Jobmesse

»Die job40plus legt ihren Fokus gezielt auf erfahrene, qualifizierte Arbeitnehmer. Dabei ist die ›40‹ allerdings nicht in Stein gemeißelt.«

Es ist sechs Uhr in der Früh, als ein Rumpeln auf dem Gang meine erfolglosen Einschlafversuche beendet. Die letzten drei Stunden habe ich mich in dem aufblasbaren Kajak gewälzt, das Hondo für mich in seine Bibliothek geschleppt hat und das mir als Bett dienen soll. Allein die Tatsache, dass sich Hondo eine Bibliothek einrichtet, hat mich mindestens eine Stunde lang beschäftigt, eine weitere ging drauf, als ich mir die Bücher durchgesehen habe, die in den Regalen stehen. Zum einen hat er eine ganz ordentliche Auswahl an Literatur von und über seine angestrebte neue Konfessionsgruppe, dazu aber erschreckend viele Seichtromane, sprich, pilchereske Liebesgeschichten. Der dritte und weitaus größte Teil des Lesestoffs besteht aus esoterischem Totalquatsch.

Ich habe mir schließlich »Jüdische Welt verstehen: Sechshundert Fragen und Antworten« von Rabbi Alfred Kolatch geschnappt und mich in mein Kanu gelegt. Es ist überraschend bequem und verliert im Gegensatz zu einer herkömmlichen Schlafluftmatratze auch keine Luft. Hondo will sich darin mit Aylin im Sommer von Bad Tölz bis nach München die Isar entlangtreiben lassen und hat mich vorsorglich gewarnt, dass ich in diesem Fluss treiben werde, falls das Teil kaputtgeht. Entsprechend behutsam bin ich in meine Amphibienschlafstätte gestiegen. Natürlich auch deshalb, weil ich nicht sicher war, wie stabil so ein Kajak im Raum steht.

Ich habe mich durch die ersten Fragen des Rabbiners gelesen, war aber unzufrieden mit der Antwort auf die Frage, warum jeder Sohn einer jüdischen Frau am achten Tag beschnitten werden muss (weil’s sich so gehört), und habe dann doch lieber durch das große Fenster in die wolkenfreie, kalte Nacht gestarrt.

Nur wenige Minuten vergehen, bis ich mich nicht mehr gegen den Gedanken wehren kann, dass mich Jessi vor die Tür gesetzt hat und nicht einfach alles gut werden wird. Um genau zu sein, habe ich mich selbst vor die Tür gesetzt, in meiner blinden Verzweiflung. Aber wie sollte ich bitte ahnen, dass sie einfach nur ein paar Tage für sich gebraucht hat? Okay, sie hatte das gesagt, aber ich bin aus meinen früheren Beziehungen nicht gewohnt, zu hören, was tatsächlich Sache ist. In den dreiundzwanzig Jahren meines intensiveren Austauschs mit dem anderen Geschlecht habe ich nämlich gelernt, dass es einen Code gibt, und akzeptiert, dass man ihn als Mann nicht verstehen kann. Wir sind immer diejenigen, die verlieren und als Idioten dastehen, egal, wie sehr wir uns bemühen. Komiker wie Mario Bartsch (oder so) machen sich das zunutze, verdienen Millionen, indem sie die abgedroschensten Halbwahrheiten in die altbackensten Klischees des Mann-Frau-Dilemmas verwitzeln (Kennste? Kennste?). Das sorgt zwar für gefüllte Stadien und gigantisches Massenbeömmeln, bringt aber niemanden weiter. Würden die Clowns nur mal einen einzigen Satz bringen, eine Formel, einen Ansatz, wie dem niemals enden wollenden Missverstehen nachhaltig entgegengewirkt werden könnte, ich stünde in der ersten Reihe.

Tatsache ist nun aber, dass ich gerade planlos ungefähr zwei Kilometer von meiner Verlobten entfernt in einem Gummiboot liege und noch immer nicht begreife, was in den vergangenen Tagen geschehen ist. Ich habe mit meiner lächerlich primitiven männlichen Logik dafür gesorgt, dass meine noch nicht geschlossene Ehe bereits extrem gefährdet ist. Und damit meine Vaterschaft. Auf der anderen Seite habe ich durch meine radikale Ehrlichkeit Jessi gegenüber nur beweisen wollen, dass ich sie liebe. Nackter als ohne all die schützenden Lügen um sein Ich kann man doch nicht sein. Erst so zeigt sich der Pimmel, der man eigentlich ist.

Ich habe ihr mein wahrscheinlich übertrieben schlechtes Selbstbild präsentiert und ihrem Bild von mir damit eine höchst unattraktive Schattierung verpasst. Schließlich muss sie mich anders gesehen haben als ich, sonst wäre ihre Liebe zu mir gar nicht möglich gewesen. Womit ich schon bei einem weiteren Problem bin: Ich muss jemanden finden, der mir wirklich helfen kann, der mich kennt und nicht mit so unvorstellbar dämlichen Sprüchen wie »Du musst dich selbst lieben, um geliebt zu werden« ankommt. Ich habe mich immerhin mein ganzes Leben lang nicht sonderlich gemocht und wurde dennoch geliebt. Glaube ich.

Gegen halb drei in der Früh kann ich Jessis Reaktion endlich nachvollziehen. Sie ist keineswegs irrational und kann deswegen auch nicht mit den kleinen Aussetzern in einen Topf geschmissen werden, die Jessi in den vergangenen Monaten hatte. Plötzliche Heulkrämpfe, Schlaflosigkeit, unfassbarer Hunger auf geräucherte Saiblinge – die typischen Symptome der hormonellen Umstellungen während einer Schwangerschaft. Nein, ich Depp habe eine weitaus bedeutendere Beziehungsmisere ausgelöst als diese lächerlichen Hormone. Jessi stellt immerhin unsere gemeinsame Zukunft infrage. So verstehe ich das zumindest.

Dass ich kein guter Fang in Sachen Einkommen und Sicherheit bin, sollte ihr dennoch von Anfang an klar gewesen sein. Und das mit der Hochzeit war ihre Idee. Ich wäre überhaupt nicht darauf gekommen, einen solch großen Schritt vorzuschlagen. Es war schon überraschend genug für mich, dass sie sich überhaupt mit mir eingelassen hat. Mit ihrem nicht nachvollziehbaren Vertrauen darauf, dass ich eine kleine Familie ernähren könnte, ist es nun allerdings vorbei. Und wenn ich das irgendwie wiederherstellen möchte, muss ich jetzt wirklich was machen. Totstellen ist keine Lösung. Leider.

Andere würden sich an meiner Stelle aufraffen und alles in Bewegung setzen, um der Frau, die sie lieben, das Gegenteil zu beweisen. Umsetzen, was ich so großmäulig angekündigt habe. Ich hingegen fühle durch jeden von außen kommenden Zweifel an mir und meinen Möglichkeiten nur mein miserables Selbstbild bestätigt. Dass Jessi gerade nicht an mich glaubt, wird schon allein dadurch belegt, dass sie gar nicht erst versucht hat, mich zu beruhigen, umzustimmen, aufzubauen. Nein, stattdessen habe ich sie mit meiner großartigen Rede dazu getrieben, mich aufzugeben. Oder sich mit dem Gedanken anzufreunden, mich aufgeben zu müssen.

Wogegen ich nun kämpfen muss, ist meine Selbstlähmung. Allein der Gedanke daran, dass ich Jessi verlieren könnte, ist so verheerend, dass ich vierundzwanzig Stunden am Tag damit beschäftigt sein werde, ihn zu verdrängen. Ich muss die Visionen von meinem Dasein als Alleinlebender und -sterbender in all seinen deprimierenden, beängstigenden Facetten ausblenden und mich darauf konzentrieren, meinen Arsch in Bewegung zu setzen, um irgendwas zu finden, das mir genug Sicherheit gibt, um meinen fehlenden Glauben an mich auf ein erträgliches, leicht verdrängbares Maß zu reduzieren. Etwas, das ich die nächsten zwanzig Jahre machen und ertragen kann, und von dem ich erhobenen Hauptes vor ihr behaupten kann, es gerne zu machen. Alles andere würde Jessi mir nicht durchgehen lassen. Ich habe keine Ahnung, was das sein soll, und bezweifle, dass es das überhaupt gibt. Wie könnte ein derart kurzsichtiger Plan die Lösung sein? Der Weg ist steinig, und er führt bergab.

Zum Glück hat es nun im Flur gerumpelt, und ich stehe auf, um zu gucken, was los ist. Kaum habe ich die Tür zu meinem Zimmer geöffnet, sehe ich Sven, beladen mit zwei Fahrradtaschen und einem Rucksack. Wenigstens trägt er noch keine Radlerhose, diesem Anblick wäre ich in meinem vor Schlafmangel leicht delirösen Zustand nicht gewachsen. Ich trete vor, um meinen ehemaligen WG-Mitbewohner in unserer neuen Kurzzeit-WG zu begrüßen.

»Morgen, alte Fischhaut.«

»Was machst denn du hier? Ich dachte, du bist bei deinen Eltern«, grüßt er zurück.

»Nee, das war mir nach einer halben Stunde mit meinem Vater zu anstrengend. Ich hab das auf vierundzwanzig Stunden hochgerechnet und eingesehen, dass ich in der Zeit wahnsinnig würde. Komplett.«

Nachdem ich Sven erklärt habe, wie ich in Hondos Kajak gelandet bin, erzählt er mir von seiner kleinen Odyssee. Er wollte eigentlich heute losradeln, ab gen Osten, über Passau, Wien, Budapest bis zum Schwarzen Meer. Die ideale Startroute für einen Weltumradler, meint er, da es neben Flüssen immer leicht bergab geht. Was Unsinn ist, denn die Landmasse neben Flussläufen kann durchaus bergig und äußerst unwegsam sein. Svens Problem ist jedoch, dass er sich schuldig fühlt. Immerhin kam der Scheißtipp mit dem Ehrlichsein ja von ihm. Jetzt fühlt er sich für meine Misere verantwortlich und will mir helfen, alles wieder geradezubiegen.

»Ganz egal, wie man es dreht und wendet«, erklärt er, »ich bin eine Art Schutzengel von dir.«

»Das ist die verkehrtestmögliche Analyse unserer Beziehung zueinander.«

»Warum? Schau dir doch mal die Verkettung an. Wie alles, was ich getan habe, sich bis zum heutigen Tag zu deinem Glück zusammenfügt. Ohne mich hättest du weder Jessi kennengelernt, noch wäre sie schwanger.«

»Gut, aber ich halte es für einen Fehler, dass du meinetwegen deine Weltreise vertagst.«

»Nein. Ein Fehler wäre es, einen Freund im Stich zu lassen. Meinen besten dazu.«

Ich bin so gerührt, dass ich um ein Haar nicht mitbekommen hätte, dass er außerdem noch niemanden gefunden hat, der sich in seiner Abwesenheit um seine beiden Frettchen Idi Amin und Eva Braun kümmert. Das Weibchen ist zudem mal wieder schwer überfällig, sieht aus, als würde sie bald platzen und einen rekordverdächtigen Wurf in die Welt setzen – und das Geld für den Verkauf des Wurfs benötigt Sven allerdings noch dringend für seine Tour. Seine Selbstvorwürfe in Bezug auf mich scheinen sich also in Grenzen zu halten, und was den Wert unserer Freundschaft angeht, bin ich auch wieder ernüchtert.

»Das ganze Züchten lohnt sich kaum noch. Die beschissene Wirtschaftskrise hat die Frettchenpreise in die Knie gezwungen. Inzwischen kriege ich nur noch hundert bis hundertfünfzig Euro pro Vieh.«

»Mach ’ne Demo«, schlage ich vor, »oder sattle um auf Nerze.«

»Vergiss es. Die brauchen ein Gehege von der Größe dieser Wohnung hier. Wobei man zusätzlich auch noch in einen Raum ein Schwimmbecken einbauen müsste. Und da macht Hondos Vermieter nicht mit.«

Was ich lediglich als witzige Bemerkung gedacht hatte, war also schon ein neues Geschäftsmodell in Svens Hirn. Wenigstens kommt er nicht auf die Idee, mich als Frettchensitter in Betracht zu ziehen. Immerhin habe ich mit Idi Amin noch eine Rechnung offen, selbst wenn ich mir immer wieder einzureden versuche, ihm meine unfreiwillige Sterilisation verziehen zu haben. Eigentlich erstaunlich, dass ich es diesbezüglich nicht schaffe, mir was vorzumachen. Tatsächlich habe ich immer wieder Albträume, in denen mich das dämliche Frett wieder erwischt. Erst letzte Woche flog ich im Traum gerade in einer Münchner Straßenbahn nach London. Kapitän Frank Durham erklärte gerade Route, Flughöhe und wo man umsteigen muss, wenn man zum Trafalgar Square möchte, als plötzlich Idi Amin unter dem Sitz vor mir auftauchte und in mein Hosenbein kroch. Noch bevor er zubeißen konnte, zwang ich mich aus dem Schlaf und lag dann stundenlang wach aus Angst, wieder in der Tram zu landen. Ich wusste, dass der kleine pelzige Kastrator nur darauf wartete, sich wieder heimtückisch an mich heranzupirschen. Immerhin war es ihm im Traum schon zigmal gelungen.

Ich helfe Sven, seine Sachen in sein Zimmer zu schleppen, und setze mich dann zu ihm auf seine Ausziehcouch. Ihm fällt sofort auf, dass ich beschissen aussehe, und er kann das sogar ohne meine Hilfe mit Jessi in Verbindung bringen. Die Frage, was er wohl an meiner Stelle täte, hätte ich jedoch nicht aufwerfen sollen, denn Svens Antwort ist mir dann doch etwas zu ehrlich.

»Keine Ahnung, ich würde das schon irgendwie packen. Aber für dich ist das echt ’ne üble Situation, wenn’s dir vor allem um Sicherheit in deinem Sinn geht, also um finanzielle Sicherheit.«

»Sicher, Schlaubi! Mir geht’s nur ums Geld.«

»Worum denn sonst?«

»Um alles. Und, ja, nicht jeden Tag an den Kontostand denken zu müssen, ist ein Teil davon.«

»Eben. Und ich stelle lediglich fest, dass das für dich schwierig wird. Zum einen, weil du echt ein Problem hast, dich für irgendwas zu begeistern oder zu interessieren. Zum anderen, weil du nichts kannst.«

»Danke.«

»Ja, komm. Das bisschen Gequatsche auf Messen, also, das kriegt doch wohl jeder hin.«

»Super, Sven. Das hilft mir wirklich sehr.«

»Mein Gott! Irgendwer muss dir doch mal sagen, was Sache ist. Du nimmst dir ja nicht mal was vor, sondern findest einfach alles auf Anhieb doof.«

Mein Widerspruch hält sich in Grenzen. Es ist schließlich auch fast alles unsinnig, dämlich oder reine Zeitverschwendung. Für etwas Sinnvolles wie ein Studium ist der Zug vor zehn Jahren abgefahren, der für eine Ausbildung noch früher. Ich muss mit dem zurechtkommen, was ich mir so angeeignet habe, denn andere Talente fehlen mir.

»Es gibt auch Jobs, für die man keine Ausbildung braucht. Immobilienmakler, zum Beispiel«, versucht Sven mich zu trösten.

»Oder Bettler.«

»Tut mir leid, dass ich dir nicht die Lösung für all deine Probleme auf einem Silbertablett servieren kann.«

»Aber Makler sind einfach das letzte Gesocks. Zumindest hier in Deutschland.«

Und damit untertreibe ich noch. Klar, es mag auch gute Immobilienmakler geben, solche, die sich bemühen, die Service bieten, die demjenigen, der sie bezahlt, auch ein Ergebnis liefern. Der Großteil besteht aber meiner Erfahrung nach aus unangenehmen Typen, die einem sofort zu verstehen geben, dass man ihnen in den Arsch kriechen muss, wenn man eine neue Wohnung bekommen will. Wer Fragen stellt oder gar erwartet, eine Immobilie alleine und in Ruhe besichtigen zu können, wird gleich aussortiert.

»Oder du gehst in die Politik«, schlägt Sven als Letztes vor, und ich muss lachen, da ich diesen Plan auch schon hatte. Irgendwo hatte ich gelesen, dass es achtzig Stadträte gibt, die jeweils um die zweitausend Euro bekommen. Einer von denen zu werden, kann doch nicht so schwer sein. Also bin ich vor knapp acht Wochen mit einer Gast-Mitgliedschaft in die SPD eingetreten und erhalte seitdem immer wieder E-Mails von einer gewissen Beate, der Lokalheldin der Partei, in der sie mich als Genossen grüßt und mir verrät, wo man sich in den kommenden Tagen trifft. Meistens in der Deutschen Eiche, dem angeblich ältesten Treffpunkt der schwul-lesbischen Szene, wie die Homepage verrät. Leider habe ich mich bislang nicht aufraffen können, einem dieser Abende beizuwohnen, obwohl es zwischen Schwulen, Lesben und Genossen sicher sehr fröhlich zugeht. Ich habe jedoch Angst, dort was Dummes zu sagen, sofort als der Politiknovize enttarnt zu werden und meine Stadtratskarriere zu beenden, bevor sie überhaupt auch nur ansatzweise hätte beginnen können. Wobei ich mich dann noch immer als schwul outen, mein Vorbeischauen als kleinen Scherz verkaufen und so halbwegs mein Gesicht wahren könnte. Auf jeden Fall ein guter Plan G oder H. Plan A ist noch immer mein Bewerbungsgespräch bei Hip FM, das morgen endlich stattfinden wird. B bis F stehen noch nicht fest.

»Um aber noch mal ganz grundsätzlich zu verstehen, was jetzt Jessis Problem ist«, setzt Sven an, nachdem er mir zu dem Vorstellungstermin gratuliert und offenbar keine Lust mehr auf mein Jobgejammer hat. »Was genau hast du ihr denn erzählt?«

»Na ja, dass ich eben mein beziehungsweise unser Leben nicht auf die Reihe bekomme«, antworte ich.

»Das ist wirklich eine neue Kategorie von dämlich. Du hast ihr hoffentlich gleich danach gesagt, dass du schon einen Plan hast, wie du das alles geregelt kriegst.«

»Nicht direkt«, gebe ich kleinlaut zu. »Eher das Gegenteil.«

»Wow«, wowt Sven und starrt mich entrückt an. Womöglich hat er in mir eine neue, überirdische Beklopptheit entdeckt, eine Lichtgestalt der Idiotie, und hat seinen Körper verlassen, um mir zu huldigen. Da dieser Zustand einen Tick zu lange anhält, hole ich ihn zurück in die irdischen Sphären.

»Danach habe ich dann schon noch gesagt, dass ich das irgendwie hinbiege.«

»Aber da war es bereits zu spät. Und du bist sicher, dass du da jetzt dein Leben runderneuern musst? Könnte es nicht auch sein, dass sie schon zufrieden wäre, wenn du einfach mal versuchst, nur ein bisschen was zu ändern?«

»Wie was zum Beispiel?«

»Na, ein Hobby oder so.«

»Vielen Dank, aber das Thema Hobbys ist für mich seit deiner Idee, Frettchen zu züchten, gegessen.«

»Ich mein ja nur. Geh joggen, Fahrrad fahren oder spiel Tischtennis. Keine Ahnung. Irgendwas, das du durchziehen kannst.«

»Nee, Sven, diesmal reicht es nicht, wenn ich Jessi erzähle, dass ich Jonglieren gelernt habe und am Ball bleibe«, beende ich diesen unsäglichen Hobbyexkurs und schlage vor, lieber in die Schmalznudel zu fahren und Aus’zogene zu essen. Die gibt es dort nämlich schon ab sieben Uhr morgens.

Früher war das anders, da wurde jeden Tag die Holztür des kleinen Café Frischhut am Viktualienmarkt um fünf geöffnet, und man konnte nach jeder durchzechten Nacht neben Barkeepern, Türstehern und den Betreibern der Marktstände sitzen, um die letzten Momente des Rauschs mit einem Striezl und einem äußerst großen Haferl Milchkaffee zu genießen. Aber die Frühschicht lohnt sich nicht mehr, München klappt seine Gehsteige nun auch lieber noch später aus. Nur am Samstag um fünf, da weht noch der Wind des vergangenen Jahrhunderts durch die Räumlichkeiten. Dann riecht es nach Alkohol und Schweiß, und diese Mischung verleiht einer glorreichen Nacht den verdienten derb-bayerischen Nachgeschmack.

Zum Glück feiern die jungen Menschen heute zum Ausgleich auch länger, und so nehmen wir an einem Tisch mit zwei Partyleichen Platz, Patti und Ingo. Beide sind so Anfang/Mitte zwanzig und ahnen bestimmt noch nicht, wie elend das Leben werden kann, wenn es auf die vierzig zugeht. Man muss sich vorstellen, dass ich hier schon Gast war, als sie gerade stubenrein wurden. Patti und Ingo haben sich gerade in der Milchbar kennen und lieben gelernt, was sie alle zehn Minuten durch – alkoholbedingt – etwas zu leidenschaftliches Küssen demonstrieren. Sie lecken sich förmlich die Mundhöhlen aus, was von Schmatzgeräuschen begleitet wird, wie ich sie nur aus amerikanischen Filmen und Serien kenne. Jessi und ich imitieren das Geräusch immer, wenn es im Fernsehen wieder mal zur Sache geht und wir keine Bereitschaft zum Sex verspüren. Es klingt wie das Kaugummikauen eines Zahnlosen.

Während ich versuche, dem Geschmatze möglichst wenig Aufmerksamkeit zu schenken, starrt Sven die beiden Frischverliebten ungeniert an. Ich kann das nicht, denn die Lebensphase »unbeschwerte Zwanziger« ist die einzige, um die ich andere wirklich beneide. Sowohl diejenigen, die mittendrin stecken, als auch die, die sie noch vor sich haben. Es ist definitiv die beste Zeit des Lebens.

Als ich so für mich darüber sinniere, wie unkompliziert das Liebesleben in diesem Alter ist, wie schnell man sich trennt und mit einem anderen Partner tröstet, und sei es nur für ein paar Stunden, kommt mir eine äußerst gute Idee. Wenn mir irgendwer wirklich weiterhelfen kann, meine Beziehungsdefizite aufzudecken, dann doch wohl meine Ex-Freundin Natascha Kehl. Ich habe mich vor ihr nie groß verstellt, war immer so, wie ich meines Erachtens heute noch bin; da muss sie mir doch sagen können, was ich an mir verändern sollte. Immerhin hat sie mit mir Schluss gemacht!

»Und wieso hat die dich damals verlassen?«, will Patti wissen, die kurz ihre Zunge aus Ingo geholt hat und mir zuhört, während sie an ihrem Kakao nippt.

»Das hat sie nicht genau gesagt«, antworte ich.

»Er ist halt ein Penner«, fügt Sven hinzu.

Mit einem kurzen »Ach, so« wendet sich Patti wieder Ingo zu und knutscht weiter. Da er nun beginnt, sich unter ihrem T-Shirt in Richtung Busen hochzufummeln, ist vorerst keine weitere Gesprächsbeteiligung von den beiden zu erwarten. Mich erschüttert es jedoch ein wenig, dass Svens Aussage über mich einem jungen Mädchen wie Patti offenbar vollkommen ausreicht. Ich bin ein Penner, mit mir macht man Schluss.

»Wie meinst du jetzt eigentlich Penner?«, hake ich bei Sven nach.

»Du bist halt seit Jahren in einer Art Winterschlaf und pennst dich so durch die Zeiten. Wann warst du das letzte Mal spontan in Italien?«

»Da war ich noch nie spontan.«

»Siehst du.«

»Aber das hat Jessi nicht an mir kritisiert.«

»Sie hat gar nichts an dir kritisiert. Das warst du selbst, und deine Unspontanität, wenn man das so sagen kann, steckt im Subtext.«

»Da war kein Subtext.«

»Gut, dann suchen wir jetzt diese Natascha und fragen sie mal, was an dir so unausstehlich ist.«

Vermutlich ist das doch keine so gute Idee.