Filmmesse
»Die Berlinale ist das Rahmenprogramm des European Film Market, einem der bedeutendsten Branchentreffs der internationalen Filmindustrie.«
Am Abend liege ich in meinem Kanu und versuche mit iPhone Hip FM zu hören. Wenn ich schon nicht in der Lage bin, heute am Mikrofon zu stehen und für Jerry eine Privatshow einzusprechen, will ich wenigstens mal wissen, wie das Programm denn sonst so klingt.
Sprich, ich versuche eine App zu finden, über die das Programm gestreamt wird. Dabei wundere ich mich vor allem über die Rezensionen, die von den anderen so hinterlassen werden. Sie benutzen Emoticons, fluchen, schimpfen hinter ihren Pseudonymen, was das Zeug hält, und kommen mit der Tastatur ihrer iPhones ebenso wenig zurecht wie ich.
»Früher war die app Geil, aber jetzt stürzt es immer ab.«
»frage mich, wie so ein DRECK überhaut zugelassen wird!!! ein stern ist noch zu viel«
»Funktioniert ned :-(»
Eigentlich sollte ich im Sender stehen und endlich mal meine erste Testsendung aufnehmen. Nach so einem Tag ist mir jedoch nicht danach, ich habe nicht mal Durst. Wenigstens hat Sven vorhin noch gemeint, dass er bald herkommt, vielleicht lasse ich mich von ihm ja ein wenig ablenken.
Unterdessen gibt mir mein Vater zusätzlich Anlass zur Sorge, da ich von ihm seit Stunden nichts mehr gehört habe. Seine Taschen stehen noch in der Bibliothek, das Netzteil seines Handys steckt in der Dose, er muss es also bei sich haben. Aber er reagiert nicht auf meine Anrufe. Kann es sein, dass ich mich gerade für einen Mann verantwortlich fühle, der dieselben Gefühle für mich die vergangenen zwanzig Jahre erfolgreich unterdrückt hat? Soll er doch in der Gegend rumstromern und versuchen, bei irgendwelchen Ladys zu landen. Früher oder später wird er reumütig mit eingezogenem Schwanz wieder zu meiner Mama zurückkehren, ein paar Monate in seinem Feldmochinger Dachgeschoss die schlechte Stimmung aussitzen und schlussendlich mit einem mürrischen »Ich bin ein Depp, es tut mir leid« seinen zweiten Frühling beenden.
Statt Sven meldet sich jedoch plötzlich Bülent telefonisch bei mir und fragt mich, wo zur Hölle ich stecke. Bei ihm brenne das Haus, und wenn ich nicht in zehn Minuten bei ihm sei, würde meins auch in Flammen aufgehen. Mit mir, meiner Verlobten und allem, was ich besitze.
»Hey, ich wohne gerade bei Hondo, Bülent. Und lass meine Verlobte da raus!«, erwidere ich mit einem Selbstbewusstsein, dessen Existenz mir bislang gar nicht bewusst war.
»Laber nicht, Arschloch, fahr los!«, brüllt der Bülander zurück und legt auf. Ich bemerke, dass ich am ganzen Körper zittere, eine Reaktion, die ich bislang nur aus Büchern kannte. Zeitgleich arbeitet mein Verstand auf Hochtouren. Bülent weiß, dass ich verlobt bin und wo ich wohne, und er ist verrückt genug, mich und Jessi grundlos zu bedrohen. Ich werde Hondo dafür zur Rechenschaft ziehen müssen. Wie kann er mich mit diesem halbirren Patenverschnitt zusammenbringen? Nicht für alles Geld der Welt würde ich jemals Jessi in Gefahr bringen. Und jetzt habe ich es für »mit großer Wahrscheinlichkeit« zehntausend Euro getan. Sprich, eher für gar nichts.
Ein Glück, dass ich mich gleichzeitig fortbewegen und nachdenken kann. Keine Minute nach Bülents Anruf stehe ich in Hondos Keller, wo Sven sein Weltumrundungsrad abgestellt hat. Dank seiner Zweckmäßigkeit ist es unfassbar hässlich, mit Stangen und Haken an jeder freien Stelle, an denen man bestimmt ganz logisch geordnet seine Sachen befestigen kann. Flaschen, Töpfe, Zelt, Schlafsack, Isomatte. Da Sven das Rad in dem abgesperrten Kellerabteil nicht mit einem Schloss angekettet und das daneben gelagerte Mountainbike zwei platte Reifen hat, greife ich mir Svens Superbike, trage es die Treppe hoch und rase kurz darauf durch den abendlichen Verkehr.
München ist eine fahrradfreundliche Stadt, wurde 2010 sogar als »fahrradaktivste Stadt« von der Aktion Stadtradeln ausgezeichnet, unnützes Wissen, das man als Verkaufsprofi auf der Fahrradmesse allerdings draufhaben muss. Dass es trotzdem viel zu viele Ampeln gibt, die zudem radfahrerunfreundlich geschaltet sind, wurde selbstverständlich nicht festgestellt. Das erledige nun ich auf meinem Weg von der Maxvorstadt über die Leopoldstraße und die fahrradverachtende Innenstadt, in der man sich nur im Schritttempo fortbewegen darf. Natürlich schalte ich auf Arschlecken 3000, ignoriere Ampeln und Passanten und verleihe dem Begriff Radlrambo eine neue Dimension mit dem stolzen Ergebnis, es in knapp acht Minuten aus meinem Zimmer ins Café Benz geschafft zu haben.
Davor steht einer von Bülents Casinoschergen, dem ich Svens Bike mit dem Hinweis in die Hand drücke, dass das Teil mehrere Tausend Euro wert ist, obwohl es so beschissen aussieht, und er darauf aufpassen soll, weil ich Bülents Buchhalter bin. Er blickt mich nur verständnislos an, doch mir bleibt keine Zeit, mein Anliegen zu wiederholen.
»Pass einfach drauf auf«, fahre ich ihn an und springe die drei Stufen zum Eingang der Wetthölle hinauf. An der Bar sitzt Bülent bei Serkan und glotzt auf sein Handy.
»Der Deal ist off«, anglizisiere ich ihm wütend entgegen, doch Bülent hebt nur langsam seinen Kopf, legt dann die Zähne frei und grinst mich breit an.
»Neun Minuten, zweiundzwanzig Sekunden.«
Ich bin vollkommen außer Atem und sacke erst mal in mich zusammen. In ein paar Minuten wird meine Kleidung schweißdurchtränkt sein, was die Heimfahrt auf dem Rad ohne Jacke zu einem großen Gesundheitsrisiko werden lässt.
»Das ist krass schnell«, höre ich dann Hondo sagen. »Boah, muss der sich eingeschissen haben!«
Das folgende Gelächter macht mich wirklich wütend. Ich richte mich wieder auf und sehe nun auch meinen Freund vom Balkan, der sich hinter dem Tresen versteckt hatte. Leider bin ich im Umgang mit Wut ein absoluter Amateur, und meine Auseinandersetzung mit dem Tanzbären im Atomic hat mich obendrein gelehrt, dass ich nicht kämpfen kann. Hier stehen mir drei Männer gegenüber, die garantiert schon in große Schlägereien verwickelt waren und siegreich daraus hervorgegangen sind. Ich bin dagegen der Superdödel in »Sie nannten ihn Mücke«, der in der Casinoszene von Bud Spencer immer wieder eine gewischt bekommt. Meine Taktik muss also anti-aggressiv sein, wenn ich nicht die folgenden Wochen in der Uniklinik verbringen möchte. Ich bemühe mich, in das Gelächter einzusteigen.
»Du willst fünftausend von mir, da muss ich auch bisschen Spaß mit dir haben«, blökt Bülent. »Aber im Ernst: Morgen Mittag brauch ich dich hier. Als Buchhalter. Zieh dich entsprechend an.«
»Hey, Bülent, ist es okay, wenn ich mich von dem im Klo ein blasen lasse?«, versucht Serkan nachzulegen, killt damit aber schlagartig die ausgelassene Stimmung meiner Peiniger. Bülent dreht sich zu seinem Barkeeper und starrt ihn an.
»War nur ’n Witz, weil der so schwul ausschaut«, versucht Serkan die Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken.
»Glaubst du, dass ich einen schwulen Buchhalter hab, oder was?«
»Nein. Null.«
»Oder willst du das? Hab ich einen schwulen Barkeeper?«
»Nein, echt nicht.«
»Und wenn schon«, mische ich mich ein. Ich habe keine Lust, hier jetzt eine Homophobie-Diskussion vom Zaun zu brechen, möchte aber ebenso wenig noch mehr dämliche Schwulensprüche hören.
»Hey, dann könnt ihr zwei ja aufs Klo gehen und euch gegenseitig –«, setzt Hondo an, doch ich fahre ihm in die Parade.
»Nein, können wir nicht. Weil weder ich schwul bin noch Serkan. Er fand es lustig, mich schwul zu nennen. Wir alle nicht. Und sein Vorschlag, mich auf der Toilette oral zu vergewaltigen, war auch nicht der Bringer. Aber mit seinen Scheißideen ist er in bester Gesellschaft. Ihr widert mich an. Alle.«
Hondos Reaktion verwundert mich am meisten. Er schaut beschämt zu Boden. Der Bülander wirft sich ein paar Nüsse in den Mund und kaut missmutig darauf herum, Serkan schaut mich einfach nur dumm an. Er arbeitet sich vermutlich gerade durch die Stelle, an der er dachte, es sei lustig, mich schwul zu nennen.
»’tschuldige«, kommt es dann kleinlaut von Hondo. »Uns war halt langweilig.«
»Was machst du überhaupt hier? Wenn Aylin oder einer deiner jüdischen Freunde dich hier erwischt, ist es aus mit deiner Zukunft als Sohn Israels.«
So einfach spielt man einen Ball unerreichbar zurück. Doch da ich mit wirklich überraschend kleingeistigen Typen in einem Raum stehe, deren Vorurteile mich sprachlos machen, halte ich mich an den Rat einer alten Bekannten: Wenn es einem die Sprache verschlägt, einfach mal den Mund halten. Bülent sieht zu Hondo.
»Was? Bist du Jude? Dann kannst du ja mein Buchhalter sein.«
»Kann er nicht«, antworte ich stellvertretend.
»Warum?«
Während ich noch überlege, wie ich dem Casinobetreiber freundlich und unüberheblich erklären kann, dass er ein unglaublicher Vollidiot ist, nimmt Hondo mir mit links den Wind aus den Segeln: »Weil ich noch nicht konvertiert bin.«
Dazu habe ich nichts mehr zu sagen, die beiden schlagen darauf ein, dass Hondo sich meldet, sobald das mit dem Glaubenswechsel geklappt hat, und dann bekomme ich noch mitgeteilt, dass ich am nächsten Tag gegen Mittag hier aufschlagen soll, es gab da einen Tipp von einem Bekannten in der Behörde. Ich bitte darum, über solche Termine in Zukunft per SMS, E-Mail oder Anruf informiert zu werden und verlasse das Casino Chez Bülent.
Zehn Sekunden später bin ich zurück. »Wo ist der Typ, der gerade zum Rauchen draußen war?«
»Wer?«
»Na, der Typ.«
Die drei mustern mich irritiert.
»Was für ein Typ?«, fragt Hondo noch mal, und in mir macht sich die Erkenntnis breit, dass ich Svens Grundlage für seine Weltreise einem Wildfremden in die Hand gedrückt habe. Mit dem Hinweis, dass das Ding sauteuer ist. Auf der Suche nach einer Steigerungsform meiner vorhergegangenen Missgeschicke komme ich auf nur eine logische Variante: Ich bin in ein Ölfass gesprungen.
Hondo begleitet mich zur S-Bahn und versucht mich wieder aufzubauen. Doch nichts, was er sagt, dringt zu mir durch. Ich mache mir nämlich extreme Vorwürfe, Svens verdammtes Rad einfach genommen zu haben. Er wird zwar verstehen, dass ich zu dem Zeitpunkt komplett neben mir stand, vielleicht auch noch meine Verstrahltheit beim Absteigen nachvollziehen können. Aber das Teil dann einfach dem nächstbesten Kerl in die Hand zu drücken, der mir dubios genug aussieht, um mit den undurchschaubaren Bekannten von Hondo unter einer Decke zu stecken, wird schwer zu erklären sein.
Wir laufen durch die Passage im Rieger Center an den großen Schaufenstern des gigantischen Globetrotter vorbei, in dem unter der Woche die Anzahl der Verkäufer nur selten von der der Einkäufer übertroffen wird, und ich fühle mich sofort noch miserabler. Hondo entschuldigt sich für die schlecht gewählte Route damit, dass er Aylin hier abholen muss. Sie wollte einen »Film für alte Menschen anschauen, so mit nur Labern und so«, und da hatte Hondo keine Lust zu. Wohl aber mein Vater, »korrekter Kerl«.
Die beiden haben mir gerade noch gefehlt, Miss Affekt und Mister, keine Ahnung, mein Vater eben. Nur ganz anders, nahbar und menschlich. Je mehr ich darüber nachdenke, desto angenehmer finde ich plötzlich die Vorstellung, wieder mit ihm zusammenzusitzen. Sollen Aylin und Hondo eben dabei sein, egal. Hauptsache, wir stürzen nicht wieder so ab wie am Vorabend.
Wir stehen vor dem CinemaxX und beraten, wo wir gleich einen Drink nehmen sollen, Königsquelle (Schnitzel), Pacific Times (Steak) oder München 72 (Schinkennudeln). Hondo ist verzweifelt, weil er mit der Kaschrut nicht zurechtkommt. Er ist mit den jüdischen Speisegesetzen regelrecht überfordert und weiß nie, wann er was essen darf, geschweige denn trinken. Da weder Aylin noch Malea auf mich den Eindruck machen, darauf besonderen Wert zu legen, rate ich ihm, vor allem nicht Schwein, Kamel oder Hase zu essen. An mehr kann ich mich nicht erinnern, verspreche aber, das noch mal genau nachzulesen und ihm zu erklären.
Als ich gerade von ihm erfahren möchte, warum es Aylin eigentlich so wichtig ist, dass er ein Mitglied ihrer Glaubensgemeinschaft wird, entdeckte ich Jessi in der Menschenmenge, die aus dem Kino strömt. Wir wohnen nicht weit von hier, und so ist es sehr gut nachvollziehbar, dass sie ins Kino geht, statt alleine zu Hause herumzusitzen. Da sie gerade nichts von mir hören oder sehen will, trete ich einen Schritt zurück und verberge mich hinter Hondo.
»Was ’n los?«
»Da vorne ist Jessi, ich –«
»Jessi! Hi! Hey! Jessi«, brüllt Hondo, bevor ich ihm sagen kann, dass ich nicht von ihr entdeckt werden will. Jessi sieht erst ihn, dann mich, stutzt kurz und kommt dann zu uns, wobei sie immer wieder über ihre Schulter zum Kinoausgang späht.
»Hi, was macht denn ihr hier?«
»Meine Freundin und sein Vater haben sich einen Film gegeben«, antwortet Hondo.
»Ach, dann war er das doch. Peinlich, ich hab meinen Fast-Schwiegervater nicht erkannt.«
Der fehlende Kuss zur Begrüßung und das »Fast« vor dem Schwiegervater brechen mir das Herz, denn sie besiegeln wohl unser Ende. Sie hat mit mir abgeschlossen. Doch nicht nur das. Als ein extrem gut, modisch und offensichtlich teuer gekleideter Mann das CinemaxX verlässt, winkt sie ihm zu. Er strahlt sie an und gesellt sich ebenfalls zu uns.
»Leo, das sind Hondo und Jens«, stellt Jessi ihren Begleiter vor.
»Hi«, ist alles, was von ihm kommt. Kein »Ach, du bist Jens«, »Oh, der Bräutigam« oder »Ich hoffe, es macht nichts, dass ich deine Verlobte ausgeführt habe«. Nein, er weiß vermutlich nicht mal, dass ich bis vor Kurzem der Mann in Jessis Leben gewesen bin. Meine Knie werden weich, und mir fehlen die Worte, weshalb ich Leo nur zunicke. Jessi hingegen scheint nicht mal wahrzunehmen, wie unangenehm der Augenblick gerade für mich ist.
»Sensationeller Film«, sagt sie. »Solltest du dir auch anschauen.«
Ich kann sie nicht mal ansehen, starre nur still vor mich hin auf Leos glänzende Schuhe. So bekomme ich nur über die zusätzlichen vier Füße mit, dass sich mein Vater und Aylin zu uns gestellt haben. Ich blicke dennoch nicht auf, sondern bleibe in meiner kleinen Welt unter Kniehöhe. Ich höre allerdings meinen Vater Jessi begrüßen und fragen, was für ein attraktiver Kerl da neben ihr stünde. Sie erwidert, dass es sich bei dem Kerl um einen alten Freund handelt, der zufällig in der Stadt ist und ins Kino wollte.
»Ins Kino?«, fragt mein Vater. »Sagen Sie, Leo – wussten Sie, dass Jessi schwanger und verlobt ist?«
»Äh, das mit der Schwangerschaft, na ja, das sieht man.«
»Aber wussten Sie es, bevor Sie sich bei ihr gemeldet haben?«
»Nein.«
»Und?«
»Schön für sie und … verlobt?«
Leo muss sich Jessi zugewandt haben, vermutlich ist er etwas verwirrt, hatte sich vielleicht heimlich auf sein erstes Mal mit einer Schwangeren gefreut oder war eh kurz davor, einen Abgang zu machen. Oder er …
»Geil!«, ruft er wider Erwarten und umarmt Jessi. »Wer ist denn der Glückliche?«
»Ich«, sagt mein Mund.
»Das müssen wir feiern!«