Sprachmesse

»Rund 200 Aussteller aus 30 Ländern präsentieren auf der Expolingua weltweite Sprachlernangebote. Die Messesprache ist Deutsch.«

Eigentlich heißt Leo Leonhard von Graeven, ist unverschämt sympathisch, einnehmend, attraktiv und reich. Ach, und einen guten Humor hat er auch, er ist das volle Programm, die Überdosis Mann, alles, was man sich als Frau wünschen kann. Tier- und kinderlieb, Nichtraucher, aktiv, interessant und interessiert, na, und reich, falls ich das noch nicht erwähnt hatte. Er besitzt alles, was er braucht, und hat sich alles selbst verdient. Sein Vater war Lehrer und hat ihn früh mit Computern in Kontakt gebracht. Mit vierzehn hat Leonhard seine erste Datenbankanwendung für eine Videothek programmiert und verkauft, danach war er bei Microsoft, Adobe und schließlich mit einem Start-Up im Netz, das er vor zwei Jahren für eine perverse Summe an so was wie Google verkauft hat.

Mein Vater und ich sitzen den ganzen Abend nur da und starren wie geschlagene Hunde vor uns hin. Papa hat sich recht schnell für den Weichspüler entschuldigt, als Schwiegervater in spe habe er eben schon gewisse Beschützerinstinkte, was die Mutter seiner Enkelin betreffe. Leo hat das Missverständnis mit einem Schulterklopfen und einer Runde Champagner vom Tisch gefegt und dem Kellner gesagt, dass die Rechnung auf ihn geht. Seitdem macht selbst das Trinken keine Freude mehr, da es ihn offensichtlich in keinster Weise jucken wird, wie viel Geld er hier in der Bar des Bayerischen Hofs lässt. Ja, in der Tat: Wir sitzen nicht gemütlich im München 72, sondern dort, wo der Sänger von Oasis ein paar auf die Fresse bekommen hat, wo schon Bud Spencer speiste und Bruce Springsteen abfeierte. Man sollte hier einfach nicht hingehen, selbst dann nicht, wenn man wie Leo ein Zimmer fünf Stockwerke über der Bar hat.

Jessi hat sich schon früh verabschiedet, sogar von mir, allerdings kein Wort zu Leo verloren. Ich versuche seitdem, mich zwischen einem Dr. Funk’s Son und einem Trader’s Stinker zu entscheiden.

»Wenn du dich nicht entscheiden kannst, bestell einfach beide Drinks, ich nehme dir dann einen ab«, ruft mir Leo zu und bekommt kurz darauf einen Tiki Puka Puka von mir rübergeschoben, eine Rumplörre, mit der ich ihn bestrafen will. Leo schmeckt sie leider.

Da ich es schaffe, einigermaßen nüchtern zu bleiben, kann ich meinen Widersacher in ein Gespräch verwickeln. Ich muss unbedingt herausfinden, was bei dem Treffen mit Jessi seine Intention war und wie sie reagiert hat.

»Mach dir da keinen Kopf, Jens. Wir kennen uns seit der Schule, da sind wir mal eine Zeit lang zusammen gegangen. Wir waren dreizehn oder vierzehn. Jessi hatte noch nicht mal einen Busen, und selbst wenn, hätte ich nicht den Mut gehabt, sie anzufassen. Ich war in dem Bereich ein Spätzünder.«

»Ich auch. Aber inzwischen zünde ich immer sehr früh«, scherze ich, die Vorlage war einfach zu perfekt.

»Aber eins wundert mich schon«, fährt Leo fort, und ich hoffe, dass es jetzt endlich interessant wird. »Wieso hat Jessi mir nichts von der Hochzeit gesagt? Wir haben nämlich mit sechzehn so eine dumme Wette abgeschlossen: Wer von uns als Erster heiratet, äh –«

»Vielleicht hat sie’s einfach vergessen«, unterbreche ich, da mir nicht danach ist, irgendwelche Details über seine Teenagerwetten zu erfahren. »Also, die Wette, meine ich.«

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Siehst du, und genau das ist der Unterschied zwischen uns: Mich heiratet sie, und mit dir schließt sie Wetten darüber ab«, setze ich nach, um sein Ego in die Schranken zu weisen.

»Ach so. Du denkst, dass ich sie angerufen habe, um zu sehen, ob zwischen ihr und mir was geht. Klar. Würde ich auch denken, wenn ich mit ihr verlobt wäre.«

»Möglich.«

»Hab ich aber vielleicht gar nicht. Es kann sein, dass wir uns zufällig im Kinofoyer begegnet sind. Oder sie mich angerufen hat.«

Hat sie nicht. Hat sie nicht! Hat sie nicht!!!

»Hat sie aber nicht«, erlöst mich Leo aus meiner Gedankenschleife und legt mir die Hand auf die Schulter. »Alles wird gut.«

Hondo ist nicht entgangen, dass ich mich mit Jessis spendablem Ex-Knutschfreund aus dem Gespräch am Tisch zurückgezogen habe. Er schielt immer wieder zu uns rüber, bereit, mir jederzeit beizuspringen. Da er ebenfalls trinkt und seine Aggressionsschwelle mit jedem Schluck sinkt, fühle ich mich mal wieder mehr durch ihn denn durch Leo bedroht. Sein »Alles wird gut« allein disqualifiziert Leo schließlich komplett und erklärt außerdem, warum er bei Jessi keine Chance mehr hat. Zwischen uns ist alles geklärt.

»Ich weiß, Leo«, stimme ich zu und bewege meine Schulter ein wenig, sodass er seine Hand wegnimmt. Dann steht Leo auf und verabschiedet sich aus der Runde, er muss morgen früh raus. Wir erheben uns ebenfalls alle, reichen ihm die Hand, bedanken uns artig. Ich finde es erniedrigend, jemandem wie ihm dafür zu danken, seine Zeit geselliger gestaltet zu haben. Inzwischen bin ich überzeugt, dass er Jessi in der Tat im Foyer über den Weg gelaufen ist und dieser Abschied unser letzter sein wird. Im Grunde könnte er mir leid tun, er ist echt nett. Nur etwas langweilig. Und reich.

Das halten wir auch in der Runde so fest.

»Netter Kerl«, findet mein Vater. »Geht die nächste Lage auch noch auf ihn?«

»Weiß nicht. Schon korrekt, irgendwie, aber dann auch voll unkorrekt, so vom Gefühl«, taxiert Hondo.

»Schnösel«, urteilt Aylin und haucht Hondo einen Kuss zu.

Leo ist keine fünf Minuten verschwunden, da signalisiert ein iPhone auf unserem Tisch, dass es eine neue Nachricht empfangen hat, aber niemand macht Anstalten, sie zu lesen. Kein Wunder, vor Aylin liegt ein anderes Telefon, mein Vater hat noch immer sein erstes Handy von 1998, und Hondo spielt gerade auf seinem herum. Es muss also unserem verschwundenem Gastgeber gehören.

»Steht das Angebot mit dem Brunch im Eisbach morgen noch?«, fragt Jessi ***** in ihrer Nachricht. Jessi mit fünf Sternen. Entweder hat er ihren Nachnamen vergessen, oder er bewertet die weiblichen Kontakte wie andere ihre iTunes-Titel, was auch schon idiotisch ist. Die meisten Lieder findet man schließlich nur für eine kurze Zeit sehr gut, dann hat man es oft genug gehört und muss beginnen, dem Song nach und nach die Sterne zu entziehen. Viel sinnvoller wäre es, Lieder, die man auf Anhieb nicht mehr als dreimal ertragen kann, sofort aus seiner Musikbibliothek zu löschen. Aber mich fragt ja keiner.

Dafür lädt ein Schnösel meine Verlobte zum Brunch ein. Ich zögere kurz, denn ich könnte jetzt die Nachricht mit einem »Nein. Und alles Gute mit Jens, extrem nett, passt perfekt ;-)« beantworten, die ganze Konversation im Anschluss löschen. Ich könnte mir den Segen eines uralten Freundes sichern, den Zuspruch des Mannes, mit dem Jessi eine Hochzeitswette abgeschlossen hat. Nur kann ich es nicht. Ich verabschiede mich aus der Runde, gebe Leos Handy an der Rezeption ab und fahre mit dem Taxi zu Sven. Bei dem kann ich genüsslich den Rest der Welt hassen, um die er mit dem Rad fahren möchte, das mir vorhin geklaut wurde. Muss er ja nicht gleich erfahren.

Sven ist nicht allein in seiner kleinen Wohnung. Ein unangenehm käsig riechender Mann in atmungsaktiver Kleidung sitzt auf dem Boden und redet auf Sven ein. Ich habe auf dem Weg hierher sein »ungoogelbares« Fahrradforum gesucht, mit Yahoo gefunden und mich problemlos angemeldet. In kürzester Zeit habe ich seine Adresse und den »geheimen« Türcode aus dem Unterforum »places 2 stay (and how to get in)« gefischt. 9-6-7-5-3, oder für Menschen, die sich keine Zahlen merken können: W-O-R-L-D. Die Buchstaben stehen sogar auf den kleinen Tasten, die man an der Tür drücken muss, um den Mechanismus zu betätigen. Mir zerreißt es beinahe den Schließmuskel, als ich Sven und sein Käsemännchen mit einem lauten »Buuuh!« erschrecke.

Käsemännchen kommt aus Neuseeland, ist seit neun Monaten »on the road« und will von hier weiter in den Osten, quer durch alle Staaten, die ich Russland nenne, bis nach China. Ich scherze, dass es doch reaktionär sei, gerade China mit dem Rad durchreisen zu wollen, lerne aber schnell, dass einem zu viel Fahrtwind die Ironie- und Sarkasmussensoren aus der Birne pustet. Brice, wie Käsie im wahren Leben heißt, ärgert sich, dass das Oktoberfest gerade nicht stattfindet, und fügt hinzu, sehr wohl zu wissen, dass es eben nicht im Oktober stattfindet, er sich aber auch nicht sicher sei, in welchem anderen Monat.

»Säptember. Se läst sätidäi, no bifoa läst, se satidäi if sem kamms föast in Oktober, bifoa sätt tu wicks«, antwortet Sven in einer Sprache, die entfernt an Englisch erinnert. Zwar selbstsicher vorgetragen, aber für alle Anwesenden schlichtweg unverständlich, selbst auf Deutsch würde sich jeder nur fragen, was der junge Mann da mitzuteilen versucht. Brice hingegen lächelt und nickt, als hätte Svens kryptisches Gestotter für ihn Sinn ergeben, und ich frage mich, wie lange die beiden schon so kommunizieren.

»If ju Mjunick, no go, jas touries, üähhh, pjuke street, äffriwär, Italy, Australy, bäng, bäng, woahr. So, no. Batt eigo.«

»Ey, hast du mit diesem Englisch etwa vor, um die Welt zu kommen?«, unterbreche ich den Dialog zwischen Sven und Brice. Brice nickt und lacht mich an, er denkt wahrscheinlich, dass ich mich ins Gespräch mischen will und das meine Interpretation seiner Muttersprache ist.

»Wieso?«

»Das ist unverständliches Kauderwelsch. Ich wette, dass Brice nicht weiß, welche Sprache du gerade sprichst.«

»Echt? Na ja, mein Französisch ist ein bisschen besser. Und ich hab einen Spanisch-Audiokurs gekauft, das wollte ich mir unterwegs draufschaufeln.«

»Viel Glück.«

Möglicherweise wäre es doch angebracht, Sven zu beichten, dass er seine Tour eh noch um ein paar Wochen verschieben muss.

»Sorry, Brice, I have to talk German with Sven for a minute«, entschuldige ich unseren kurzen Exkurs.

»Oh, you speak English! Great! Where’s Sven from?«

»Just a minute.«

Sven schaut mich erstaunt an. »Du sprichst ja perfekt«, stellt er laienhaft fest.

»Na ja, es geht. Also, wann soll’s denn losgehen?«

»Keine Ahnung. Ich finde es gerade total faszinierend, dass Brice da ist, nächste Woche kommt ein Paar aus China, Feng und Hui. Deren Erlebnisse würden mich auch noch sehr interessieren. Und dann heiratet ihr ja auch.«

»Also gar nicht?«

»Doch. Aber vielleicht erst nach der Hochzeit.«

»Fein.«

Mir fällt ein Stein vom Herzen. Bis dahin könnte ich eventuell ein neues Rad organisiert haben. Ich lasse Brice wieder an unserem Gespräch teilhaben und erkläre ihm, dass Sven Deutscher ist und Englisch zu sprechen glaubt, worauf Brice antwortet, dass er das vermutet habe. Er habe auch ein paar Wörter aufgeschnappt, die so geklungen, im Kontext aber nur wenig Sinn gemacht hätten. Sven versteht überraschenderweise alles und bittet seine schlechte Aussprache zu entschuldigen. Brice lächelt bloß und nickt.

Er möchte danach nur noch wissen, was er mit den beiden Frettchen machen soll, und ich teile ihm mit, dass Sven sich um sie kümmern wird, solange er noch hier ist; danach würde das ein Frettchensitter übernehmen. Brice wirkt nicht sonderlich erfreut über die Tatsache, dass Sven jeden Tag vorbeischauen wird, er fürchtet sich bestimmt vor den anstrengenden Konversationen. Aber er wird sich eh die Stadt ansehen und Sven so hoffentlich nicht allzu lang ertragen müssen.

Endlich auf der Straße bringe ich Sven auf den neusten Stand in Sachen geplatzte Hochzeit. Leo bereitet mir Kopfzerbrechen, besonders, da es neben Jessi nur einen einzigen weiteren Namen mit fünf Sternchen gegeben hat. Sie gehört zu seinen Top Two, er bandelt mit ihr an, er führt also doch was im Schilde. Und da Leo unweigerlich die bessere Partie ist, macht mir das Angst. Svens erste Gedanken gelten verständlicherweise Matilda, seiner biologischen, ungeborenen Tochter, die er bei mir in besten Händen wähnte.

»Heißt das, dass Jessi dann auf mich zukommt und Kohle will?«

»Glaube ich nicht«, beruhige ich ihn. »Dieser Leo kackt Gold. Und er ist leider sehr nett. Bestimmt ist das sogar besser für die Kleine.«

»Dann ist ja gut.«

»Sven? Es ist nicht gut! Ich liebe Jessi und Matilda!«

»Abgesehen davon.«

Schweigen.

»Aber wenn du jetzt mal ganz ehrlich zu dir selbst bist?«, sagt Sven dann. »Wäre es nicht mit Leo für Jessi und die Kleine viel besser, sodass es dich quasi irgendwie indirekt glücklich machen könnte? Ich meine, wenn es für dich hier zu krass ist … in Hondos Keller hab ich noch ein ziemlich gutes Mountainbike gesehen, das ich für wenig Geld so herrichten könnte, dass du mich darauf begleiten kannst. Nur so als Angebot.«

»Nein, danke. Hilf mir lieber, die Sache mit Jessi wieder hinzubiegen.«

»Würde ich sofort, wenn ich wüsste, wo ich da ansetzen soll.«

Bevor er mir noch einmal aufzählt, was an mir alles unausstehlich ist, gebe ich ihm eine Aufgabe. Er soll morgen Jessi beschatten und herausfinden, ob sie sich mit Leo trifft, was die beiden genau machen, und wie die zwei zusammen gewirkt haben. Sven freut sich, endlich mal eine verständliche Ansage bekommen zu haben, und verspricht, mich nicht zu enttäuschen. Es sei denn, er kriegt mit, dass die beiden bumsen oder so. Angesichts der Vorstellung, genau das von Sven zu erfahren, entscheide ich, mich der Observation anzuschließen. Sven wird sich im Café aufhalten und versuchen, unentdeckt zu bleiben, während er die beiden Turteltäubchen beobachtet und bestenfalls belauscht. Ich passe Leo vor dem Hotel ab und hefte mich an seine Fersen, um dann vor dem Eisbach zu warten, bis die zwei fertig gebruncht haben. Denn ich will der einzige Zeuge sein, sollten Jessi und Leo im Hotel verschwinden.

»Das ist ein verdammt guter Plan, Alter«, lobt Sven.

»Ich bin ja auch verdammt verzweifelt. Eine Grundvoraussetzung bei mir, wenn ich gute Arbeit leisten will.«

In Hondos Treppenhaus kann ich Sven mit Ach und Krach davon abbringen, noch schnell in den Keller zu laufen, um Hondos Bike auf seine Weltreisetauglichkeit zu überprüfen. Dann erreiche ich endlich mein Kanu, in dem jedoch schon mein Vater liegt, den Laptop auf dem Schoß.

»Noch am Flirten?«

»Ich chatte.«

»Echt? Das hab ich so gut wie nie gemacht.«

»Ich seit Compuserve.«

»Aha.«

Mein Vater wirkt grimmiger als vorhin, hackt stoisch Worte in seine Maschine.

»Mit wem?«

»Kennst du nicht.«

»Linda?«

»Nein. Aber wegen ihr.«

»Warum?«

»Sie hat sich abgemeldet. Jetzt versuche ich vom Administrator ihre Mailadresse zu bekommen. Sie hat sie mir mal im Chat geschickt, aber ich hab sie nicht notiert.«

»Und?«

»Wird nichts.«

»War Linda dein einziger Kontakt? Du warst doch auf verschiedenen Börsen.«

»Nur um zu sehen, ob sie dort auch ist.«

»Verstehe.«

»Dauert das noch lange?«

»Mal sehen.«

Es fühlt sich an, als würde er sich von mir verabschieden. Seinen alten Ton wieder anlegen, in die Kurzangebundenheit schlüpfen, sich die schlechte Laune wieder über die Schultern werfen, um so, wieder ganz er selbst, mit der U-Bahn zurück nach Feldmoching zu fahren.

»Willst du drüber reden?«

Wenn es je einen kritischen Punkt in der desaströsen Beziehung zwischen mir und ihm gegeben hat, dann diesen. Doch tatsächlich klappt mein Vater seinen Computer zu und bedeutet mir, mich zu ihm ins Boot zu setzen.

Linda war für meinen Vater mehr als ein Flirt im Internet. Sie war sein Anker, die Person, der er in den vergangenen Monaten alles anvertraut hat. Seinen Kummer, seine Sorgen, seine Angst vor dem Sterben. Vor allem aber seine Einsamkeit. Sie hat ihn erkennen lassen, dass er sich diese selbst zuzuschreiben hat. Er war schließlich derjenige in unserer Familie, der sich sein kleines Refugium unter dem Dach gebaut hat, in dem er verschwunden ist. Von seiner Depression bekamen wir nichts mit, da er sich gegenüber mir und meiner Mutter nie geöffnet hatte. Vor mir wollte er nicht schwach sein, vor seiner Frau nicht zugeben, dass er unglücklich war. Mit sich, seinem Leben und dem, was er daraus gemacht hat.

Sie hat das allerdings mitbekommen, meine Mutter ist ja nicht blöd, sondern im Gegenteil sehr sensibel. Warum sie sich immer so fürsorglich gibt und sich auch ihm gegenüber zu einer Art Mutterfigur entwickelt hat, verstehen wir beide nicht.

»Das fing an, als du da warst«, erzählt Papa. »Mei, da war eben wenig Zeit für uns, eigentlich gar keine mehr. Kinderkrippen und solchen Schmarrn hatten wir nicht, die Mama hat drei Jahre zu Hause verbracht, und ich war immer in der Schule. Geredet haben wir auch zu wenig, weil nie Zeit war, du hast ja immer geschrien.«

»Hauptsache, du hast einen Schuldigen.«

»Schmarrn. Es war halt so.«

Sein Lamento will gar nicht aufhören. Nie hat er sich Zeit für sich genommen, war immer für Mama und mich da, obwohl er so gerne mehr von der Welt gesehen hätte. Gerade als Lehrer hätte er doch Zeit gehabt, die Welt zu bereisen. Aber er war immer zu Hause oder mit uns in Italien. Deswegen sei es nur konsequent, dass er das nun ändern wollte.

»Wie, du wolltest?«

»Ich kann ja nicht«, erklärt er mir. »Seit drei Monaten will Linda mich treffen, endlich mal mit mir sprechen. Deshalb hat sie mir die Frist gesetzt, jetzt oder nie, Pistole auf die Brust.«

»Und die ist gestern abgelaufen?«

Keine Antwort, nur ein Seufzen. Er mag ein schwieriger Lehrer und ein komplizierter Vater sein, aber vor allem ist er nicht fähig, über seinen Schatten zu springen. Was eigentlich falsch ausgedrückt ist, denn es deutet an, dass meine Mutter sein Schatten wäre. Ist sie jedoch nicht, sie ist seine Sonne, der er nicht den Rücken zuwenden kann, um über den Schatten zu springen, den er selbst auf alles wirft, was hinter ihm liegt.

Ganz so kompliziert verpacke ich meine Analyse für ihn jedoch nicht. Ich sage ihm nur, dass ich froh bin, weiterhin eine Familie zu haben. Gerade jetzt, wo ich mit der Gründung meiner eigenen gescheitert bin. Was Papa ganz anders sieht.

»Schau, du bist halt genauso verkrampft wie ich. Vor allem, was deine selbst aufgestellten moralischen Vorstellungen angeht.«

»Willst du mir sagen, dass ich mich mit Jessi so arrangieren sollte, dass sie Liebhaber wie Leo haben kann? Ich denke nicht, dass uns damit geholfen wäre.«

»Jetzt stell dich halt nicht so dumm. Ich mein in dem, was du kannst. Beruflich.«

Und endlich, siebzehn Jahre nach meinem Abitur, setzt sich mein Vater mit mir zusammen und bespricht mit mir alles, was meine Karriere und Ziele betrifft. Er arbeitet mit mir an mir, statt mich wie sonst zu kritisieren und mir zu sagen, was ich falsch mache. Was eigentlich immer alles war. Und wir finden sogar eine Lösung, mit der ich mich anzufreunden bereit sein könnte. Eine Lösung, gegen die ich mich gewehrt hätte, wäre sie von jemand anders vorgeschlagen worden. Von Papa klingt sie vertretbar. Bevor wir einschlafen, frage ich noch, warum er Linda den Laufpass gegeben hat. Er lächelt in sich hinein.

»Ich saß heute neben einer atemberaubend schönen, intelligenten und faszinierenden Frau im Kino und bin danach noch mit ihr in eine Bar gegangen. Das fand ich aufregend genug.«

»Du hast neben Jessi gesessen?«

»Mach’s Licht aus, Depp.«