Glücksspielmesse
»Zutritt nur für Personen ab 18 Jahren.«
Es ist Montagabend, und ich stehe vor dem Café Benz und traue mich nicht hinein. Eigentlich sollte ich gerade bei Hip FM im Studio stehen, aber Hondo hat mich wegen einer angeblich einmaligen Chance hierher bestellt. Ich gebe zu, dass ich ein wenig erleichtert war, eine so überzeugende Ausrede vor meinem Unterbewusstsein parat zu haben, das mich eigentlich viel lieber beim Radiosender sehen würde. Ich kann es tatsächlich erfolgreich beruhigen, indem ich mir einrede, dass mir an einem der kommenden vier Abende sicherlich eine Sendung gelingen wird, die Jerry überzeugt, dass ich der richtige Mann für seinen Sender bin. Immerhin habe ich mich durch die ganzen Zeitschriften gelesen und eine grobe Vorauswahl an Themen im Kopf, über die ich sprechen könnte. Und vielleicht bekomme ich genau heute Abend den Stoff geliefert, den ich morgen in der Sendung verbraten kann.
Dafür müsste ich allerdings das Café Benz betreten, wogegen sich mein Geist und Körper sträuben. Dies ist kein Ort für Leute wie mich. Wir verfügen nicht über genug Testosteron, Mut und Verschlagenheit, um ein derart dubioses Etablissement betreten zu können, ohne von allen anderen Gästen für einen Polizisten oder Idioten gehalten zu werden. Im Zweifel auch für beides. Eigentlich war ich mit Hondo hier vor der Tür verabredet, von ihm ist jedoch nichts zu sehen. An sein Handy geht er auch nicht.
Ich sammle vor dem T-Punkt an der Ecke Mut, indem ich die Werbung für das neue iPhone betrachte und mich wundere, wie die Presse darüber urteilen konnte, dass es »sehr gut, aber nicht das beste iPhone aller Zeiten« sei. Wäre es das, könnte Apple schließlich dichtmachen. Es gibt so oder so nur sehr wenige »beste Dinge aller Zeiten«. Spontan fallen mir das Rad, das Boot und alles von Alessi ein. Danach wird’s dünn.
Als endlich ein Kerl in meinem Alter aus dem Café kommt, um an dem kleinen Stehtisch vor der Tür eine zu rauchen, nehme ich all meinen Mut zusammen und frage ihn, ob Hondo da ist. Er ignoriert mich. Ich darf jetzt nicht aufgeben, frage stattdessen nach Bülent. Keine Reaktion. Mein Glück hat mich mal wieder verlassen – falls es je bei mir war. Ich wende mich ab, seufze und will gehen.
»Was willst’n von Bülent?«
»Das kläre ich dann mit ihm.«
»Bist du Bullerei?«
»Nein.«
»Hätt mich auch gewundert.«
»Ist Bülent drinnen?«
»Wie kommst du drauf, dass der mit dir spricht?«
Mir schwant, dass Bülent gerade vor der Tür eine rauchen ist und ich mich vor ihm zum Horst mache.
»Ich bin ein Freund von Hondo«, antworte ich und setze mit einem versöhnlichen Lächeln hinterher: »Und du bist Bülent?«
»Nein. Der ist im Büro. Sag Serkan, dass er dich durchlässt.«
»Wer ist Serkan?«
»An der Bar.«
»Danke.«
Kaum habe ich es an dem Namenlosen vorbei ins Café geschafft, wo mich die drei weiteren Gäste und Serkan an der Bar sofort argwöhnisch beäugen, läutet mein Handy. Um cool zu bleiben, ziehe ich es aus der Tasche und nehme das Gespräch entgegen, ohne zu schauen, wer dran ist.
»Jens? Endlich. Hier ist dein Vater.«
»Papa!?«
Das kommt so laut, dass alle Benz-Besucher mich breit angrinsen.
»Hör mir bitte kurz zu. Ich versuche schon seit Tagen, dich zu erreichen. Mama ist wütend, und ich bin vorübergehend in einem Hotel.«
»Was?!«
»Du hast doch auf meinem Computer gesehen, dass ich … Wir leben aneinander vorbei, deine Mutter und ich. Seit Jahren.«
»Du kannst doch Mama nicht verlassen!«
Mit einem Schlag werden alle Gesichter im Café Benz todernst, die gesamte Aufmerksamkeit gilt dem komischen Kauz, der gerade hereingekommen ist und telefoniert.
»Können wir uns irgendwo treffen?«, fragt Papa.
»Ja, klar.«
»Wo bist du denn?«
»Am Isartor.«
»Dann sagen wir doch, in einer Stunde beim Sedlmayr.«
»In Ordnung. Falls ich mich verspäte, bestell mir schon mal ein Tellerfleisch und eine Halbe.«
Ich beende das Telefonat und blicke in die Runde. Die anwesenden Typen schauen mich empathisch an. Ich nehme an, dass die meisten von ihnen Scheidungskinder sind.
»Halb so schlimm«, beruhige ich. »Zweiter Frühling.«
Die Männer wenden sich wieder den Flatscreens an der Wand zu, auf denen Pferderennen (die mit dem Anhänger), ein Fußballspiel und irgendwelche Wettquoten zu sehen sind. Ich gehe zum Barmann und erkundige mich, ob es möglich ist, mit Bülent zu sprechen, wenn einem der Typ vor der Tür gesagt hat, dass das okay ist. Sicher, ist möglich. Er weist mit einem Kopfnicken zu einer Tür neben dem Tresen, ich tippe mir zum Dank an die Stirn, grusle mich vor dem Bild, das ich durch diese Narrengeste im selben Augenblick abgegeben haben muss, und begebe mich dann in Bülents Büro.
Als Erstes fällt mir ein großes Plakat hinter dem Schreibtisch auf. Es zeigt einen Mann in einem Lichtkegel vor einer durchgepimpten Mercedes S-Klasse aus den Neunzigern, der ein Schwert in der linken Hand hält; die Arme sind an den Ellbogen auseinandergespreizt, er schreit in den Himmel. Darüber steht in großen, blauen Lettern: Bülander. Darunter: Es kann nur einen geben. Es muss eine Persiflage von oder Hommage an das Filmplakat des Achtziger-Streifens Highlander sein, das kommt auf die Betrachtungsweise an. Unter dem Poster sitzt der Mann, der darauf zu sehen ist. Wenn auch ohne Schwert, Lichtkegel und Auto.
»Du bist also ein Freund von Hondo«, begrüßt er mich patzig. Der Depp von draußen hat ihn wohl angerufen oder eine SMS geschickt. Letzteres ist eher fragwürdig, da der Typ nicht so wirkte, als wäre er ein wieselflinker Rechtschreiber.
»Ja. Jens. Fischer.«
»Und du hast Geld dabei, das du investieren möchtest?«
»Äh, nein. Hondo meinte, dass Sie eine einmalige Investitionsmöglichkeit für mich hätten, und da wollte ich mich eigentlich nur erkundigen, was so drin ist. Und wie das alles läuft.«
»Ich sage mal, es geht so: Du gibst mir fünftausend, und eine Woche später bekommst du zehn zurück. Oder nichts. Die Chancen dafür sind jedoch sehr gering.«
»Wie gering genau, wenn ich fragen darf?«
»Geringer als beim Roulette, würde ich sagen.«
»Also 60:40? Oder eher 80:20?«
»Sie sind gering.«
»Und wenn ich nur tausend Euro habe?«
»Dann kannst du wieder gehen.«
Das ist schlecht. Ich habe noch rund siebenhundert Euro auf dem Konto, die nächste Messe beginnt erst Donnerstag, vier Tage, da kommen auch nur zwei-fünf rein, und zwar auch erst in zwei Wochen. Hätte ich nicht meinen Dispo, wäre ich mehr oder weniger blank. Andererseits ist mir das hier eh nicht geheuer.
»Ja, nee. Dann geh ich besser«, sage ich.
»So wenig Geld?«
Ich nicke.
»Du kannst es dir auch verdienen.«
Für Hondo musste ich fünf Wochen lang Badeassistent sein und Anabolika an Bodybuilder verticken. Bülent hier macht den Eindruck, als würde er einen Auftragskiller suchen. Dass er damit bei mir an der falschen Adresse gelandet ist, muss ihm bei meinem Anblick eigentlich klar sein. Zu meiner Erleichterung fragt er als Nächstes, ob ich mich mit Buchhaltung auskenne, was ich verneinen muss. Ich erkläre kurz, was ich beruflich mache, und zu meinem Erstaunen scheint Bülent das auszureichen.
»Wenn du so tun kannst, als wärst du ein Vertreter von einer Firma, kannst du auch so tun, als wärest du Buchhalter.«
»Und warum soll ich das machen?«
»Es gibt da den unschönen Verdacht, dass bei uns, ich sag mal, Geld gewaschen wird. In der ganzen Branche. Deswegen haben wir immer wieder Buchprüfungen. Und ich brauch einen Deutschen, der sich dann als Buchhalter ausgibt. Das schafft mehr Vertrauen.«
»Wann?«
»Diese Woche.«
»Und dafür bekomme ich fünftausend Euro?«
»Wenn alles gut geht, ja.«
»Und das setzen Sie dann ein, damit es zehn werden?«
»Richtig. Mit einer sehr, sehr hohen Wahrscheinlichkeit werden es zehn.«
»Worauf würde ich denn wetten?«
»Auf Sieg.«
»Von …?«
»Vertraust du mir nicht?« Bülents Stimme gewinnt bei diesem Satz einen bedrohlichen Unterton.
Mit meiner tollen Phrase »Ich bitte Sie – sie ist eine sehr bemerkenswerte Erscheinung, aber ich habe nur Augen für meine Frau« kann ich mich nicht aus dieser Situation winden, und überlege schnell, welche Worte nun zu wählen sind.
»Unsinn. Sie trauen mir ja auch zu, einen glaubwürdigen Buchhalter abgeben zu können.«
»Korrekt. Aber ich sag mal, dass es mir nicht so wie dir gehen würde, wenn ich Scheiße baue.«
»Wir packen das schon«, zwinkere ich in Bülents kalte, regungslose Visage, mit der er einen glaubwürdigen Wettpaten abgibt. Ich schreibe ihm meine Handynummer auf, er erklärt mir, dass ich von nun an vierundzwanzig Stunden auf Stand-by bin, und ich lache, da es mir neu wäre, dass man rund um die Uhr damit rechnen muss, einen Beamten vor der Tür zu haben, der die Bücher einsehen will. Bülent lacht nicht mit, sondern kneift nur die Lippen zusammen. Dann raunt er mir zu, dass er nicht versteht, warum ich lache, und dass mir das bald vergehen könnte. Bisschen dick aufgetragen, aber, hey, er ist der Bülander. Es kann nur einen geben.
Im Seldmayr (oder sagt man »im Beim Sedlmayr«?) sitzt mein Vater gerade bei seiner ersten Halben. Wir sind hier früher oft hergekommen, weil er darauf besteht, dass es hier das beste Tellerfleisch überhaupt gibt. Nicht umsonst hat Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann einen eigens für ihn dauerreservierten Tisch im Lokal, gleich neben der Küche. Ich persönlich bevorzuge eigentlich Böfflamott und Sauerfleisch, doch ich traue mich nicht, das in Anwesenheit meines Vaters zu bestellen. Er würde mich garantiert sofort eines Besseren zu belehren versuchen und spätestens beim Probieren, von einem gustofazialen Reflex begleitet, feststellen, dass ich einen Fehler begangen habe, schade um das schöne Geld. Ich wäre verpflichtet, sein Tellerfleisch zu kosten und ihm Recht zu geben, dummer Bub, der ich bin.
So bekommen wir unsere mit Brühe gefüllten Holzschalen, in denen das zarte Rinderschwanzstück unter einer Haube frisch geriebenem Meerrettich schwimmt, und schaufeln stoisch schweigend das Essen in uns hinein. Immerhin haben wir uns beim Warten schon etwas unterhalten, was ihm spürbar unangenehmer war als mir.
»Es ist jetzt ja nicht so«, erklärt er, »dass ich deine Mutter im Stich lassen würde. Ich werde auch in Zukunft immer da sein für sie, ganz egal, wie sich die Dinge entwickeln.«
»Aha. Und was für Dinge entwickeln sich bei dir?«
»Nichts Ernstes.«
»Dafür wirkt’s aber recht ernst.«
Mein Vater hat die Augen verdreht, sein Bier genommen und trinkend in die Ferne geblickt, gerade so, als säße ein Fremder und nicht ich bei ihm am Tisch. Trotzdem bin ich mit der Unterhaltung bisher ganz zufrieden: Er hat mich weder beleidigt, noch mich auf meine Probleme angesprochen.
Mit dem letzten Löffel Brühe schaut mein Vater endlich wieder auf. Er schnauft aus und schlägt vor, noch den Apfelschmarren zu bestellen, aber nur eine kleine Portion, die große packen wir doch eh nie. Und ein Schnapserl. Mir soll’s recht sein, wenn es ihm endlich die Zunge lockert.
»Schau, Junge, es ist halt so: Ich hab jemanden kennengelernt. Eine etwas jüngere Frau, sehr interessant, vor allem aber interessiert. Und ich glaub, dass ich das seit Jahren vermisse – das Interesse deiner Mutter an der Welt. Sie benimmt sich grad so, als sei eh alles ein Schmarrn.«
»Da hat sie ja auch größtenteils nicht unrecht.«
»Ich hab immer versucht, dass du dich mal für irgendwas begeisterst. Hättest auf mich gehört und früh mit den Computern angefangen, wärst du jetzt ein gemachter Mann.«
»Mir geht’s gut.«
»So schaust aber nicht aus.«
Ich brauche bereits eine Verschnaufpause. So lange habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr mit ihm geredet. Höchstens über Dinge, die er als beredenswert empfindet, sprich, Sport oder Politik. Wobei ich da meistens nur Zuhörer bin, maximal Stichwortgeber (mit Falschbehauptungen, die er dann korrigiert), was mein Desinteresse an diesen Dingen erklären könnte.
»Die Sache ist jetzt die: Am Wochenende ist wieder irgendeine dämliche Messe, weißt du eh, und da explodieren jetzt schon die Zimmerpreise. Mei, und als pensionierter Lehrer muss ich schon wirtschaften.«
»Du kannst immer gerne bei mir übernachten.«
Der Vorschlag muss von mir kommen, wenn ich verhindern möchte, dass er noch länger um den heißen Brei herumredet. Oberstudienrat Fischer ist es nicht gewohnt, andere um etwas zu bitten, er wird gebeten, in diesem Fall darum, bei mir zu schlafen.
»Das wäre wirklich sehr nett.«
»Und auch kein Thema. Allerdings hab ich ebenfalls ein Problem: Jessi hat mich vor die Tür gesetzt, damit ich mal … Nein, das erzähl ich dir jetzt nicht. Auf jeden Fall gibt es gerade kein ›bei mir‹.«
In mir kauert sich vorauseilend alles zusammen. Mein Vater wird das nicht unkommentiert lassen. Ich kann sehen, wie er sich windet, wie seine innere Stimme ihm befiehlt, mich zu belehren. Den verlorenen Sohn, der immer alles kaputt macht. Doch diesmal überrascht er mich, auch wenn es ihm sichtlich schwerfällt.
»Das tut mir leid. Und wo schläfst jetzt du?«
»Bei einem Bekannten. In einem Aufblaskanu.«
Was nun geschieht, ist für mich fast unbegreiflich. Mein Vater lacht. Und zwar richtig. Es beginnt langsam und stotternd, wie ein Rasenmäher im Frühling, doch dann steigert es sich, nimmt Fahrt auf und will gar nicht mehr aufhören. Dabei klingt sein Lachen so erleichtert, dass er mich damit ansteckt. Gott allein weiß, wann es so eine Szene zwischen ihm und mir das letzte Mal gegeben hat; er sollte sie sich gut einprägen, denn ich bezweifle, dass wir zwei einen derartigen Moment so schnell wieder teilen werden.
»Wir sind schon Spezialisten, oder?«, prustet mein Vater mir entgegen.
»Irgendwo muss ich es ja herhaben«, antworte ich.
Er nickt, lacht noch lauter, und da bricht mit einem Mal die Blockade zwischen uns. Ich fühle mich schlagartig befreit, empfinde plötzlich keine drückende Last in seiner Gegenwart mehr. Natürlich kann das auch am Bier und dem Willi liegen, den er bereits nachgeordert hat, aber das ist mir egal, denn insgeheim habe ich mich schon ewig nach einem unbeschwerten Abend mit ihm gesehnt. Genau gesagt, seit dem Weihnachtsabend, als ich ein Kettcar geschenkt bekommen habe, an dem er noch in der Weihnachtsnacht ein Seil befestigt hat, um mich durch die Straßen zu ziehen, bis zu einem Hotel, in dem wir eine heiße Tasse Kakao bekamen. Ich glaube nicht, dass wir uns groß unterhalten haben, ich war damals schließlich erst fünf Jahre alt, aber der Moment hat sich in meine Erinnerung eingebrannt, ganz wie der jetzige. Im Moment ist er einfach mein Vater, nicht mein Erzieher und Lehrer. Ich hoffe still, dass er diese Auffassung teilt und wir auf dieser Basis bis ans Ende unserer gemeinsamen Zeit weitermachen können.
Wir trinken, und ich öffne mich auch, berichte von meiner ganzen Scheiße und Planlosigkeit. Sogar den Jerry, meine Radiokarriere, den Bülander und mein neues Engagement als Buchhalterdarsteller diskutieren wir. Papa sieht das als hirnrissige Aktion, rät mir aber weder ab, noch meint er sonst etwas dazu. Er ist den ganzen Abend über vollkommen meinungsbefreit, wertet nicht und lässt mich einfach mal ich sein. So sehr, dass mir beim Zuhören klar wird, was ich gerade wieder für einen Haufen Scheiße gebaut habe. Hätte mir jemand gesagt, dass ein Abend mit meinem Alten für mich eine therapeutische Wirkung haben könnte, ich hätte ihn bespuckt und ausgebuht.
Wann ich beschlossen habe, meinen Vater mit zu Hondo zu nehmen, kann ich nicht mehr genau sagen. Es muss irgendwann zwischen seinem schwärmerischen Bericht über Linda und meinem Seriositätsbekenntnis passiert sein, in dem ich ihm versichert habe, dass ich in einem Jahr über meine heutige Lage lachen werde, so wie wir den ganzen Abend immer wieder gelacht haben. Und Schnaps bestellt.
Um kurz nach elf verrät uns die resolute Bedienung dann schließlich, dass sie die Stühle um uns herum nicht grundlos auf die Tische gestellt hat, und fegt unsere blöden Kommentare mit einer saftigen Rechnung vom Tisch. Erstmals in unserer gemeinsamen Geschichte legen wir zusammen und wanken dann weiter, ab ins Baumhaus, die Bar, in der ich mit Sven vor wenigen Tagen war.
Auf der kurzen Strecke muss mein Vater zweimal pinkeln, erst beim Inder ums Eck, dann beim Italiener neben der ehemaligen Wunderbar, und ich halte die zweite kurze Pause für den richtigen Zeitpunkt, Jessi endlich mal wieder zu erklären, wie sehr ich sie liebe. Per SMS, denn da nuschelt man nicht, sondern kann sich sehr viel Zeit lassen, um die verdammten Buchstaben in die richtige Reihenfolge zu bringen. Die fertige Nachricht lautete: »Ich liebe dich, ich bin ohne dich nichts, nicht mal der Trottel, der ich bin.«
Ein toller Satz, für den ich mir im Rausch selbst applaudieren will, doch ich halte meine spontane Freude darüber zurück, da mir volltrunken durchaus schon unsäglich dumme Sätze aus dem Telefon gerutscht sind. Vielleicht stellt sich morgen nüchtern heraus, dass ich mir den Satz in der Form nur eingebildet habe, tatsächlich aber etwas wie »Ich libe dich2sheissekomm zurück zu mirasd ich will nahause« abgeschickt habe. Zumindest will ich noch Jessis Antwort abwarten. Die nicht kommt.
Dafür kommen diverse weitere Getränke, es ist uns egal, alle Hemmungen sind buchstäblich fortgespült. Mein Vater nimmt mich sogar in den Arm, um mir zu sagen, dass er sich so eine Nacht schon lange mal gewünscht hat, was mich zutiefst rührt. Zu diesem Zeitpunkt kann ich ja nicht ahnen, dass wir noch ins P1 zu kommen versuchen werden, weil er dort schon seit Ewigkeiten mal hinwill. Meine Warnung bezüglich unseres Zustands und des Eindrucks, den wir beim Türsteher machen werden, ist ihm wurscht. Weniger dann die Überraschung, dass ihm einer seiner ehemaligen Schüler den Zutritt in den Club verwehrt.
»Herr Fischer«, meint der Pfortenschrank trocken. »Ich kann sie leider nicht reinlassen. Kleidung sechs, Auftreten sechs, Alter sechsundsechzig.«
Damit ist die Tür wieder zu und mein Vater schwer gekränkt. Er gibt zwar umgehend zu, dass er den Idioten hat durchfallen lassen, erklärt jedoch, dass das nicht aus Antipathie geschehen ist, sondern weil der Kerl einfach saumäßig faul und dumm war. Ich gönne dem Türsteher im Stillen die späte Retourkutsche.
Statt ins P1 wanken wir also aus dem Taxi auf die Tür von Aylins Haus zu. Mein Vater besteht weiterhin darauf, nicht in sein Hotel zurückzukehren, will nur um neun Uhr geweckt werden, um rechtzeitig zum Auschecken hinfahren zu können.
Die Treppen in die dritte Etage stellen schon mal keine große Herausforderung dar. Knifflig wird erst der Versuch, das altertümliche Schloss zu öffnen – bis mir einfällt, dass das, was ich die ganze Zeit für einen verrutschten Türspion gehalten habe, ein zweites Schloss ist, das es ebenfalls aufzusperren gilt. Nach drei Versuchen in beide Richtungen (und eine im Nachhinein nicht erklärbare Bonusrichtung) ist der Sicherheitsriegel gelöst und das Kanu nicht mehr weit.
Mein Vater und ich kichern uns durch den Flur in mein Zimmer, und ich überlege kurz, ob ich direkt zu Hondo gehen sollte, um ihn über den neuen Mitbewohner in Kenntnis zu setzen, entscheide mich aber dafür, lieber zu warten, bis wir nüchtern sind. Dann setzen wir uns gemeinsam in das blöde Gummiboot, blödeln noch ein paar Minuten darin herum, bis wir endlich unabhängig voneinander in uns zusammensacken und einschlafen. Manchmal dauert es eben achtunddreißig Jahre, um einen Menschen kennenzulernen. Selbst, wenn es der eigene Vater ist.