Familienmesse

»Die Baby plus Kids ist die Rundum-Sorglos-Veranstaltung für alle Eltern von der Schwangerschaft bis zum ersten Schultag.«

Irgendwie hat mich mein Verpissen ins Glockenbachviertel geführt, vielleicht war es auch mein Unterbewusstsein. Mit einem Cappuccino aus einem fragwürdigen Schokoladenladen in der Hand stapfe ich die Jahnstraße hinauf. Wo ich schon mal in der Gegend bin, könnte ich eigentlich bei meinem Patenkind in spe vorbeischauen. Diesen Vorschlag muss ich mir nicht zweimal machen. Maren und Ralf, die Eltern des Kindes, das unter Zuhilfenahme meiner letzten Samenspende entstanden ist, wohnen nur ein paar Häuser weiter. Vor ein paar Wochen hat Emil-Noel (dessen zweifelhafter Name sich nur schwer mit meiner Patenschaft vereinbaren lässt) endlich das Licht der Welt erblickt, natürlich im Dritten Orden, obwohl ich nicht verstehen kann, wie die beiden dort einen Platz bekommen haben, sie waren dort nämlich zwölf Wochen vor dem Geburtstermin noch nicht angemeldet. Alleine schon das herauszufinden, würde einen Besuch rechtfertigen.

Ich klingle bei den beiden, unsicher, wie der Empfang sein wird. Jessi und ich haben die beiden nur einmal seit Emil-Noels Geburt getroffen, der ganze Kontakt ist eher in einer Art Winterschlaf. Was unter anderem daran liegen kann, dass ich eine Zeit lang überzeugt war, Maren für mich gewinnen zu müssen, da Emil rein biologisch mein Kind ist. Meine Versuche, sie und Ralf auseinanderzubringen, waren allerdings recht idiotisch und rückblickend nur auf meinen Schockzustand zurückzuführen, den die Kastration durch Idi Amin hervorgerufen hatte. Am Ende hat das auch alles keine Früchte getragen, mich aber mit Jessi zusammengeführt – wofür ich Maren wohl mein Leben lang dankbar sein werde. Vorausgesetzt, wir bleiben zusammen.

Der Türöffner brummt, ich betrete das Haus und kurz darauf die Wohnung der Heinzes. Es riecht komisch, und eine gestresste Maren ruft mir aus dem Wohnzimmer zu, dass ich das Paket einfach im Flur abstellen und selbst irgendwas auf mein Unterschriftendingsbums kritzeln soll, das wie Heinze aussieht. Sie kann gerade nicht, verdammt noch mal, jetzt ist er wach. Ein herzzerreißendes Heulen tönt plötzlich durch die Wohnung, schnelle Wellen kurzer, aufgeregter Brüller, die nur von Emil-Noel kommen können.

»Sind Sie immer noch da?«, fragt Maren und tritt mit dem winzigen Brüllgerät auf dem Arm in den Gang. Ich lächle sie entschuldigend an.

»Was machst denn du schon hier?«

»Ich bin jetzt bei DHL«, witzle ich.

»Wie? Echt?«, staunt Maren, die gerade Besseres zu tun hat, als schlechte Witzchen zu kapieren.

»War ein Witz.«

»Ach so. Und Jessi?«

»Der geht’s prima.«

Dass ich gerade störe und in ihren Augen auch gerne jetzt und hier sterben dürfte, weil ich ihren Sohn geweckt habe, versucht sie mit einem leichten Zucken der Mundwinkel zu überspielen. Vermutlich will sie mich freundlich ansehen, grimassiert jedoch nur. Ich stehe einfach nur doof da, das Gesicht ebenfalls verzerrt.

»Wenn’s gerade blöd ist …«

»Nee, jetzt ist es eh zu spät. Wenn Emil mal wach ist, war’s das.«

»Tut mir leid.«

»Ist nicht dein Fehler. Ralf will schon seit Tagen die Türklingel austauschen, kommt aber nicht dazu.«

»Hat er sie denn schon besorgt?«

»Klar. Aber bis er hier im Haus was installiert, vergehen in der Regel Jahre.«

»Dann ist das Mindeste, was ich tun kann, wohl das.«

Endlich entspannen Marens Lippen sich wieder, und sie zeigt ihr bezauberndes Lächeln, das nur von Jessi übertroffen wird (grundsätzlich, sie muss nicht mal lächeln). Ich ziehe meine Schuhe aus und lege Mantel und Schal ab, während Maren wieder in Richtung Wohnzimmer verschwindet, um den noch immer krähenden Sohn ruhigzustellen. Dass sie ihn stillen würde, habe ich nicht bedacht, als ich ihr ins Wohnzimmer gefolgt bin, wo sie jetzt gerade ihren enorm gewachsenen Busen freilegt. Ich schaue reflexartig gen Decke und erkundige mich, wo Ralf das Werkzeug lagert.

»Ach, komm, das hat Zeit. Setz dich erst mal.«

Endlich hält sie Emil-Noel vor ihre Brust, und ich kann wieder einigermaßen in ihre Richtung sehen, fühle mich dabei aber dennoch unwohl. Da sie mit der rechten Brust stillt, setze ich mich links von ihr in einen der biederen BoConcept-Sessel. Wobei ich, streng genommen, gerade sehr viel biederer bin als das spießige Polstermöbel.

»Wie geht’s dir denn so?«, will Maren wissen.

»Ach, ja, geht schon. Die typischen Sinus-Ausschläge eben.«

Sie zieht den Kopf zurück und runzelt die Stirn.

»Und die Hochzeitsplanung ist in vollem Gang?«

»Ja, ja, klar. Und die Geburtsvorbereitung, Sonntag war Partnertag.«

»Ich weiß, Jessi hat was erwähnt.«

Fuck. Wenn Jessi bereits mit Maren telefoniert hat, wird sie bestimmt von meinem Versprecherchen (Dinge klein zu reden hilft mir bei der Verarbeitung) berichtet haben. Da Maren mich jetzt jedoch fragt, wie es sonst so läuft, kann das auch eine falsche Vermutung sein.

Statt nun zum fünften Mal jemandem zu erzählen, wie es gerade um meine Beziehung steht, tue ich lieber so, als wäre alles in Butter. Da Maren so oder so nur mit halber Aufmerksamkeit anwesend ist (die andere Hälfte stillt), wäre sie eh keine Hilfe. Kaum habe ich ihr erfolgreich das Gefühl gegeben, dass es Jessi und mir bestens geht, legt sie los. Und alles, was aus ihr heraussprudelt, ist Kind.

Von Windeln, Ausschlag am Po, ihrem Körper, den sie dem Kleinen samt Brüsten opfert, seinem Spuckverhalten, Stuhlgang, Atmen, Lachen, Weinen und noch mal Kotzen, diesmal jedoch in Verbindung mit all den Möbeln, die inzwischen mit halb verdauter Muttermilch besprenkelt sind, darunter auch mein Sessel. Instinktiv hebe ich den Arm, um zu prüfen, ob ich mit dem Ärmel tatsächlich gerade in frisch Erbrochenem hänge, und Maren prophezeit, dass es uns sicher auch so gehen wird, wenn unsere Tochter erst mal da ist.

Das bezweifle ich, nicke aber zustimmend. Wir werden zwar ebenso monothematisch für die Kleine leben, aber mit Freunden werde ich auf jeden Fall versuchen, mich zurückzuhalten. Einen Unbeteiligten dermaßen detailliert über die wenigen aktivierten, höchst unattraktiven Fähigkeiten eines Säuglings zu informieren, ist einfach eine Zumutung. Klar, sich als Eltern exklusiv damit auseinandersetzen zu müssen, auch – aber dafür hat man sich ja schließlich entschieden. Besonders, wenn man das Kind so dringend wollte, dass man dafür sogar auf die Samenspende eines fremden Menschen zurückzugreifen bereit war.

Trotz meiner ständigen Versuche, das Thema zu wechseln, kehren wir spätestens nach zwei Sätzen über den Winter (zu kalt), Ralfs Job (zu stressig) und Marens Plänen für die Zukunft (zu früh) wieder zum Babytalk zurück. Ich erwäge schon, auf die Uhr zu sehen und einen Termin vorzutäuschen, als das Unerwartete geschieht. Emil-Noel, den Maren zwar immer nur Emil nennt, dessen hochkarätig dämlichen zweiten Namen ich mir aber nicht aus dem Kopf schlagen kann, hat die rechte Brust erfolgreich geleert und ist nun sehr zufrieden. Maren setzt ihn sich auf Schoß, und ich sehe ihn das erste Mal so richtig an, während sie ihre Brust in einen BH packt, der vorne eine Klappe hat. Ich musste kurz hinsehen, ich bin auch nur ein Mann.

Emil-Noel ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten. Er ist ein verdammter Mini-Me, gerade so, als hätte man Maren nicht mit meinen Spermien befruchtet, sondern ihr einen Klon von mir eingesetzt. Von Maren ist nichts, aber auch gar nicht in dem Knirps zu entdecken. Da mir die Ähnlichkeit schon fast grotesk vorkommt, entgleisen mir vermutlich die Gesichtszüge. Anders kann ich es mir nicht erklären, warum Maren ihren kleinen Emil-Noel ansieht und mir dann erklärt, dass die meisten Bekannten finden, er gehe eher nach Ralf als nach ihr.

Meinem Lachen wird mit Unverständnis geantwortet. Maren hat das wohl ernst gemeint und setzt hinzu, dass es doch unglaublich ist, wie sich Säuglinge bemühen, dem Vater zu ähneln. Ich sage nichts dazu, lasse sie ihre Verblendung genießen, mache mir nur eine geistige Notiz, mal zu googeln, ob da wirklich was dran ist. Denn eine Tochter, die potenziell wie Sven aussieht, wäre in der Tat etwas, mit dem ich mich besser schon vor ihrer Geburt anfreunde. Armes Kind.

Marens Handy vibriert auf dem Couchtisch. Sie nimmt es mit dem kurzen Kommentar, dass das wohl Jessi sein wird, bestätigt die Vermutung durch ein kurzes Nicken und nimmt dann das Gespräch entgegen.

»Bist du vor der Tür?«, ist ihre erste Frage, und ich schiebe sofort Panik. Mir fällt kein vernünftiger Grund ein, warum Jessi hier vor der Tür stehen sollte. Wie schon gesagt, besteht der Kontakt zu den Heinzes vorrangig in dem Eintrag ihrer Rufnummern in unseren Telefonen. Vor allem Jessi hat in den vergangenen Monaten kein einziges Mal Maren oder Ralf erwähnt, geschweige denn mit ihnen gesprochen.

Ich flüstere Maren zu, dass ich nicht da bin, sie runzelt die Stirn, schüttelt den Kopf in Unverständnis. Zum Glück schaltet sie aber schnell und erkundigt sich bei Jessi, ob ich denn auch mitkäme. Die Antwort höre ich nicht, sehe nur das Erstaunen in Marens Gesicht steigen.

»Das musst du mir gleich alles in Ruhe erzählen. Ich mach dir auf«, beendet sie dann das Telefonat und wendet sich mir zu.

»Sie ist unten und wird in einer Minute hier oben sein. Was ist los?«

Ich stottere, dass Jessi ihr das sicher gleich brühwarm servieren wird, und betone, dass ich auf keinen Fall hier von ihr erwischt werden möchte.

»Erwischt?«

»Na ja, falsches Wort. Aber … wo kann ich mich verstecken?«

»Das ist nicht dein Ernst.«

Doch, ist es. Und ich habe auch schon ein ideales Versteck gefunden – das Nebenzimmer. Ich stehe auf, Maren ebenso. Doch als sie bemerkt, dass ich auf das andere Zimmer zusteuere, bremst sie mich.

»Komm, du gehst einfach im Hausflur eine Etage höher, wartest, bis Jessi hier drin ist, und dann verschwindest du. Wir telefonieren dann später.«

Ein top Plan, gestehe ich und folge meiner Ex-Flamme zur Tür. Doch dort klopft schon Jessi an. Maren wirbelt zu mir herum, deutet auf das Kinderzimmer, doch ich schüttle den Kopf. Das will sich Jessi bestimmt anschauen. Stattdessen hetze ich auf leisen Sohlen zurück und lande so im Heinz’schen Schlafgemach. Ich schließe die Tür und höre gedämpft, wie die beiden alten Freundinnen sich begrüßen. Ist ja eine Ewigkeit her, Mann, bist du fett geworden, komm rein, ich muss dir so viel erzählen.

Während Jessi und Maren im Wohnzimmer Citronellatee trinken (Kennst du den auch von der Geburtsvorbereitungsgruppe?) und sich unterhalten, schäme ich mich dafür, sie zu belauschen. Ich habe wenigstens kurz versucht, höflich zu sein und aus dem Fenster zu schauen, doch meine Neugier hat recht schnell die Oberhand gewonnen. Es ist ja auch verdammt interessant zu hören, was die eigene Verlobte einer guten Bekannten so zu berichten hat – noch dazu, wenn es gerade um gefühlt alles geht.

Wie erwartet wird Jessi zunächst mit demselben Baby-Info-Gespräch berieselt, das ich auch schon über mich ergehen lassen musste. Von Emil selbst hört man nur ab und an ein Glucksen, sonst benimmt er sich offenbar vorbildlich. Wobei ich nicht ganz genau weiß, wie sich Neugeborene so verhalten; meine intensive Vorbereitung aufs Vaterwerden hat sich bislang ausschließlich auf die Geburt und die dazugehörigen Besorgungen beschränkt. Pädagogisch stehe ich bei null, aber immerhin liegt das Standardwerk »Babyjahre« auf meinem Nachttisch. Auch wenn ich an den im Moment nicht rankomme, da mir der Zugang zu meinem Schlafzimmer verwehrt ist. Egal, Jessi ist ohnehin durch eine Bekannte auf das pädagogische Konzept Emmi Piklers aufmerksam gemacht worden, das ihr nun besonders zusagt und meinen Kauf der »Babyjahre« schon wieder redundant macht.

Ich schalte während Marens Monolog auf Durchzug und verpasse so fast Jessis geschickten Übergang von Babykotze auf uns.

»Ich will zur Zeit auch nur noch kotzen«, sagt sie, worauf Maren seufzt, dass sie das in ihrer Schwangerschaft auch hatte. Allerdings nur in den ersten Monaten.

»Nee, nicht wegen Matilda, sondern wegen Jens«, erwidert Jessi. Damit hat sie Marens volle Aufmerksamkeit, denn wenn es eine Sache gibt, die besser ist als Baby-Talk, dann Beziehungsquark. Ein für mich extrem glücklicher Umstand, denn anders würde ich sicherlich nie ungefiltert erfahren, was meine Verlobte zu unserer Situation zu sagen hat.

Sie beginnt mit dem Augenscheinlichen: Dass sie einfach mal rausmusste und ich das in den falschen Hals bekommen habe. Denn statt ihre Rückkehr ordentlich vorzubereiten, indem ich mal die Wohnung putze, Blumen kaufe oder einfach nur vor Freude platze, habe ich ihrer Meinung nach hohlgedreht und mich selbst kasteit. Sie hätte nie gedacht, dass ich ein so schwaches Nervenkostüm habe, vor allem aber nicht, wie scheißegal es mir ist, dass sie unser Kind erwartet. Dass sie »na ja, eigentlich Svens« hinzufügt, schmerzt nur kurz, denn den Fehltritt mit dem Frettchenzüchter kann sie sich noch immer nicht erklären. Maren lacht und wirft ein, dass ihr eigener Blackout mit mir auch noch ein großes Rätsel für sie ist. Wenigstens war es aber ein Blackout interruptus, steuert Jessi bei, und ich lache in mich hinein. Deswegen liebe ich sie so sehr.

Zum Glück weiß Jessi, dass Maren und ich einmal kurz miteinander geschlafen haben, zumindest damit begonnen haben, um dann aber doch abzubrechen. Und bislang hatte es immer den Anschein, dass sie damit auch kein Problem hat.

»Weißt du«, sagt sie jedoch nun, »manchmal gibt Jens mir das Gefühl, dass ich eben doch nur die zweite Wahl bin.«

»Quatsch.«

Ich schlage drei Kreuze, weil Maren meinen ersten Gedanken dazu laut ausspricht. Leider kann ich sie nicht sehen und sicher sein, dass sie dazu auch die benötigte entsetzt-ernste Mine macht.

»Aber warum ist er dann manchmal so abwesend? Wieso sperrt er sich stundenlang in sein Zimmer ein, um angeblich zu arbeiten? Ich meine, dass er da drinnen hockt und nichts macht, kann ich hören.«

»Lauschst du an seiner Tür?«

»Nee. Aber seine Tastatur ist so laut, dass es mir auffällt, wenn er sie mal benutzt. Ansonsten ist da immer nur alle paar Sekunden ein Mausklick zu hören. Oder viele, schnell hintereinander. Dann spielt er irgendein Onlinespiel.«

Ich notiere, dass ich unbedingt eine leisere Tastatur und Maus kaufen, meine Zimmertür abdichten oder mir ein Büro außerhalb unserer Wohnung suchen muss.

»Vielleicht liest er ja. Oder überlegt«, verteidigt mich Maren.

»Kann sein. Aber wenn er mir dann erzählt, dass er absolut keinen Plan hat, wie und wovon wir in fünf Jahren leben sollen … Mann, Maren. Ich hatte Typen, die am Tag das verdienen, was Jens im Monat macht. In einem guten Monat.«

Das ist ein Schlag ins Gesicht. Auf der einen Seite ist es vielleicht verdient, dass ich mal Jessis ungeschönte Einschätzung der Dinge zu hören bekomme, ich habe sie mit meiner schließlich auch nicht verschont. Andererseits geht das nun etwas zu weit. Sie rudert zwar zurück und betont, dass die Typen schließlich größtenteils egomanische Volltrottel gewesen seien, doch bleibt der Nachgeschmack, dass ich ein zahlungsunfähiger Loser bin. Stimmt ja auch, doch das geht eigentlich nur uns was an. Dachte ich.

Jetzt bereue ich es, hier gefangen zu sein, verlasse meinen Lauschposten an der Tür und setze mich auf Ralfs und Marens Bett. Eines steht fest: Ich brauche das Geld von Bülent, der mich eigentlich anrufen wollte, wenn er mich braucht. Und wenn es nur ist, um mich selbst wieder etwas wohler zu fühlen und mich Jessi gegenüber normal zu benehmen. Als es bei uns funkte, hatte ich gerade von meinem Vater eine recht ordentliche Summe zugeschoben bekommen, um mein Nichtsnutzdasein zu beenden und wenigstens mal die Wohnung aufzumöbeln. Das hat leider nichts genutzt, da ich das Geld nach und nach für die alltäglichen Einkäufe und Kosten verbraucht habe, statt es ordentlich einzusetzen. So hatte ich in den letzten Monaten auch nie das Gefühl, irgendwann mal pleite sein zu können. Bis das Konto eben wieder leer war. Mir fehlt der Alarm, der bei zweitausend Euro vor null losgeht und mich aktiv werden lässt. Ich lasse mich friedlich bis eintausend Euro in den Dispo buchen und drehe dann mit einem Schlag durch. Ich sollte dringend mal den Versuch unternehmen, meinen Bankberater dazu zu überreden, mein Konto bei zweitausend Euro Guthaben auf null zu eichen. Eine leicht verquerte Idee, vielleicht aber höchst nützlich. Hätte ich eine Banklehre oder BWL studiert, könnte ich eine Bank eröffnen, in der das Standard ist. Alle freiberuflichen Finanzdeppen meinesgleichen würden sofort ihre Konten zu mir verlegen.

Ich träume davon, wie ich das Stammhaus der Fischer Bank einrichten würde, und male mir gerade aus, was ich alles anders und besser machen würde als meine altehrwürdige Münchner Stadtsparkasse, als ich die Haustür zuschlagen höre. Kurz darauf tönt Ralfs Stimme durch die Wohnung. Mit drei Sätzen bin ich wieder an der Tür zum Wohnzimmer, um zu lauschen. Was hat er um diese Zeit hier verloren?

»Hi, Jessi, lange nicht gesehen«, höre ich ihn nun sagen.

»Ja, zu lange«, antwortet Jessi und gibt ihm geräuschvoll ein Bussi zur Begrüßung. Nein, zwei. Maren erkundigt sich vorsichtig, warum er hier ist.

»Peinlichste Aktion des Jahres: Ich war an der Tankstelle, um mein Auto auszusaugen, bücke mich und ratsch, reißt mir die Hose.«

Er dreht sich offenbar um und präsentiert den beiden Damen sein freiliegendes Hinterteil, was mit lautem Gelächter quittiert wird.

»Ich zieh mich nur schnell um, dann seid ihr wieder ungestört.«

»Warte mal – hast du ein paar Fotos von Emil auf deinem iPhone, die ich Jessi zeigen kann?«

»Ja, warte.«

Mir bleiben nur noch Sekunden, um mich in Luft aufzulösen. Hektisch sehe ich mich nach einer Versteckmöglichkeit um. Doch unter das Bett kann man nicht kriechen, am Fenster hängt statt eines Vorhangs ein Faltrollo (Designerschrott!), und an den Schrank muss Ralf gleich, um sich sein neues Outfit rauszusuchen. Ich bin am Arsch und sehe nur noch eine Möglichkeit. Ich wühle die Bettdecken auf und versuche sie so über mir zu drapieren, dass auf den ersten Blick nicht erkennbar ist, dass ich darunter stecke.

Kaum liege ich gut zugedeckt auf dem Bett, geht auch schon die Zimmertür auf, ich höre Ralfs Schritte. Mein Puls rast, ich bekomme kaum Luft. Schweiß tritt mir aus sämtlichen Poren, da ich mir schon ausmale, wie peinlich es sein wird, wenn Ralf mich entdeckt. Was ich sagen könnte, wenn … Eine Hand packt meinen rechten Fuß. War ja klar, dass der nicht zugedeckt war, ich konnte es nur nicht spüren, weil ich dicke Socken trage.

»Was geht denn hier ab?«, fragt Ralf, und ich reiße mir die Decken vom Körper und rufe: »Überraschung!«

Alles andere hätte keinen Sinn gemacht. Ralf ist erst mal verwundert, lacht dann aber und hält mir seine Hand zum Einschlagen hin. Mir scheint es durchaus richtig, zunächst seine Irritation zu beseitigen, bevor ich mich um Jessi kümmere. Die ist allerdings von der Couch aufgestanden und kommt nun auch ins Schlafzimmer, um mich entgeistert anzustarren.

»Hallo, mein Herz«, begrüße ich sie. »Pass auf. Ich war in der Gegend und dachte, hey, schau ich mal bei meinem Patenkind vorbei. Na ja, und dann kamst du, und ich wollte nicht stören.«

»Und da hast du dich im Schlafzimmer versteckt?«

Ralf begreift für einen Moment gar nichts, schaltet sich dann aber wieder ins Gespräch. »Wie? Ihr seid nicht zusammen da?«

»Nee, ich war zuerst hier, und dann kam sie«, erkläre ich und setze halbgar nach: »Wie gesagt, sollte ’ne Überraschung sein.«

»Und was machst du hier alleine?«

»Das würde ich auch gerne wissen!«

»Ja, Maren, was mache ich hier?«, wende ich mich an die vollkommen unbeteiligte Maren im Wohnzimmer, die jedoch beschlossen hat, sich auch weiterhin nicht zu beteiligen.

»Hast du uns belauscht?«, will stattdessen Jessi wissen.

»Für wen hältst du mich?«, setze ich dem entgegen.

»Das ist mir grade nicht so klar. Auf jeden Fall nicht für den Mann, den ich vor ein paar Minuten noch heiraten wollte.«

Damit dreht sie sich um und verlässt das Schlafzimmer. Auf dem Weg zur Haustür blökt sie noch Maren an, dass sie das wirklich nicht von ihr erwartet hätte. Maren schweigt stur weiter, und ich wende mich Ralf zu, dessen Halsschlagader wild pulsiert.

»Tut mir leid, wir haben gerade Stress.«

Ralf schüttelt nur mit gerunzelter Stirn den Kopf. Da er mir relativ egal ist, Jessi hingegen mitnichten, lasse ich ihn in seinem Schlafzimmer zurück und mache mich auf, sie einzuholen. Maren rufe ich auf dem Weg durchs Wohnzimmer zu, dass es mir leid tut, sie da mit reingezogen zu haben, dann schlüpfe ich in meine Schuhe, greife mir meine Sachen und stolpere die Treppen runter.

Eine Schwangere einzuholen stellt zum Glück keine besondere Herausforderung dar. An der Ecke zur Westermühlstraße lege ich ihr die Hand auf die Schulter und entschuldige mich; im selben Atemzug schlage ich vor, sich kurz auf einen Kakao in die Chocolaterie Götterspeise zu setzen. Oder ins Faun. Jessi hält das jedoch für unnötig und faucht mich leicht berlinernd an, dass ich mich gehackt legen kann. Sie rutscht immer in den Dialekt ihrer Kindheit, wenn sie richtig wütend ist.

»Es tut mir leid, ehrlich«, sage ich. »Ich war zufällig in der Gegend und dachte, ich schau mal vorbei. Und dann kamst du, und –«

»Und was?«

»Keine Ahnung. Ich wollte eben nicht stören.«

»Oh, das ist dir ganz wunderbar gelungen.«

Ich versuche, ihre Hand zu nehmen, vergebens. Erfolgreich bin ich nur darin, das Falsche zu sagen: »Du hast ja auch nichts erzählt, was ich nicht schon wüsste.«

Jessis Miene wird schlagartig beunruhigend kühl. »Du hast also doch gelauscht.«

»Lauschen – was ist denn das für ein Wort? Ich hab halt ein paar Satzfetzen nicht überhören können. Und, wie gesagt, ist ja nichts dran.«

»Jens, das ist nicht das Thema. Du warst bei Maren und hast dich in ihrem Bett versteckt. Du drehst hohl, nicht ich.«

»Ja, da hast du recht. Ich weiß auch nicht, warum.«

»Dann finde es raus, verdammt. Vielleicht kannst du es mir ja irgendwann erklären. Bis dahin will ich nichts von dir hören. Nichts.«