Auswanderermesse

»Der Veranstalter der ›Expat‹ Essen rechnete 2011 mit rund 12 000 Besuchern. Wie viele danach das Land verlassen haben, ist nicht bekannt.«

Natascha sieht verdammt blendend aus, und das, obwohl der Tag uns bislang nur trübes Wetter beschert hat. Der Himmel ist grau, die Stimmung in der ganzen Stadt gedrückt, man hört kein Lachen auf den Straßen, und die Menschen treten stumm und schlecht gelaunt in die mit Hundekacke gefüllten Plastiktüten. Mir ist schleierhaft, wozu Hundebesitzer das Frischgestuhlte ihrer Tölen aufsammeln, wenn sie es danach frisch verpackt wieder auf den Gehweg werfen. Wollen sie sich nur kurz die Hand wärmen, oder glauben sie tatsächlich, der Menschheit damit einen Gefallen zu tun? Ich werde es nie erfahren, auch nicht von Natascha, die strahlt, als ich das Kranz in der Hans-Sachs-Straße betrete. Meinen Anruf hatte sie erst wegdrücken wollen. Weil sie sich aber nicht vorstellen konnte, warum in aller Welt ich mich bei ihr melden würde, hat sie dem Wegdrückimpuls widerstanden. Nachdem ich ihr dann berichtet habe, dass ich eine Beziehungskrise habe und ein paar Tipps von ihr brauche, kam der Vorschlag, sich persönlich zu treffen, von ihr. Zum Glück hat sich Sven verabschiedet, um die Frettchen zu füttern.

Natascha hat im Aufstehen ihr Handy weggelegt, öffnet ihre Arme und säuselt mir ein lang gezogenes »Ha-iiiii« entgegen. Ich lass mich zögerlich von ihr drücken, finde das Bussi zur Begrüßung irgendwie fehl am Platz. Das würde aber jeder, der von einer Frau umarmt und abgebusselt wird, die einen bei der letzten Begegnung mit den Worten »und lass uns bitte nicht Freunde bleiben« verabschiedet hat.

»Danke dir«, antworte ich, nachdem ich mich aus dem für meinen Geschmack etwas zu langen Drücken gelöst habe. Natascha blickt mich zufriedener an als der Dalai Lama, obwohl ich ihr schon am Telefon gesagt hatte, dass es mir kacke geht. Es kann natürlich sein, dass dies der Grund für ihre dick aufgetragene gute Laune ist. Da sie nichts sagt, muss ich das Gespräch eröffnen und versuche, das möglichst harmlos zu gestalten.

»So sieht man sich also wieder.«

»Ja. Gut schaust du aus.«

»Noch mal danke. Das kann ich aber auch zurückgeben.«

Da ich sie danach nur freundlich mustere, übernimmt Natascha endlich die Small-Talk-Führung. Ich bin nicht sonderlich gut darin, mich für andere zu interessieren. Die meisten deutschen Menschentypen habe ich schon getroffen, die wenigsten überraschen mich noch, oft sind sie nur die Abzüge anderer, mit minimalen Abweichungen, die man wohl Individualismus nennt. Mich selbst nehme ich da gar nicht aus. Denn sollte ich dann doch mal jemandem begegnen, von dem ich mehr erfahren will, komme ich mir so langweilig vor wie mir all die anderen. Eine Farce, vor der ich mich schütze, indem ich mich von neuen Bekanntschaften fernhalte und die alten mehr schlecht als recht pflege. An einem Geplänkel mit einer Frau, die mich derart kaltblütig abserviert hat, liegt mir entsprechend wenig, ich muss es jedoch ertragen, da ich ja den Kontakt gesucht hatte.

»Und wie läuft’s beruflich?«

»Och, wie immer. Hier ’ne Messe, da ’ne Messe, ich wurschtel mich eben so durch.«

»Nervt dich das nicht?«

»Klar. Aber, na ja, geht halt nicht anders. Und bei dir?«

»Ich hab gerade bei Stellbrink & Partner gekündigt und, tadaaa, werde in drei Monaten auswandern.«

Sie strahlt mich mit ihren frisch polierten weißen Zähnen an, erwartet vermutlich, dass ich jetzt interessiert nachfrage, wo’s denn hingeht. Ich tu ihr den Gefallen, um ihr zu signalisieren, dass ich ein guter Kerl bin, dem sie wirklich helfen sollte, und erfahre, dass sie mit ihrem neuen Freund in die USA zieht. Nach Cottonwood, Minnesota, wo auch immer das liegen mag. Schätzungsweise irgendwo in der Mitte des oberen Drittels der Staaten. Wobei das vollkommen egal ist, Amerika ist überall gleich, nur das Klima und die Vegetation variieren.

»Krasse Sache«, kommentiere ich ihr Vorhaben.

»Ja. Jeffs Familie wohnt dort. Sein Vater hat da eine kleine Firma, in der ich als Sekretärin einsteigen könnte. Für den Start. Cool oder?«

»Super«, pflichte ich bei. Ich hatte ganz vergessen, dass Natascha Sekretärin war, hatte sie immer als Anwaltsassistentin abgespeichert, aber das nimmt sich vermutlich nicht viel. Ich male mir auch gleich aus, wie es wäre, wenn mein Vater eine kleine Firma hätte, in der ich oder Jessi helfen könnte. Ein kleiner Betrieb, den ich irgendwann übernehmen könnte, und der mir ein sorgloses Leben in Sachen Einkommen bescheren würde. Warum muss ausgerechnet ich ein Lehrerkind sein? Doch dann reißt mich ein Schlag auf die Schulter aus meinen Gedanken. Hinter mir steht Jeff. Ich weiß sofort, dass es Jeff sein muss, weil alles an ihm amerikanisch ist. Der quadratische Schädel mit dem markanten Kinn und Kiefer, die hohen Wangenknochen, vor allem aber seine wirklich schlechte Frisur. Amerikaner haben so gut wie nie modisch geschnittene Haare. Die Männer sind immer irgendwie geschoren, die Damen haben es seit dreißig Jahren nicht geschafft, sich von der grässlichen Kombination »Lockenwickler und Pony« zu trennen. Zu seiner miesen Frisur trägt Jeff einen Minnesota-Sweater, viel zu sportliche Nikes, beige Dockers und ein dämliches Maverick-Lächeln. Den Kaugummi wird er auf der Toilette ins Urinal gespuckt haben.

»Hi«, begrüßt er mich und setzt sich mit einem Seufzer neben meine Ex.

»Servus«, erwidere ich, und er lacht zu laut, wie all seine Landsleute.

»Du bist also die Kerl, mit den Natascha fast geheiratet hat.«

»Äh, wie?«

»Na, komm, das wäre doch wohl der nächste Schritt nach der gemeinsamen Wohnung gewesen«, sagt Natascha.

»Ach, so. Vielleicht, ja.«

»Schön, dich zu treffen.«

»Danke.«

Großartig. Jeff mustert mich und lächelt die ganze Zeit weiter wie Tom Cruise, als würde er erwarten, dass ich nun auch was zu ihm sage. Gut, wenn er das wünscht.

»Und du verschleppst sie jetzt in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten?«

»Yes, Sir«, lacht Jeff, und ich bereue es, hier zu sein. »Meine Lady kann Arbeit haben mit meinem Vater, und ich bin bei die National Guard.«

»Soldat?«

»Nicht mehr. Jeff wird da jetzt mehr oder weniger im Büro arbeiten«, erklärt Natascha. »Rekrutieren.«

»Klingt toll.«

»Ja, ich war bei die Air Force, aber jetzt ist das vorbei.«

Ich schweige, um nicht zu lachen. Natascha hat sich einen U. S.-Army-Trottel angelacht, einen, der für die wirren Wahnvorstellungen seiner Regierung und die praktischen Ressourcen des Mittleren Ostens sein Leben geben würde. Oder gegeben hätte. Er ist die upgedatete Version der früher bei uns stationierten Soldaten in der McGraw-Kaserne. Das waren noch Männer, die leidenschaftlich Frauen schwängerten, sich dann in die Staaten absetzten, um dann, dreißig Jahre später, von einem SAT1- oder RTL-Kamerateam mit dem vergessenen Kind im Handgepäck wieder aufgespürt zu werden. Der neue US-Soldat macht das nicht mehr. Jetzt wird verschleppt und geheiratet. Und vermutlich in einigen Jahren geschieden und heimgeschickt, mir soll’s egal sein.

»Du hast Natascha gesagt, du brauchst eine Hilfe?«

»Ja, ihre«, erwidere ich etwas pampig.

»Und was verschafft mir die Ehre?«, fragt Natascha, die ganz offensichtlich Spaß daran hat, meine Reaktion auf ihren neuen Stecher mitzuerleben. Sie denkt vermutlich, dass ich mich gräme, eine wie sie verloren zu haben, ahnt nicht, dass in mir vierundzwanzig Stunden am Tag alles nach Jessi schreit. Ich will nur noch weg hier, weshalb es mir jetzt auch egal ist, ob Captain America zuhört oder nicht.

»Also, ich bin gerade dabei rauszufinden, was an mir irgendwie das Problem sein könnte. Sprich, was meine Verlobte –«

»Deine Verlobte?«

»Ja. Hatte ich das nicht erwähnt? Ich heirate auch. Also, ich will heiraten. Aber Jessi hat gerade ’ne kleine Krise, beziehungsweise wir.«

»Und wie kann ich dir da helfen?«

»Na ja, ich dachte, dass du mir vielleicht sagen kannst, was ich an mir ändern sollte. Warum hast du dich denn damals von mir getrennt?«

Damit werfe ich Natascha kurzzeitig voll aus der Bahn. Sie überlegt, wundert sich, grübelt und lacht auf, um die Peinlichkeit des Moments zu überspielen. Jeff schaut seine Verlobte skeptisch an. Doch dann erinnert sich Natascha endlich wieder.

»Ach ja, ich war damals doch für ein paar Tage in Berlin. Und da hast du mich angerufen und gemeint, dass ich dir fehle. Im gleichen Augenblick habe ich aber gemerkt, dass ich dich nicht vermisse. Also, gar nicht.«

»Weil ich langweilig bin«, hake ich nach, obwohl ich mich gerade sehr wundern muss. Dieser Trennungsgrund ist nämlich vollkommen irrational, eine Unverschämtheit sondergleichen. Ich kann mich nämlich sehr gut daran erinnern, dass sie eine saugute Zeit in Berlin hatte. Sie war in Clubs, hat Freunde getroffen, die sie lange Zeit nicht gesehen hatte, ist in Ausstellungen gegangen, shoppen, das ganze Programm eben. Sprich: Da war überhaupt keine Zeit, sich nach dem Freund in München zu sehnen. Einem unglücklichen, einsamen Eremiten, der ihretwegen mal wieder sämtliche anderen Kontakte zur Außenwelt gekappt hatte.

Ihr ist es damals aber so vorgekommen, als sei ihre Sehnsuchtslosigkeit ein Zeichen. Ihre Idealvorstellung einer Beziehung sieht nämlich so aus, dass man ohne den anderen nicht sein will. Dass es besser ist, sich sofort zu trennen, als weiter mit dem Gefühl zu leben, dass es einem nicht schwerfallen würde, auf den Partner zu verzichten.

»Das ist sehr viel wahr«, bestätigt Jeff, der Honk. »Oft weiß man, wie sehr es Liebe ist, erst, wenn man die andere vermisst.«

»Das setzt aber voraus, dass man überhaupt dazu in der Lage ist, sich so sehr auf einen Partner einzulassen«, setze ich dem entgegen und wundere mich laut, ob Natascha denn meine Vorgänger und Nachfolger mehr vermisst hat. Ihre Antwort ist ein sehr deutliches Ja, bei dem Jeff leise vor sich hin kichert. Ich werde hier vorgeführt, und das kann ich nicht akzeptieren.

»Dann hast du Jeff vermutlich auch tierisch vermisst, während wir hier in trauter Zweisamkeit gesessen haben?«

Statt mich und meinen gekränkten Stolz nun müde zu belächeln, kommt wieder nur ein Ja. Diesmal lacht sie jedoch auch leicht verschämt in sich hinein. Es ekelt mich an, wie turtelig die beiden sich verhalten.

»Darf ich es ihm zeigen?«, fragt Jeff endlich.

»Was?«

»Ein kleines Nachricht, das sie mir geschickt hat.«

Natascha schüttelt den Kopf.

»No, Jeff.«

»Come on. Er kennt dich doch von früher.«

»Ja, und das reicht mir auch.«

»Ja, Jeff, lass mal«, schalte ich mich ein. »Das passt schon.«

Ich möchte nicht sehen, was sie ihm geschickt hat. Ehrlich nicht. Wozu soll ich eine Nachricht lesen, in der Natascha ihm ihre Sehnsucht nach ihm mitteilt? Doch der Ami lässt nicht locker, beharrt darauf, mir die Nachricht zeigen zu dürfen. Natascha gibt irgendwann klein bei, betont aber, dass sie auf keinen Fall will, dass ihre Bilder noch andere zu Gesicht bekommen. Beim Wort Bilder horche ich auf. Was zum Teufel hat sie dem Idioten denn geschickt? Jeff holt sein Smartphone aus der Tasche, patscht darauf herum und präsentiert mir dann ein Foto, das ich erst nach einigen Sekunden erkenne. Natascha hat sich kurz vor meiner Ankunft selbst fotografiert. Genauer gesagt, nur einen Teil von sich.

»Ich wollte, dass er auch auf der Toilette an mich denkt«, gesteht sie, und ich erkenne, wie sehr sie sich nun dafür schämt.

»Und? Hat’s funktioniert?«, wende ich mich an Jeff.

»Ja. Aber die Antwort, die ich ihr geschickt habe, wir zeigen dir nicht.«

»Nee, bitte nicht.«

Doch da hat Natascha schon ihr iPhone in der Hand und streckt es mir entgegen. Da ich mich sofort abwende, sehe ich nicht, was Jeff ihr geschickt hat, gehe jedoch davon aus, dass es unmöglich ein Foto seines primären Geschlechtsmerkmals gewesen sein kann. Welcher normal denkende Mann würde seiner Freundin ein derartiges Bild senden? Und mit welchem Hintergedanken? Oder bin ich nur mal wieder zu prüde, um mir vorstellen zu können, dass es Frauen gibt, die sich darüber freuen?

Was auch immer der Inhalt seiner Nachricht gewesen ist – es war peinlich genug, um Jeff in seiner Muttersprache fluchen und aus dem Lokal stürmen zu lassen: »Thank you, Tasha. Oh, sorry, I meant to say: Fuck you!«

Nach seinem theatralischen Abgang brauchen Natascha und ich ein paar Minuten des Schweigens, um den Vorfall zu verarbeiten. Dennoch muss ich immer wieder in mich hineinschmunzeln, was sie selbstverständlich mitbekommt.

»Was denn, Jens?«

»Ich hab nicht gesehen, was du mir zeigen wolltest. Und jetzt überlege ich, was es gewesen sein könnte.«

Natascha lacht kurz auf.

»Du willst es wahrscheinlich nicht sehen.«

»Nein.«

»Dabei ist es sehr niedlich.«

»Hör auf, Natascha, es interessiert mich nicht. Ich habe dich heute nur sehen wollen, um zu erfahren, was dich dazu getrieben hat, mit mir Schluss zu machen. Und das muss doch wohl mehr gewesen sein, als die Tatsache, dass du mich während eines Partytrips nach Berlin nicht vermisst hast.«

Sie zuckt nur mit den Schultern und erwidert, dass sie dem wirklich nichts hinzuzufügen hat. Sie ahnt sicherlich nicht mal, wie verletzend das ist. Ich war ihr einfach egal, keinen Gedanken wert, nur ein beliebiges Objekt in ihrem damaligen Leben. Am liebsten würde ich sie fragen, ob sie denn auch ihr Bett, ihren Teppich, ach, alles, was sie nicht ständig vermisst, einfach so austauscht, wegwirft und abhakt. Doch damit würde ich zugeben, dass ich gekränkt bin.

»Um das alles jetzt mal auf den Punkt zu bringen: Wenn alles, was dich an mir gestört hat, war, dass du mich nicht vermisst hast«, sage ich stattdessen, »solltest du mir auf jeden Fall noch verraten, was du an den anderen denn so vermisst.«

Natascha zögert. Sicherlich, weil sie keine Antwort parat hat. Weil das mit dem Vermissen alles totaler Quatsch war, eine Ausrede, die man jedem Verflossenen unter die Nase reiben kann. Mit mir geht das allerdings nicht, weil ich mich nicht so einfach abspeisen lasse. Ich hake nach, bin ungemütlich, bohre da, wo es weh tut.

»Nein.«

Schade.