzt?«, will Jessi wissen, um mein Totstellen zu beenden.
»Ich kann ja mal hinfahren und versuchen, ob ich nicht irgendwas ausrichten kann. Du hast doch erzählt, dass von den Tussen in der Gruppe eh zwei lieber eine Hausgeburt wollen und sich nur vorsorglich angemeldet haben.«
Mein Daumen kreist mit sanftem Druck auf ihrer Fußsohle herum, was Jessi aber offenbar gar nicht registriert. Statt sich zu beruhigen, erklärt sie, dass ich mir den Trip sparen kann, da neunzig Prozent aller geplanten Hausgeburten so oder so im Kreißsaal enden.
»Gut. Aber wenn von den acht Frauen in deiner Gruppe zwei so eine Hausgeburt planen, sind das immerhin fünfundzwanzig Prozent, und wenn die da zehn Geburten am Tag haben und davon auch zwei lieber zu Hause wären, dann finden bei einer Erfolgsquote von zehn Prozent an zehn aufeinanderfolgenden Tagen zwei Geburten nicht im Kreißsaal statt.«
»Hä?«
»Ich sag ja nur – alle fünf Tage wird dort ein Termin nicht wahrgenommen.«
»Ja, Jens, nach deiner Scheißlogik.«
»Alternativ können wir uns nirgendwo anmelden und dann einfach einen Krankenwagen rufen, wenn die Wehen einsetzen, und uns in den Dritten Orden fahren lassen. Die können uns ja nicht wieder nach Hause schicken. Oder wir fahren einfach mit ’nem Taxi hin«, denke ich laut, was meinem Vorsatz, nie wieder laut zu denken, aufs Äußerste widerspricht.
»Oder wir probieren’s einfach mit einer Hausgeburt«, fährt Jessi mich an und zieht ihre Füße zurück. Ich beschließe, mich wieder tot zu stellen, während sie aufsteht und das Wohnzimmer verlässt, leise über das Zusatzgewicht im Bauch stöhnend.
Ich habe mich an meinen Computer zurückgezogen, um so zu tun, als würde ich arbeiten. Eigentlich gibt es nichts vorzubereiten, nur einen kleinen Auftrag auf der eCarTec-Messe in zehn Tagen. Seit gut fünf Jahren lebe ich fast ausschließlich von solchen Jobs auf sämtlichen Messen, die in unsere schöne Stadt kommen. Mal muss ich den Besuchern alles über innovative Seifenspender erklären, das nächste Mal ein vollendet idiotisches Fitnessgerät vorstellen, an welches sich im nächsten Jahr niemand mehr erinnern wird, und nun eben eine Präsentation für eine revolutionäre Akkuladestation vorbereiten, die sich jedermann in die Garage stellen sollte, der ein Elektroauto hat. Top Plan, der aber daran scheitern wird, dass die gefühlten neun Elektroautobesitzer in Deutschland bestimmt ein hart umkämpfter Markt sind.
Alleine bin ich mit dem Job ganz gut um die Runden gekommen. Dass ich konstant um die null Euro auf dem Konto hatte, habe und vermutlich auch haben werde, war nie problematisch für mich. Da mir nun aber ein Kind ins Haus steht und Jessi in ihrem Elternjahr auch nicht an die Obergrenze des Elterngelds kommt, wird mir immer mulmiger, wenn ich an Ausgaben denke. Das ist wohl die männliche Variante der Schwangerschaftsübelkeit.
»Und? Irgendwas Neues auf Facebook?«, reißt mich Jessi aus meinen Gedanken. Da diese Seite tatsächlich gerade auf meinen Monitor geöffnet ist, drück ich hastig cmd+h, und der Browser verschwindet von der Oberfläche.
»Nee, nur Scheiß.«
Ich drehe mich zu ihr um und erkenne sofort, dass es diesmal nicht mit einem Blumenstrauß und schön Essengehen getan sein wird. Jessi hat ihren Mantel an und eine gepackte Tasche neben sich stehen.
»Fährst du weg?«, frage ich blöd, worauf sie mich nur schweigend anblickt.
»Jetzt ernsthaft. Was wird das?«
»Ich muss mal ein paar Tage raus hier«, setzt Jessi an. »Mir fällt die Decke auf den Kopf – und ich finde mich in letzter Zeit unausstehlich.«
»Bist du nicht.«
»Doch.«
Eine erste Träne bildet sich in ihrem rechten Auge, das linke wird auch feucht. Ich kann kaum glauben, dass Jessi schon wieder heult. Normalerweise hat es bislang nur aus ihren Augen gesuppt, wenn wir vor Lachen nicht mehr konnten. Sie muss wirklich verzweifelt sein, und in mir gehen alle Alarmglocken los, denn Verzweiflung kommt von Zweifeln, und das kann sie nur an mir. Sie war in den vergangenen Wochen schon sehr gereizt, hat wegen Kleinigkeiten herumgestritten und mich immer wieder kritisiert. Meist auch zu Recht. Die Sache mit der dämlichen Klinik, meine Arbeit, mein Essverhalten, meine Disziplinlosigkeit, alles wurde irgendwann mal zum Thema. Doch es ist mir immer gelungen, alles runterzuspielen, ihr ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln oder mich selbst zu bessern. Zumindest kurzzeitig. Vielleicht hat sich da einfach was in ihr aufgestaut, vielleicht braucht sie nur etwas Abstand.
»Mir wird gerade alles zu viel.«
»Was genau?«
»Das Baby, die Hochzeit, die ganzen Umstellungen.«
»Helfe ich dir nicht genug?«
»Doch, doch. Das hat nichts mit dir zu tun. Ich hab irgendwie ein Problem mit mir, und das will ich aussortieren.«
»Alleine.«
»Ja, du musst schließlich arbeiten und …«
Sie bricht mitten im Satz ab und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Ich könnte jetzt ehrlich sein und ihr sagen, dass ich eigentlich nicht wirklich was mache. Dass ich hier sitze und hoffe, sie merkt nicht, wie planlos ich gerade bin. Dass ich ihre Angst vor all den neuen Herausforderungen teile, vor allem die, für ein Kind verantwortlich zu sein. Doch irgendwas in mir hindert mich daran, vermutlich die Vernunft.
»Und wo genau willst du hin?«, frage ich stattdessen.
»Zu einer Freundin.«
»Zu Mina?«
»Ist doch egal.«
Ist es nicht. Ich muss schließlich wissen, wo ich sie finden kann, falls was passiert. Immerhin ist sie im sechsten Monat schwanger. Jessi erwidert nur, dass sie mich schon erreichen wird, falls was sein sollte. Was soll in zwei, drei Tagen schon passieren?
»Zwei, drei Tage also?«, frage ich nach.
»Keine Ahnung. Vielleicht auch ein paar mehr. Mal sehen.«
»Gut. Wenn ich irgendwas tun kann, sag mir Bescheid, ja?«
»Natürlich.«
»Und es liegt sicher nicht an mir?«
Mein Magen hat sich inzwischen viermal gedreht, mir ist übel, schwindlig und kalt. Aus Jessis Zögern lese ich obendrein, dass ihre Krise sehr wohl mit mir zu tun hat. Dass ich das Problem bin und sie sich nur nicht traut, es auszusprechen, womöglich die Beziehung infrage zu stellen. Das überlassen die Frauen nämlich gerne uns Männern, um es uns später immer und immer wieder vorzuhalten. Sie selbst implizieren nur eine gewisse Unzufriedenheit, bis sie dann überraschend radikal einen Schlussstrich ziehen.
»Ich liebe dich«, antwortet Jessi nach einer gefühlten Ewigkeit leise.
»Dann bleib.«
Sie schaut mich an, in ihren Augen spiegelt sich eine Hilflosigkeit, die ich von ihr so nicht kenne. Sie liebt und verlässt mich mit einem verzweifelten Lächeln, dem ich nur ein Stirnrunzeln entgegensetzen kann, denn dieses Paradoxon muss ich erst einmal verdauen. Oder wenigstens betäuben.
»Und dann ist sie zurückgekommen, und ihr habt gevögelt?«, mutmaßt Sven, mit dem ich gerade mein fünftes Bier an diesem Abend trinke. Er hat eine Kneipe in der Innenstadt aufgetan, in der man in einem ausgehöhlten Baum an der Bar sitzen kann. Landhaus heißt sie, Baumhaus nennt er sie. Zudem kann man sich hier gut und günstig für einen Besuch im nahe gelegenen Atomic Café die nötige Gelassenheit antrinken, dessen Zielgruppe man mit achtunddreißig im Grunde schon wieder verlassen hat.
»Nein, sie ist nicht zurückgekommen, und das ist vielleicht auch besser so, sonst nehme ich das ja nicht ernst«, antworte ich.
»Und dein erster Beweis dafür, wie ernst du das nimmst, besteht darin, dich mit mir wegzuschießen?«
»Nee. Ich hab vor dir schon Hondo gefragt, aber der hatte keine Zeit.«
»Witzig.«
»Hast du mit dem eigentlich noch Kontakt?«
Sven nickt. Hondo ist ein gemeinsamer Bekannter, bei dem ich im vergangenen Sommer ein Praktikum als Dopingmittel-Verteiler im Freibad absolviert habe. Ich hatte Schulden bei ihm, die ich abarbeiten musste, da der muskulöse Balkanhühne nicht der Typ ist, dem man Geld schulden möchte.
»Und? Was macht er?«
»Türsteher. Bei Armani. Damit die Tüten beim Shoppen nicht gestört werden.«
»Tüten?«
»Ja, die verschleierten Tussen aus Dubai und so.«
»Und warum Tüten?«
»Weil die immer mindestens fünf Tüten rumschleppen. Außerdem sind sie ja selbst auch irgendwie eingetütet.«
»Ist was dran.«
»Am lustigsten finde ich die mit so ’nem Bronze- oder Goldteil vor dem Mund. Die schauen aus wie vermummte Eishockeyspieler.«
Ich hätte gleich ahnen können, dass mich ein Absturz mit meinem ehemaligen Mitbewohner nicht bereichern würde, was die Analyse meiner aktuellen Beziehungssituation betrifft. Auf der anderen Seite habe ich mir nach Jessis Ansage auch einen Abend Ablenkung verdient.
»Aber wer sagt eigentlich, dass du das ernst nehmen musst?«, beendet Sven überraschend seine Tütenabschweifung.
»Ich. Ist doch klar, dass ich der Grund für die ganze Scheiße bin.«
»Wieso?«
»Weil ich meinen Kram nicht auf die Reihe bekomme. Weil ich nichts hinkriege und deswegen genauso verunsichert bin wie sie.«
»Du verunsicherst dich selbst?«
»Ja. In gewisser Weise.«
Das muss Sven erst mal sacken lassen. Er schüttelt seinen Kopf in Unverständnis, nimmt einen großen Schluck Bier und stellt sein Glas ab, aber nur um es gleich wieder zu nehmen und es in einem Zug zu leeren. Ich sehe ihn die ganze Zeit erwartungsvoll an, ganz so, als würde er mir gleich versichern, dass ich mir keinen Kopf machen muss, weil ich in Wirklichkeit alles im Griff habe. Ich bin richtig erpicht auf seine freundschaftliche Lüge, auf sein verbales Schulterklopfen, ein paar Worte, die mich und meinen plötzlichen Wahn, ein Versager zu sein, wieder ins rechte Licht rücken.
»Ich kann sie ja verstehen«, antwortet er stattdessen und ordert ein weiteres Bier. »Immerhin lässt du dich von jedem Mist sofort ablenken und bekommst wirklich nichts auf die Reihe.«
»Das sagt der Richtige«, erwidere ich trotzig.
»Wer soll es dir denn sonst sagen? Wenn ich dich fragen würde, was du in den vergangenen, na, sagen wir, vier Tagen Produktives geleistet hast, würdest du mich in eine Diskussion darüber verwickeln, was genau ich mit produktiv meine.«
»Stimmt doch gar nicht.«
»Okay. Dann sag’s mir.«
»Na ja, das ist nicht so einfach zu beantworten, weil ich ja gerade quasi …«
»Siehst du. Null. Stattdessen hast du garantiert die meiste Zeit im Internet verbracht.«
Sven kennt mich zu gut, und ich befürchte, dass Jessi in den vergangenen Monaten ein ähnliches Bild von mir gewonnen hat. Insofern kann ich Sven gut als Testperson verwenden und mit ihm das diskutieren, was mir Jessi eventuell vorwerfen könnte.
»Das stimmt so nicht«, sage ich folglich. »Ich muss schließlich für meine Moderationen immer auf dem Stand aller Entwicklungen sein.«
»Ach, und das kann man bei den verschiedenen Flash-Game-Anbietern nachlesen?«
»Nein, in den Blogs.«
»Und welche Blogs checkst du da so?«
»Ja, ich schau halt auch bei Facebook.«
»Du bist da Mitglied?«
»Ey, doch nur, weil du da ein Profil auf meinen Namen eingerichtet hast, um deine bescheuerte Ex-Freundin zu finden.«
»Hättest es ja löschen können.«
»Leck mich, Sven. Außerdem ist es sehr gut zum Netzwerken. Erst gestern hab ich auf die Art wieder eine Anfrage für die electronica-Messe bekommen.«
»Dann solltest du mir dankbar sein!«
»Nee, da hab ich schon einen Kunden, aber ich hab die Adresse an einen Bekannten vermittelt, der auch bei Facebook ist und mir jetzt einen Gefallen schuldet.«
»Dann frag den doch, ob er nicht dein Leben für dich neu ordnen könnte.«
»Oder ob er ’nen Plan hat, was man machen kann, wenn man alt wird und nichts gelernt hat«, versuche ich resigniert die Diskussion zu beenden. Sie führt zu nichts, es ist nicht mal eine richtige Diskussion, nur mein erbärmlicher Versuch, mich und meine kaputte Arbeitsmoral zu rechtfertigen. Außerdem zieht mich das Bier inzwischen runter. Das passiert regelmäßig zwischen der vierten und fünften Halben. Die ersten drei öffnen wohl eine Art Ehrlichkeitspforte in der selbstbetrügerischen Schutzhülle, die ich um mein Ich herum errichtet habe. In den geschätzten zehn Minuten, die ich mit dieser offenen Tür zu meinem Innersten verbringe, entscheidet sich jedes Mal, wie der Abend verlaufen wird. Kriege ich mich wieder ein und kann die Pforte erfolgreich wieder schließen, wird die Nacht lang, feucht und fröhlich. Gelingt es mir nicht, mich erneut in den Kokon aus halbseidenen Selbstrechtfertigungen zurückzuziehen, wird sie lang, feucht und düster.
»Andere nehmen für so eine Vermittlung Provision«, setzt Sven noch nach.
»Ja, und dafür werden sie von allen zu Recht gehasst«, erwidere ich. »Makler, Agenten und Zeitarbeitsvermittler sind eine nutzlose Pest, Beziehungsparasiten, die sich zwischen Geschäftspartner drängen und auf ihre Kosten leben, ohne irgendwas beizutragen.«
Ich kann erkennen, dass Sven erwägt, korrigierend auf meine verhärtete Perspektive einzuwirken, da sich seine Augen nach rechts oben bewegen, ein deutliches Anzeichen dafür, dass mein Gegenüber grübelt. Doch mit einem kurzen Kopfwackeln entscheidet er sich dann dafür, mich vorerst genug gequält zu haben und den Abend aufblühen zu lassen.
»Einen Tipp hab ich aber noch«, beendet er unser Krisengespräch. »Sei einfach mal vollkommen ehrlich. Zu dir, zu Jessi und … äh, reicht eigentlich. Zu Jessi und zu dir.«
»Mach ich. Ist vielleicht wirklich nicht dumm.«
Ich hebe mein Glas, und Sven prostet mir zu: »Ex oder Arschloch.« Weil ich den Spruch seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gehört habe, lächle ich und entscheide mich für Ex. Damit ist das Selbstzweifelintermezzo beendet, die sechste Halbe kann kommen, der Abend wird eine fröhliche Party.